Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 19. November 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 19. November bei der Auszeichnung der Erstpreisträger des Geschichtswettbewerbs 2018/2019 in Schloss Bellevue eine Rede gehalten: "Denn was der Wettbewerb bewirken soll, ist mehr als junge Menschen zu einer Beschäftigung mit der Vergangenheit anzuregen. Er soll ihnen das Werkzeug an die Hand geben, sich auf Spurensuche zu begeben und Nachweisbares von Spekulationen zu unterscheiden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Auszeichnung der Erstpreisträger des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten 2018/2019 im Großen Saal von Schloss Bellevue.

So geht’s nicht weiter? Doch, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Geschichtswettbewerb, und vor allem, liebe Preisträgerinnen und Preisträger: So kann es weitergehen. Genau so sollte es weitergehen – jedenfalls mit diesem Wettbewerb, mit so vielen, so guten Teilnehmern, preiswürdigen Beiträgen, erhellenden und überraschenden Ideen, mit so viel Engagement für die Erforschung der Vergangenheit.

So, genau so, hat sich Bundespräsident Gustav Heinemann das einmal vorgestellt, als er den Wettbewerb 1973 gemeinsam mit Kurt Körber ins Leben rief.

Die beiden sahen damals gute Gründe für ihre Initiative: eine Krise der deutschen Geschichtsschreibung oder doch wenigstens ein krisenhaft geringes Interesse an der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte. Geschichte war – gerade in den Schulen – viel zu lange auf Jahreszahlen, Kaiser und Könige reduziert. Und viel zu wenig wurde in den Blick genommen, wie Menschen ihr Schicksal mit Mut und Engagement selbst in die Hand genommen haben. Deshalb begann dieser Wettbewerb als Gustav-Heinemann-Preis […] zum Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen.

Im 46. Jahr des Geschichtswettbewerbs kann ich feststellen: Die Stiftung dieses Preises war offenkundig ein guter Weg aus der Krise, ja sogar ein Aufbruch, diese Krise dauerhaft zu überwinden. Von einem mangelnden Interesse an Geschichte zeugen die 1.992 Beiträge dieses Jahrgangs jedenfalls ganz und gar nicht. Eine ebenso schöne wie beruhigende Erkenntnis.

Und damit sind wir auch beim Thema des diesjährigen Geschichtswettbewerbs: den Krisen und was aus ihnen folgen kann. Ich verkneife mir jetzt zu sagen, das sei ein lobenswert aktuelles Thema. Würde ich es sagen, stimmte es auch nicht. Krisen, Um- und Aufbrüche sind fortwährend ein Thema. Sie sind immer aktuell, sie begleiten uns durchs Leben, durch unsere eigene Geschichte und durch die unseres Landes, unseres Kontinents und unserer Zeit. Das war auch zu Lebenszeiten unserer Urgroßeltern nicht anders.

Begreifen wir Krise auch als Krisis, also als Scheitelpunkt, als Überwindung eines Konflikts, dann verstehen wir, dass die sich entwickelnden, sich zuspitzenden, die eskalierenden, abflauenden und überwundenen Krisen in Staaten, Institutionen oder Gesellschaften sozusagen der Plot der Geschichtsschreibung sind. Keine Geschichten und keine Geschichte ohne Krise.

Wir können aus überwundenen krisenhaften Momenten lernen, und die Umbrüche und Aufbrüche der Vergangenheit machen uns Mut, dass es immer wieder gelingen kann, Krisen erfolgreich zu meistern. Es fehlt ja nicht an Beispielen dafür. Denken wir nur – in jüngerer Zeit – an die weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrisen. Krisen durch die unser Land – mit vereinten Kräften – sehr viel besser hindurchgekommen ist als andere.

Manche bewältigte Krise gilt es auch zu feiern, wie wir es erst vor wenigen Tagen getan haben, als wir in Berlin an den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren erinnert haben. Wir verdanken diesen Umbruch dem Mut und dem Freiheitswillen der Menschen in der damaligen DDR. Sie wagten das, was eine der Oppositionsgruppen damals im Namen trug: einen Demokratischen Aufbruch. Es war dieser Aufbruch, der letztlich Einheit, Freiheit und Demokratie für alle Deutschen ermöglicht hat.

Die Überwindung der jahrzehntelangen Teilung Europas war ein Moment, der Weltgeschichte schrieb, doch, wie wir wissen, keinesfalls ein Schlusspunkt. Krisen werden uns weiter begleiten und dieser Wettbewerb ist eine dauernde Einladung, über sie nachzudenken, zu forschen und zu erzählen: ganz konkret und gerne auch ganz lokal. Grabe, wo Du stehst – das könnte auch das Motto dieses Geschichtswettbewerbs sein. Und da ich annehmen darf, dass mit dem Thema Krise möglichst viele Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme bewegt werden sollten, kann ich sagen: Es freut mich sehr, dass der diesjährige Wettbewerb mit 5.627 Teilnehmern und 1.992 Beiträgen einen Rekord aufweist. Es ist der beitragsstärkste Wettbewerb seit 25 Jahren!

Mich stimmt das zuversichtlich, denn es zeigt, dass es besonders unter den Jungen viele gibt, die sich Krisen und Problemen stellen.

Die Zyniker sagen, der Blick in die Geschichte lehrt vor allem, dass die Menschheit aus der Geschichte nichts lernt. Ich sehe das ein bisschen anders. Sicher, gerade für uns Deutsche ist die Vergangenheit alles andere als eine gradlinige Erfolgsgeschichte. Bei uns lagen Höhen und tiefster Abgrund immer – und erst recht im vergangenen Jahrhundert – dicht beieinander. Aber wir brauchen die Erinnerung an beides: an das Unrecht ebenso wie an das Gelungene. Das eine schärft unsere Sinne für Unrecht und Ungerechtigkeit in der Gegenwart, und das andere macht Mut, dass es uns auch heute gelingen kann, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Für eine gute Zukunft brauchen wir deshalb viele Formen des Engagements – vielleicht sogar einen Friday for history, wenigstens ab und zu einmal.

Jeder Wettbewerb lebt von den Ideen seiner Initiatoren und Teilnehmer. Der Geschichtswettbewerb aber hat noch weitere Ideengeber. Er ist ein Gemeinschaftsprojekt, das von vielen getragen wird: von der Initiative des Ausrichters, der Körber-Stiftung, von den Mitgliedern der Landes- und Bundesjurys, dem Kuratorium und dem Wissenschaftlichen Beirat, vor allem aber vom Engagement der zahllosen engagierten Tutoren, Archivaren und Zeitzeugen, ohne deren Mithilfe der Geschichtswettbewerb nicht ausgetragen werden könnte.

Ihnen allen gilt mein Dank. Denn was der Wettbewerb bewirken soll, ist mehr als junge Menschen zu einer Beschäftigung mit der Vergangenheit anzuregen. Er soll ihnen das Werkzeug an die Hand geben, sich auf Spurensuche zu begeben und Nachweisbares von Spekulationen zu unterscheiden. Nur so können sie lernen, Geschehnisse einzuordnen und sich ein Urteil zu bilden. Diese Fertigkeiten lernt man nicht nebenbei. Man muss sie erproben und trainieren. Ihre Anleitung, als Tutoren und Archivare, ist dabei unverzichtbar.

Und schließlich gilt mein Dank den Zeitzeugen. Den Wert Ihres Engagements können wir gar nicht überschätzen.

Deshalb lassen Sie mich zum Schluss noch einmal die Bitte äußern: Lassen Sie sich von den großartigen Beiträgen und Geschichten, die der diesjährige Wettbewerb hervorgebracht hat, und deren Beste wir jetzt auszeichnen wollen, zum Weitermachen animieren. Genau so!

Herzlichen Dank.