In der Adventszeit feiern Christen die Ankunft eines Kindes, das in eine heillose Welt geboren wird. Seine Eltern sind arm, sie müssen sich den Geboten des römischen Statthalters fügen, und für die Geburt ihres Kindes steht ihnen nur die bescheidenste Bleibe zur Verfügung – ein Viehstall. Doch mit diesem Kind, dem Ärmsten unter den Armen, kommt nach christlicher Vorstellung das Heil in die Welt.
Die Weihnachtsgeschichte spannt einen weiten Bogen zwischen Hoffnung und Erfüllung. Eben das macht sie wohl auch zu der Generationen und Epochen übergreifenden Erzählung, die uns durch Jahrhunderte begleitet hat. Eine Geschichte, die vor zweitausend Jahren so aktuell war wie heute, die unzählige Deutungen und Interpreten gefunden hat.
Auch das Programm des heutigen Abends, zu dem ich Sie alle herzlich begrüße, spannt einen weiten Bogen. Beim Blick in Ihre Programmhefte werden Sie feststellen, dass wir einige Jahrhunderte Musikgeschichte mit weihnachtlichen Texten der literarischen Moderne zu einem außergewöhnlichen Repertoire verbunden haben.
Ich freue mich auf einen Chor, der mehr als achthundert Jahre alt ist, uns aber gleichwohl die jüngsten Stimmen des heutigen Abends beschert. Der Leipziger Thomanerchor ist einer der ältesten und besten Knabenchöre der Welt. Ein Chor, ohne den es die Tradition weihnachtlicher Musik in unserem Land, wie wir sie heute kennen, vermutlich nicht gäbe. Denn das Weihnachtsoratorium, dessen erste Teile die Thomaner 1734 unter ihrem Kantor Johann Sebastian Bach uraufführten, eroberte die Adventszeit in Deutschland und wird unverändert gern gehört. Ein Weihnachten ohne Jauchzen und Frohlocken gibt es nicht.
Ich freue mich sehr, dass wir das heute auch tun können, und heiße die Thomaner und ihren Kantor Gotthold Schwarz herzlich willkommen in Berlin! Schön, dass wir einen Platz in Ihrem prallvollen Adventskalender gefunden haben.
In den Pausen des Chores werden wir heute auch andere, von ihrer Zeit geprägte Lesarten der Weihnachtsgeschichte kennenlernen. Bertolt Brecht führt uns mit seiner Geschichte Das Paket des lieben Gottes
in das Chicago des Jahres 1908, der russische Satiriker Michail Sostschenko auf die Spur von Brennholzdieben ins nachrevolutionäre Petrograd.
Nina Kunzendorf, die uns mit ihrer Schauspielkunst im Fernsehen und auf der Bühne immer wieder begeistert, wird uns beide Geschichten vorlesen. Darauf freue ich mich ganz besonders. Auch Ihnen, liebe Frau Kunzendorf, herzlich willkommen.
Selbstverständlich geschieht auch in den Geschichten von Brecht und Sostschenko etwas, das sie zu Weihnachtsgeschichten macht. Die Chicagoer Spelunke, von der Brecht erzählt, beherbergt die Arbeits- und Trostlosen. Wärme wird nur in Schnapsgläsern ausgeschenkt – bis ein scheinbar blödsinniges Weihnachtspaket sich als Gottesgeschenk erweist.
In Michail Sostschenkos Heiligsprechung des Brennholzes erfahren wir, was passiert, wenn jede Bedingung menschlicher Existenz verschwunden und das Elend absolut ist. Der Mensch wird zum Objekt und das Objekt – das Brennholz – zum Heiligtum. Ein großartiger, ungewöhnlicher und durchaus nicht unzeitgemäßer Blick auf die Weihnachtsbotschaft.
2019 ist ein besonderes Jahr. Vor wenigen Wochen haben wir in Leipzig an die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 erinnert, einen Monat später den Jahrestag der Maueröffnung in Berlin gefeiert. Heute, dreißig Jahre nach dem rauschhaften Glücksmoment dieser Aufbruchszeit, scheinen mir manche – vor allem Nachgeborene – manchmal etwas zu ernüchtert.
Richard von Weizsäcker, der das Glück hatte, in dieser Zeit in diesem Amt gewesen zu sein, erinnerte in seiner Weihnachtsansprache 1989 daran, dass Freude häufig von Furcht begleitet wird und auch die Freudenbotschaft der Weihnachtsgeschichte mit einer Ermutigung beginnt: Fürchtet Euch nicht!
Es brauchte Mut, die Friedliche Revolution zu beginnen. Und es braucht Mut, diese Einheit in Freiheit zu vollenden. Ja, wir sehen heute auch Versäumnisse auf dem zurückgelegten Weg, vor allem aber sehen wir, wofür es sich gelohnt hat, mutig zu sein.
Auch dafür, liebe Gäste, möchten meine Frau und ich Ihnen mit dem Programm dieses Abends Danke sagen. Wir sind dankbar für ein weiteres gemeinsames Jahr in diesem Amt. Dass es ein gutes Jahr war, dazu haben Sie alle beigetragen – manche von Ihnen täglich, hier oder gemeinsam auf Reisen, andere als Freunde, Unterstützer und Partner. Ihnen allen wünschen wir eine besinnlich stille, festlich turbulente, anregend schöne Weihnachtszeit.
Bevor wir nun den Leipziger Thomanern zuhören, möchte ich Sie im Namen des Chores bitten, nicht zwischen den Liedern zu applaudieren, sondern Ihre Begeisterung bis zum Ende eines Konzertteils aufzusparen. Ich wünsche uns allen ein schönes Konzert und einen wunderbaren Abend. Herzlichen Dank.