8. Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie: "Welche Zukunft? Über Demokratie und Fortschritt"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 25. November 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 25. November das achte Forum Bellevue mit dem Titelthema "Welche Zukunft? Über Demokratie und Fortschritt" in Schloss Bellevue mit einer Rede eröffnet: "Heute Entscheidungen zu treffen, die uns morgen ein friedliches, ein auskömmliches, ein nachhaltiges Zusammenleben ermöglichen: Diese Verantwortung tragen wir alle – Politik zuvörderst, aber wir alle gemeinsam."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet mit einer Rede das achte Forum Bellevue mit dem Thema "Welche Zukunft? Über Demokratie und Fortschritt" im Großen Saal in Schloss Bellevue

Was liegt näher, als im Nebelmonat November in einem Schloss namens Schöne Aussicht über die Zukunft zu reden? Wir haben heute Vormittag großartige Gäste hier, und ich freue mich, dass Sie alle gekommen sind, um uns zuzuhören, mit uns zu diskutieren. Herzlich willkommen zum achten Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie!

Schöne Aussichten – das ist nicht unbedingt das, was Menschen heute sagen, wenn sie an die Zukunft denken. Die Zukunft des Klimas, die Zukunft der Arbeit, die Zukunft des Wohnens und der Mobilität, der Städte und Dörfer, die Zukunft der Demokratie, der Europäischen Union und der Weltordnung, all das beschäftigt uns heute und treibt uns um.

Von Selbstvertrauen, von Mut und Zuversicht ist dabei häufig nicht viel zu spüren. Ganz im Gegenteil, viele Menschen schauen mit großer Sorge nach vorn. Klimawandel, digitale Revolution und Globalisierung, Spannungen und Konflikte auf vielen Kontinenten, alles das trägt zur Verunsicherung bei. Meine Kinder sollen, meine Kinder werden es einmal besser haben als ich – das war der Antrieb für Generationen vor uns. Heute hört man stattdessen vielfach ein resigniertes Es kann eigentlich nur schlechter werden.

Es kann nur schlechter werden – daraus spricht die Angst, dass hart Erkämpftes verloren geht. Der Wohlstand, den man sich in der Familie erarbeitet hat; die Verwirklichung der eigenen Träume; das Gefühl von Sicherheit; Anstand und Zivilität im gesellschaftlichen Umgang, politische Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit und die liberale Demokratie. Und je länger diese Sorge anhält, je länger diese Unsicherheit nicht verschwindet, umso mehr geht offenbar Vertrauen in die Fähigkeit von Politik und Gesellschaft verloren, drängende Probleme zu lösen und tatsächlich für Besserung zu sorgen.

Und genau hier wird Zukunftsangst zu einem Problem für Demokratie. Letzte Woche wurden wir von einer Meinungsumfrage aufgeschreckt, die zu dem Ergebnis kommt, dass wir in Deutschland gerade eine Erosion des Vertrauens erleben – gesprochen wurde von einem erdrutschartigen Vertrauensverfall. Offenbar halten immer weniger Menschen unser politisches System für eine besondere Stärke unseres Landes. Nicht einmal die Hälfte der Befragten traut dem Staat zu, handlungsfähig zu sein. Mit anderen Worten: Alles wird schlechter, aber keiner kann etwas tun.

Ich halte diese Befunde für außerordentlich gefährlich. Die Demokratie ist die Staatsform der Mutigen, nicht derer, die resigniert haben. Wer sich ohnmächtig fühlt, kann nicht mitreden, nicht mitmachen, nicht verändern, will es vielleicht nicht einmal. Denn wer von der Zukunft von vornherein nichts Gutes erwartet, der wird gar nicht erst versuchen, sich für das Bessere zu engagieren.

Dabei haben doch gerade wir Deutschen so oft am eigenen Leib erlebt, wie offen die Zukunft ist; wie sehr es auf uns selbst ankommt, wie groß die Möglichkeiten für Veränderungen sind. Vor 30 Jahren hat eine deutsche Bürgerbewegung eine Diktatur zu Fall gebracht und unser Land wiedervereinigt. Und wir leben heute in einer starken Demokratie, der Rechtsstaat funktioniert, wir feiern immer noch Beschäftigungsrekorde, und die sozialstaatlichen Sicherungen in Deutschland gehören zu den festesten der Welt. Und auch weltweit, trotz aller Krisen und Katastrophen, geht es der Menschheit besser. Unser Gast Steven Pinker wird gleich davon berichten, wird das anschaulich machen. Er sagt: Nein, es kann nicht immer nur schlechter werden. Es kann besser werden, viel besser sogar!

Manchmal bringt es mich regelrecht auf die Palme, wie wir Fortschritte und Erfolge, Chancen und Potenziale klein reden oder gänzlich außer Acht lassen. Zulassen, dass sie in den Schatten gestellt werden von den vielen negativen Nachrichten, die uns täglich neu alarmieren und unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Die Art, wie wir öffentlich über uns reden, dazu kann unser Gast Maren Urner gleich noch ganz viel sagen, verzerrt unser Bild von der Wirklichkeit. Es befördert Ohnmacht, wenn die Zukunft nur in düsteren Farben gemalt wird, wenn Krisen und Katastrophen die allein beherrschenden Themen sind. Und auch Politiker tragen ihren Anteil, wenn sie die goldene Vergangenheit verklären, um keine Antworten auf die komplizierte Gegenwart liefern zu müssen. Oder wenn sie gar mit Untergangsszenarien spielen, um Ängste zu schüren und Wut zu entfachen, aus denen sich politisch Kapital schlagen lässt.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Die Demokratie braucht Skepsis, Zweifel und Kritik. Sie braucht die schonungslose Debatte über Missstände. Daraus entsteht ja überhaupt erst die Energie, die wir brauchen, um vorwärts zu kommen. Aber es ist die tägliche Apokalypse, die lähmt, weil die Herausforderungen als zu groß und unsere Möglichkeiten immer als zu klein beschrieben werden. Daueralarm und Schwarzmalerei schwächen die Demokratie. Und das ist umso gefährlicher in einer Zeit, in der Demokratie ihre ganze Stärke braucht.

Ja, wir brauchen eine starke Demokratie, gerade wenn die Herausforderungen groß sind. Wir sollten uns hüten, die Möglichkeiten der liberalen Demokratie kleinzureden – wie es viele im sogenannten Westen zurzeit tun –, heimlich zu den Autokraten schielend, die so schnell und so effizient entscheiden und umsetzen können. Auf wessen Kosten, fragt man sich nur. Auch dafür gäbe es eigentlich täglich Belege. Demokratische Politik ist kompliziert, nie fertig, wie ein unbeirrbares, geduldiges Knotenlösen. Dass da irgendjemand kommt, der alle Knoten auf einmal mit einem kräftigen Hieb durchhaut, das ist ein ewiger Trugschluss, aber gleichzeitig das hohle Versprechen derer, die anderes wollen als die Demokratie. Wir sollten nicht vergessen: Nur die Demokratie gibt uns die Möglichkeit zur Selbstkorrektur, zu einem neuen Anlauf, wenn sich Wege als falsch herausgestellt haben oder wenn wir Wege nicht genügend entschlossen beschritten haben. Und nur die offene Gesellschaft bietet uns den Raum, eine Mehrheit rechtzeitig davon zu überzeugen, dass schnelles Handeln und grundlegende Veränderungen notwendig sind.

Genau das ist es doch, was wir gerade wieder einmal erleben. Gesellschaftliches Engagement, auch unkonventionelles und lautstarkes, kann nicht nur Augen öffnen, sondern eröffnet auch neue Handlungsspielräume für Politik. Wir haben es doch zuallererst den engagierten jungen Menschen von Fridays for Future zu verdanken, dass wir die Klimakrise heute mit schärferem Blick sehen. Es waren und sind gerade auch die dramatischen Appelle der Klimaschutzbewegung, die zum Umdenken bewegen und dabei helfen, notwendige Schritte einzuleiten, aber auch – und das betrifft uns alle und nicht nur die Politik – von mancher bequem gewordenen Gewohnheit Abstand zu nehmen. Fridays for Future sind stark, sie sind wirkmächtig, und ich bin froh darüber.

Aber gleichzeitig sollten wir uns erinnern: Dass Gesellschaft Politik treibt, ist nicht ganz neu in der Geschichte der Demokratie. Denken wir an die Einführung des Frauenwahlrechts, die Öffnung der Bildungswege, an die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensmärsche in den Achtzigern, an die Beseitigung der Diskriminierung von Homosexuellen und vieles, vieles andere mehr.

Wenn man in die Geschichte unserer Republik zurück schaut, hat es immer wieder Situationen gegeben, in denen Politik von Gesellschaft zum Um- und Neudenken gebracht worden ist.

Weil die Zukunft offen ist, müssen wir darüber sprechen, wo nötig auch darüber streiten, wie diese Zukunft aussehen soll. Weil die Zukunft offen ist, dürfen wir sie nicht verspielen – nicht für uns selbst, nicht für unsere Kinder und Enkelkinder. Heute Entscheidungen zu treffen, die uns morgen ein friedliches, ein auskömmliches, ein nachhaltiges Zusammenleben ermöglichen: Diese Verantwortung tragen wir alle – Politik zuvörderst, aber wir alle gemeinsam.

Deshalb darf aber der Horizont von Politik nicht zu kurz greifen – bis zur nächsten Wahl oder bis zum nächsten Gipfeltreffen. Und deshalb brauchen wir ein vielstimmiges Gespräch über die Zukunft, weit über die Politik hinaus: in Parlamenten, auch im Netz, auf der Straße, an Hochschulen, in Unternehmen, im Gemeindehaus, im Coffeeshop. Und damit meine ich keine unverbindliche Plauderei. Nein, auch die parlamentarische Demokratie muss sich weiterentwickeln. Sie braucht vielleicht auch neue und verbindlichere Formen der Beteiligung, um auch diejenigen wieder einzubeziehen, die sich von ihr abgewandt haben.

Ich könnte sagen: Wir müssen viel – aber wir können auch viel, das jedenfalls ist mein Grundgefühl für demokratische Politik. Nicht dass es schlimmer werden kann, sondern dass wir es besser machen können, darauf sollten wir unsere Kraft konzentrieren. Und wie das gelingen kann, darüber möchte ich heute mit Ihnen diskutieren.

Was sind die Voraussetzungen dafür, dass wir als Gesellschaft wieder zukunftsfähiger werden? Wie können wir das dafür notwendige Vertrauen zurückgewinnen? Ich freue mich, dass heute drei Gäste bei uns sind, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Demokratie und Fortschritt schauen.

Steven Pinker ist Experimentalpsychologe, Kognitionswissenschaftler und Linguist. Er wurde in Kanada geboren, lebt in den USA und lehrt in Harvard, und die meisten wissen es: Seine Bücher sind Bestseller. Die Zeit hat ihn mal als einen globalen Starintellektuellen bezeichnet. Aber nicht weil er ein Star ist, ist er hier, sondern weil ich sein jüngstes Buch Aufklärung jetzt mit großer Faszination gelesen habe.

Das Buch ist, völlig gegen den Trend, eine Verteidigung von Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt, ein kämpferisches, aber auch humorvolles Plädoyer gegen die Propheten des Untergangs und die Feinde der offenen Gesellschaft.

Pinkers provokante Botschaft lautet: Es ging der Welt nie so gut wie heute. Er will – und ich meine, er kann – mit einer Fülle von Daten und Fakten belegen, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen im Laufe der Geschichte verbessert haben. Und diesen Fortschritt sieht er als eine unmittelbare Folge von Aufklärung, Demokratie, freiem Handel und internationaler Zusammenarbeit.

Steven Pinker bezeichnet sich selbst als leidenschaftlichen Possibilisten. Er vertraut auf die menschlichen Möglichkeiten; darauf, dass wir mit Vernunft und Mitgefühl unser Wohlergehen befördern können.

Ich will gleich mit ihm darüber sprechen, ob wir auf diese Weise auch die Klimakrise und anderes in den Griff bekommen können. Und ich will natürlich wissen, warum er an die Zukunft der liberalen Demokratie glaubt und ob ein Rückblick auf die Errungenschaften seit der Aufklärung dazu beitragen kann, dass Bürgerinnen und Bürger neues Selbstvertrauen in die liberale Demokratie und deren Institutionen und Repräsentanten fassen.

Ich freue mich sehr, dass er heute hier ist. Welcome, Steven Pinker!

Mein zweiter Gast heute Vormittag stammt aus meiner Heimat, aus Ostwestfalen. Maren Urner wurde in Herford geboren, sie ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln.

Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie Medien unseren Blick auf die Welt, unser Denken und Handeln beeinflussen. Und sie sagt: Die Flut von schlechten Nachrichten, der wir im Zeitalter der digitalen Kommunikation ständig ausgesetzt sind, hat fatale Folgen, für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft als Ganze.

Maren Urner fordert deshalb: Schluss mit dem täglichen Weltuntergang! Sie plädiert für einen konstruktiven Journalismus, der Krisen und Probleme nicht einfach beschreibt, sondern Wege aufzeigt, wie es weitergehen könnte und besser werden kann. Das Onlinemagazin, das sie mitgegründet hat, heißt dementsprechend Perspective Daily.

Gibt es ein Umdenken in der Medienbranche? Und liegt es wirklich nur an den Medien, dass sich viele Menschen heute überfordert und erschöpft fühlen? Auch darüber wollen wir gleich diskutieren. Wunderschön, dass Sie hier sind. Herzlich willkommen, Maren Urner!

Last but not least, mein dritter Gast. Sie kennen ihn natürlich alle. Seit fast 50 Jahren ist er präsent auf dem deutschen Büchermarkt. Ian McEwan ist ein britischer Schriftsteller. Seine Romane wurden weltweit immer wieder ausgezeichnet. Er schreibt nicht nur über Liebe und Liebesleid, sondern in jedem dieser Romane sind aktuelle Probleme der Zeit aufgearbeitet – die großen Fragen unserer Zeit thematisiert.

Jetzt in diesen Tagen erscheint sein jüngstes Werk Die Kakerlake auf Deutsch. Wenn Sie es zur Hand nehmen werden Sie –ich vermute sogar: beabsichtigt – einige Ähnlichkeiten mit dem gegenwärtigen britischen Premierminister erleben. Das Buch ist eine vergnügliche, in Teilen auch schreckliche Aufarbeitung der Brexit-Debatte in Großbritannien.

Der Roman davor, Maschinen wie ich, ist ein Roman über die Etablierung der Künstlichen Intelligenz, über die Schwierigkeiten, die Menschen damit haben und haben könnten. In diesem Roman wird ein Kniff deutlich, den Ian McEwan häufiger anwendet: alternative Geschichtsschreibung. Der Roman spielt nämlich im Jahr 1982, aber John F. Kennedy lebt, John Lennon lebt, England hat gerade den Falklandkrieg verloren. Ian McEwan zeigt uns mit seiner Form der alternativen Geschichtsschreibung, was für ein unwahrscheinliches, unendlich fragiles Konstrukt die Gegenwart ist, wie leicht alles auch ganz anders sein könnte.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Roboter Adam, ein attraktiver, intelligenter und sehr moralischer Androide, dessen Maschinenethik immer wieder in Konflikt gerät mit der deutlich biegsameren menschlichen Moral. Was geschieht, wenn wir Maschinen herstellen, die intelligenter sind als wir, und zudem in moralischer Hinsicht strikter sind? Das ist die Frage, die Ian McEwan in diesem Roman umtreibt.

Ich würde gern von ihm wissen, ob Literatur unser Vertrauen in die Zukunft stärken kann. Und ob er persönlich die Hoffnung hat, dass die weltweiten Trends von Populismus und Nationalismus umkehrbar sind, ob Aufklärung und Vernunft wieder attraktiver werden.

Mr. McEwan, I’m glad you are here. Welcome to Berlin!

Alan Turing, einer der Pioniere der Künstlichen Intelligenz, hat einmal gesagt: We can only see a short distance ahead, but we can see plenty there that needs to be done. Ich glaube, je mehr wir nach vorne schauen, desto besser erkennen wir, was zu tun ist. Also lassen Sie uns heute die Zukunft in den Blick nehmen, an diesem Novembertag hier im Schloss Bellevue. Ich freue mich auf unser Gespräch. Herzlich willkommen noch einmal Ihnen allen.