Ich freue mich, wieder einmal bei den Vereinten Nationen zu sein! Zeitpunkt und Ortswahl könnten kaum besser sein: Deutschland hat gerade einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat inne, und die Vereinten Nationen feiern im kommenden Jahr ihren 75. Geburtstag. An alle, die aus dem Ausland gekommen sind: Herzlich willkommen in Deutschland! An alle, die aus Deutschland kommen: Herzlich willkommen in Erfurt! Und an alle Erfurter: Vielen Dank, dass wir in Ihrer wunderschönen Stadt sein dürfen!
Für mich ist das ein bisschen wie die Rückkehr in heimische Gefilde. In meinen acht Jahren als Außenminister gehörte es zu meinen wichtigsten Aufgaben, die jährliche Eröffnungssitzung der Generalversammlung zu besuchen. Und ich habe viele gute Erinnerungen daran.
Eine gehört allerdings nicht dazu, nämlich als ich einmal in einem der zahllosen New Yorker Wolkenkratzer zu einem der zahllosen Termine hetzte und mit meiner Delegation im Aufzug stecken blieb. Ich drückte auf den Alarmknopf, und als sich die Zentrale meldete, sagte ich: Hallo, hier ist der deutsche Außenminister. Wir stecken im Lift fest.
Und der Mann am anderen Ende der Leitung sagte: Na sicher. Und ich bin der Kaiser von China.
Nun, wie Sie sehen können, bin ich schließlich doch wieder herausgekommen.
Sie alle, die Sie sich für die Vereinten Nationen interessieren, haben sicher schon eine Vorstellung von der aufgeladenen und hektischen Atmosphäre der ersten Sitzungswoche der Generalversammlung. Sie ist gewissermaßen das Spitzenspiel der Weltdiplomatie: Bilaterale Begegnungen im 30-Minuten-Takt, multilaterale Verhandlungen bis in die frühen Morgenstunden hinein und viele, viele schlaflose Nächte. Es geht dabei um die schwierigsten Krisen unserer Zeit: Wie lässt sich Syrien befrieden? Wie können wir die dringend benötigten Finanzmittel für den UN-Flüchtlingskommissar beschaffen? Wie lässt sich die Lage an der türkisch-syrischen Grenze beruhigen? Wie kann der Waffenstillstand in der Ostukraine durchgesetzt werden?
Gleichzeitig erleben wir die größten Verwerfungen in der Weltordnung seit dem Fall der Berliner Mauer. Die Vereinigten Staaten ziehen sich aus ihrer Rolle als Garant der Weltordnung zurück. China weitet seinen Einfluss aus – und das sicherlich nicht als Kraft für Demokratie und Menschenrechte. Die Europäische Union muss noch ihre eigene strategische Antwort auf all dies formulieren.
Wir wissen also, dass sich die uns vertraute Weltordnung grundlegend verändert. Was wir noch nicht wissen, ist, wie die neue Weltordnung aussehen wird.
Kurz gesagt: Vor uns liegt unbekanntes Terrain. Wir leben in vieler Hinsicht in einer schwierigen Zeit, aber es ist auch eine ungeheuer wichtige Zeit. Und das macht die kommenden Tage hier für Sie umso bedeutsamer.
Am Dienstag habe ich UN-Generalsekretär Guterres in Berlin getroffen. Er bat mich, Sie alle herzlich von ihm zu grüßen. Und ich wiederum bitte nun Sie, dem Generalsekretär Ihre Resolutionen zu übermitteln, die Sie in den kommenden Tagen hier ausarbeiten werden. Es geht darin um einige der drängendsten Fragen unserer Zeit: um Frieden und Sicherheit im Südsudan. Um den Kampf gegen HIV. Um die Menschenrechtslage im Nahen Osten. Und um die Sicherungsmaßnahmen für die friedliche Nutzung der Nuklearenergie.
Über jedes einzelne dieser Themen könnte ich eine lange Rede halten. Stattdessen möchte ich vielmehr über ein übergreifendes Grundsatzthema sprechen, eines, das den Kern Ihres Planspiels ausmacht: die multilaterale Diplomatie. Damit die multilaterale Diplomatie Wirkung entfalten kann, brauchen wir eine regelbasierte internationale Ordnung. Warum ist dies so?
Ich möchte Ihnen auch hierzu eine Geschichte erzählen. Vor einigen Jahren stand ich einmal auf dem Weg zur Plenarsitzung der Generalversammlung an der Fußgängerampel in der New Yorker 48. Straße, in der Nähe des Deutschen Hauses – sicher waren viele von Ihnen schon einmal dort. Da kam ein anderer Außenminister mit seiner Delegation dazu, die auch zur Zentrale der Vereinten Nationen auf der anderen Straßenseite wollten. Während wir gemeinsam auf Grün warteten, sagte er: Frank, ich mag euch Deutsche ja wirklich! Und eure deutschen Autos, euer Bier und den Fußball, aber eine Sache begreife ich einfach nicht. Erkläre mir doch einmal: Warum geht ihr nie bei Rot über die Straße, auch wenn weit und breit kein Auto kommt?
Und er fügte hinzu: In meinem Land nimmt man es mit Regeln und Ordnung nicht so übertrieben genau wie bei euch – wozu auch?
Mir ist schon klar, dass internationale Diplomatie ein bisschen komplexer ist, als bei Rot über die Ampel zu laufen. Aber die Bemerkung meines damaligen Kollegen ist ja nicht ganz falsch: In der Tat treten wir Deutsche mit Nachdruck für eine regelbasierte internationale Ordnung ein. Wir verteidigen die Herrschaft des Völkerrechts und die Menschenrechte. Und wir engagieren uns für multilaterale Institutionen wie die Vereinten Nationen, die OSZE oder die EU. Aber wir erklären oft nicht, warum sie so wichtig sind, warum wir für diese Regeln und Institutionen kämpfen.
Regeln – ob in der Außenpolitik oder sonst wo – sind kein Selbstzweck. Wir müssen deutlich machen, welchen Zielen sie dienen. Diese übergeordneten Ziele sind Frieden und Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen dauerhaften Frieden. Und ohne Frieden gibt es keine Gerechtigkeit.
Ich bin fest davon überzeugt, dass sich beides nicht von allein ergibt, schon gar nicht in Zeiten wie diesen. Beide können sich nur entwickeln, wenn wir die Stimmen aller Beteiligten hören, und zwar die lauten wie die leisen. Die der reichen und starken Länder und auch die der armen und scheinbar schwachen. Gemeinsame Lösungen sind besser, gerechter und nachhaltiger als einseitiges Machtgebaren. Und auch wenn das Verhandeln manchmal mühsam ist – es stellt die einzige Alternative zu Krieg und Konflikt dar. Das hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts uns Deutsche gelehrt.
Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel sagte einmal sinngemäß, die einzige Lehre des Menschen aus der Geschichte sei, dass der Mensch niemals aus der Geschichte lerne.
Ich hoffe sehr, dass wir Hegel widerlegen werden. Klimawandel, Migration, nachhaltige Entwicklung, freier und fairer Handel: Wir werden diese Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur gemeinsam meistern – oder gar nicht.
Deshalb brauchen wir die multilaterale Diplomatie. Und deshalb lohnt sie jede Mühe.
Natürlich ist es viel schwieriger, viel mühsamer, eine Verhandlungslösung anzustreben, als auf Eskalation zu setzen. Einen Konflikt kann man womöglich in 14 Stunden vom Zaun brechen, aber es kann 14 Jahre dauern, ihn zu befrieden. Dafür braucht man Mut, Geduld und Mitmenschlichkeit. Sie sind hier, um all dies praktisch zu üben.
Und manchmal braucht es auch ein wenig sanften Druck. Im Jahr 2015 entschied sich Deutschland mit seinen Partnern in den Vereinten Nationen, zwischen den rivalisierenden Kräften im umkämpften Libyen zu vermitteln. Also haben wir ein Flugzeug nach Tripolis geschickt, das die Delegationen beider Seiten nach Berlin bringen sollte. Sie kamen zum Flughafen, sahen ihre Widersacher und wollten sofort wieder umkehren. Mit denen setzen wir uns doch nicht in ein Flugzeug
, haben sie geschrien. Nach zähen Verhandlungen am Telefon haben wir sie dann in das eine Flugzeug bekommen – die eine Partei saß ganz vorn, die andere ganz hinten.
Als sie dann in Berlin ankamen, wollten sie sich in ihre Zimmer zurückziehen, in getrennten Hotels wohlgemerkt. Stattdessen haben wir sie zum Abendessen eingeladen. Beide Seiten sagten: Das Abendessen geht schon in Ordnung. Aber mit denen setzen wir uns doch nicht an einen Tisch!
Zum Glück hatten wir noch eine Überraschung in petto. Denn wir hatten ein Restaurantschiff gemietet, weil man auf einem Schiff die Tür nicht von außen zuschlagen kann. Wir ließen sie also mit dem Schiff die Spree auf und ab fahren. Nach ein paar Stunden bekamen sie dann Hunger, und schließlich setzten sie sich an den gemeinsamen Tisch. Das war dann der Anfang der Verhandlungen.
Bei der multilateralen Diplomatie geht es also darum, Menschen an einen Tisch zu bekommen, die es eigentlich nicht im gleichen Raum miteinander aushalten, zu reden, wo sonst Gewalt herrschen würde, den Stillstand zu überwinden, auch wenn die Chancen dafür schlecht stehen.
Das heißt natürlich nicht, dass jede diplomatische Initiative auch zum Erfolg führt. Auf jeden Schritt voran können auch ernste Rückschläge folgen. Und von solchen Rückschlägen gab es in den letzten Jahren viele.
Denken Sie an Libyen. Vier Jahre später wütet der Bürgerkrieg noch immer. Und ich bin überzeugt, dass es ohne die Nachbarn und ohne die regionalen Mächte keine Lösung gibt. Diese müssen ihren Teil der Verantwortung für die Deeskalation und für eine politische Lösung tragen. Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einem Berliner Prozess
, der genau dies erreichen soll – alle relevanten innerlibyschen Kräfte und äußeren Interessenvertreter an einen Tisch zu bringen, um endlich den Teufelskreis aus Gewalt und Instabilität zu durchbrechen.
Ja, Diplomatie fühlt sich oft wie eine Sisyphusarbeit an. Kaum wähnt man sich auf dem Gipfel angekommen, rollt der Stein wieder ins Tal hinab. Wieder und wieder. Und noch einmal.
Allerdings gibt es auch eine ganze Menge Steine, die oben bleiben. Gerade dann, wenn man versteht, dass es mehr als einen Weg gibt, sie hinaufzubefördern.
Vielleicht ist es das, was wir, die westlichen Länder, lernen müssen. Auf meinen Reisen als Bundespräsident habe ich das Privileg, mir viele Erfolgsgeschichten rund um die Welt ansehen zu können. In den vergangenen zweieinhalb Jahren habe ich Länder besucht, die Fortschritte auf dem Weg zum Frieden, zu mehr Wohlstand, zu größerer Freiheit und mehr Demokratie gemacht haben. Und sie haben dies auf ihre Weise geschafft, gemeinsam mit Partnern und mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Das gehört ja auch zur Diplomatie: die Unterschiede nicht zu verwischen, sondern dafür zu sorgen, dass solche Unterschiede, ja sogar Spannungen statt destruktiver Dynamik konstruktiven Nutzen entfalten.
Im vergangenen Jahr habe ich einige Tage in Äthiopien verbracht. Ministerpräsident Abiy Ahmed hat den jahrzehntealten Konflikt mit dem Nachbarland Eritrea beendet. Er hat politische Gefangene freigelassen. Er hat tiefgreifende wirtschaftliche und politische Reformen angestoßen. Für seinen Mut wurde er dieses Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Und er hat ihn wahrhaft verdient!
Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass Mut und vorbildliche politische Führung in Verbindung mit der Unterstützung durch internationale und regionale Organisationen wirklich einen Unterschied machen können. Den Unterschied zwischen Krieg und Frieden. Oder den zwischen Leid und Hoffnung. Natürlich ist in Äthiopien nicht alles in Ordnung. Der Weg in die Zukunft ist nicht ohne Risiken. Aber das Land hat einen Neuanfang gewagt, und die internationale Gemeinschaft hat die Aufgabe, es auf diesem Weg weiter zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, Exzellenzen, ich wünsche Ihnen für die nächsten Tage sehr erfolgreiche Verhandlungen!
Ein Gedanke noch zum Schluss. Solche Planspiele sind wirklich sehr wichtig – aber ich rate Ihnen dringend: Vergessen Sie nie das, was eigentlich zählt in der Diplomatie, nämlich das menschliche Miteinander. Nutzen Sie die Gelegenheit, sich auszutauschen, einander kennenzulernen und dauerhafte Freundschaften zu schließen! Wer weiß, vielleicht treffen sich manche von Ihnen einmal am East River in New York wieder, um die Weltordnung von morgen auszuhandeln.
Nun aber wünsche ich Ihnen erst einmal viel Spaß in Erfurt! Vielen Dank.