Im großen Gedenkjahr 2019 haben wir in unserem Land schon viele hundertste Geburtstage gefeiert. Wir haben uns an den Aufbruch in die erste deutsche Republik erinnert, an die Einführung des Frauenwahlrechts, an Nationalversammlung und Weimarer Reichsverfassung. Wir haben zurückgeblickt auf die vielen Aufbrüche in eine demokratische Gesellschaft, nicht zuletzt in der Bildungspolitik. Und wir haben den Aufbruch in die kulturelle Moderne gewürdigt, für den besonders das Bauhaus steht.
Heute, am Ende dieses Gedenkjahrs, feiern wir hier gemeinsam die Gründung der Arbeiterwohlfahrt im Dezember 1919. Zumindest für mich ist es der letzte hundertste Geburtstag in diesem Jahr, und ich finde, es ist zum Abschluss noch ein besonders schöner und ein ganz besonders wichtiger. Denn die Geschichte der AWO fügt unserem Bild von 1919 eine weitere, eine ganz besonders wichtige Facette hinzu. Sie erinnert uns an die historische Weichenstellung in der Sozialpolitik, die damals inmitten der Nachkriegswirren Gestalt annahm. Und sie erinnert uns an die vielen mutigen Frauen und Männer, die damals für eine gerechte und solidarische Gesellschaft gestritten haben.
Ich glaube, aus der Geschichte Ihres Verbands können wir heute Kraft und Zuversicht schöpfen, gerade in einer Zeit, in der die liberale Demokratie wieder angefochten wird, in der auch der Ton in unserer Gesellschaft rauer geworden ist. Die Geschichte der Arbeiterwohlfahrt macht uns bewusst, was Menschen in unserem Land durch humanitäres, solidarisches und demokratisches Handeln bewegen können. In diesem Geist sind Sie auch heute Nachmittag zusammengekommen, und deshalb freue ich mich, bei Ihnen zu sein. Herzlichen Dank für die Einladung!
Als die Gründerin der Arbeiterwohlfahrt 1924 auf die ersten Jahre ihres Verbands zurückblickt, richtet sie einen großen Dank an ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter: Ohne das lebendige Mitgehen der vielen Frauen und Männer
, schreibt Marie Juchacz, ohne ihren Willen zur Solidarität und Selbsthilfe wäre die Arbeiterwohlfahrt niemals geworden, was sie ist
.
Solidarität und Selbsthilfe – in den Gründungsjahren der Weimarer Republik mit ihren Hunderttausenden Arbeitslosen, Kriegsheimkehrern, Witwen und Waisen heißt das zunächst einmal, mit vereinten Kräften für den Aufbau eines modernen Sozialstaats zu kämpfen. Armenfürsorge soll, anders als im Kaiserreich, kein Akt der Gnade, kein Almosen mehr sein und erst recht keine polizeiliche Aufgabe. Die Frauen und Männer der Arbeiterwohlfahrt – in erster Linie sind es Frauen – fordern soziale Rechtsansprüche ein, und sie nehmen Einfluss auf die Gesetzgebung der jungen Demokratie.
Solidarität und Selbsthilfe – in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, in Zeiten von Hunger, Krankheit und Not, heißt das aber auch, selbst mit anzupacken und sich untereinander zu helfen. Der Arbeiter
, schreibt Marie Juchacz im Sound der Bewegung, ist nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Wohlfahrtsarbeit.
Frauen und Männer der AWO verteilen Hilfsgüter, betreuen Kinder, richten Nähstuben und Suppenküchen ein. Sie schaffen Orte der Zuflucht und helfen Schwachen, wieder auf die Beine zu kommen.
Die Solidarität der Arbeiterwohlfahrt ist von Anfang an keine Solidarität nur für Arbeiterinnen oder Sozialdemokraten. Bei der Ausübung der Wohlfahrtspflege
, schreibt Marie Juchacz, fragen wir weder nach der Konfession noch nach dem politischen Bekenntnis, wir machen auch nicht Halt beim Arbeiter.
Solidarität für alle, ohne Rücksicht auf Religion und Weltanschauung
– das ist schon in der Weimarer Republik der vornehmste Grundsatz Ihres Verbands.
Und dass sich dieser Grundsatz nur in einer Demokratie leben lässt, das war Marie Juchacz immer bewusst. 1929, zum zehnten Jubiläum, sagt sie in ihrer Festrede: Was wir sind, können wir nur sein in der demokratischen Republik.
Solidarität für alle, das war genau das Gegenteil von dem, was die Nationalsozialisten mit ihrer Volksgemeinschaft
im Sinn hatten, mit ihrer Ideologie von Blut und Boden, mit ihrem Irrtum, die Unterscheidung von Freund und Feind sei so etwas wie das Wesen des Politischen.
Bis zuletzt kämpften mutige Frauen und Männer der Arbeiterwohlfahrt nach 1933 gegen die Zerschlagung ihrer Organisation, manche leisteten im Untergrund oder im Exil einfach weiter Hilfe, andere wurden verfolgt, verhaftet, ermordet. Ich finde, wir können den 100. Geburtstag der AWO nicht feiern, ohne diesen Mutigen unseren Respekt auszudrücken und auch unseren Dank!
Solidarität und Selbsthilfe – diese Ideen sind es auch, die 1945, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, die Wiedergründung der Arbeiterwohlfahrt in Westdeutschland inspirieren. In den Trümmern der Nachkriegszeit nehmen ehemalige Mitglieder die Arbeit wieder auf. Sie verteilen Hilfspakete, sammeln Kleider, kämpfen gegen Säuglingssterblichkeit. Sie lindern Leid, so gut es eben geht.
Und auch jetzt ist klar: Hilfe darf an keine anderen Voraussetzungen geknüpft sein als an das Vorhandensein von Not.
So sagt es Lotte Lemke, die mehr und mehr zur prägenden Figur der Arbeiterwohlfahrt wird. Die AWO fühlt sich allein der Humanität verpflichtet, und sie leistet Hilfe auf Augenhöhe, kennt kein Von-oben-Geben und Von-unten-Empfangen, sondern die gleiche Ebene menschlicher Solidarität
.
Auch diejenigen, die sich bei der Arbeiterwohlfahrt engagieren, ob ehrenamtlich oder hauptberuflich, kommen nun zunehmend aus allen Bevölkerungsgruppen. Selbsthilfe meint in der Bundesrepublik nicht mehr Selbsthilfe der Arbeiterschaft
, sondern Selbsthilfe der Zivilgesellschaft, Hilfe von Bürger zu Bürger. Lotte Lemke wünscht sich 1953 hier in Berlin sogar, dass alle Staatsbürger aus einer Gesinnung der Solidarität (…) heraus an der Bewältigung der sozialen Aufgaben mitarbeiten.
Damit ist der Staat nicht aus der Verantwortung entlassen, ganz im Gegenteil. Gelebte Solidarität der Bürgerinnen und Bürger soll den Sozialstaat nicht ersetzen, sondern seine Leistungen ergänzen. Und Lotte Lemke ist überzeugt, dass die Mitarbeit in der freien Wohlfahrtspflege ein unentbehrlicher Faktor lebendiger Demokratie
sein wird.
Solidarität für alle – für diese Haltung steht die Arbeiterwohlfahrt bis heute, allen Umbrüchen zum Trotz. Und ich finde, Solidarität in diesem Sinn ist alles andere als ein alter Hut aus der Mottenkiste der politischen Ideen, sondern vielleicht aktueller denn je.
Denn wir erleben ja, wie manche heute wieder für etwas eintreten, was der Soziologe Heinz Bude eine exklusive Solidarität nennt. Sie wollen Solidarität in erster Linie für die Angehörigen der eigenen Gruppe
, und sie wollen sich abschotten gegen das, was sie als anders oder fremd empfinden. Solidarität zuerst für uns und unter uns – das ist ihre Ideologie, und es bleibt dann immer die große Frage, wer denn zu diesem Wir gehört und wer aus welchem Grund eigentlich nicht.
Aber gerade in einer Gesellschaft, die vielfältiger wird, brauchen wir die Bereitschaft, unabhängig von Herkunft, Religion, Alter oder sexueller Orientierung füreinander einzustehen. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Menschen, die sich zur Solidarität bekennen und sich für sie entscheiden. Menschen, die sich anderen mit Respekt zuwenden und sich um mehr kümmern als nur um sich selbst. Hilfsbereitschaft auch denen gegenüber, die einer anderen Generation, Kultur oder Lebenswelt zugehören – eine solche Haltung lässt sich nicht erzwingen. Aber wir können uns für sie entscheiden.
Sie in der AWO und in den anderen Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, Sie haben sich entschieden. Sie haben sich entschieden, Solidarität zu leben, als Mitglieder, im Ehrenamt oder im Hauptberuf. Mein Dank gilt allen, die sich in Städten und Dörfern engagieren, in Selbsthilfegruppen und Freiwilligenbüros, in Jugendtreffs und Seniorenklubs. Denen, die Flüchtlingen Wege in unsere Gesellschaft ebnen, die Menschen an Tafeln oder in Repair Cafés zusammenbringen; die immer wieder aufs Neue gegen Diskriminierung und Ausgrenzung kämpfen.
Mein Dank gilt allen, die in Kindergärten, Werkstätten, Pflegeheimen und Hospizen jeden Tag und jede Nacht für andere da sind und deren Engagement es vielen Menschen erst möglich macht, ein selbstbestimmtes Leben inmitten unserer Gesellschaft zu führen. Und ich danke allen, die vom Ortsverein bis in den Bundesverband dafür sorgen, dass das Herz der AWO weiter schlägt.
Sie alle, meine Damen und Herren, stärken den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Und Sie machen unser Land zu einem Ort, an dem unzählige Menschen gerne leben und gerne miteinander leben. Dafür bin ich Ihnen dankbar, und diesen Dank will ich hier und heute zweifach und dreifach unterstreichen. Herzlichen Dank!
Es stimmt, wenn immer wieder gesagt wird, dass wir mehr Anerkennung für Ihr Engagement und Ihre Arbeit brauchen. Sie alle verdienen mehr Wertschätzung. Aber das darf nicht nur eine höfliche Floskel bleiben. Gerade in einer Zeit, in der viele ehrenamtlich Engagierte wachsenden Anfeindungen, Pöbeleien, sogar physischen Bedrohungen ausgesetzt sind, da finde ich: Solidarität mit denen, die Tag für Tag solidarisch handeln – auch das gehört zu einer solidarischen Gesellschaft!
Die AWO ist heute zugleich Mitgliederverband, Interessenvertreterin und Unternehmerin; sie mischt mit in der Zivilgesellschaft, in der Sozialpolitik und der Sozialwirtschaft. Ich weiß, der rasante Ausbau des unternehmerischen Bereichs insbesondere nach der Wiedervereinigung hat in Ihrem Verband auch zu Spannungen geführt, und es hat Interessenkonflikte gegeben zwischen Aufsichtsorganen und Geschäftsführungen. Im Wettbewerb bestehen, ohne die eigenen Werte über Bord zu werfen, das ist die große Herausforderung, vor der Sie heute stehen. Und wenn diese Werte in eklatanter Weise verletzt werden, dann hat die AWO ein Eigeninteresse, sich selbst an diese Werte zu erinnern und dafür zu sorgen, dass sie im Verband von allen eingehalten werden.
Es zeichnet Sie in der AWO aus, dass Sie Herausforderungen angehen. Sie haben in den letzten Jahren über Auftrag und Aufgaben diskutiert, Sie haben Ihren Verband reformiert, und Sie werden morgen über ein neues Grundsatzprogramm entscheiden, das Grundlage für die alltägliche Praxis der AWO-Einrichtungen sein wird und zugleich die Gemeinwohlorientierung für das gesamte Spektrum von AWO-Aktivitäten festschreibt.
Ich finde, die Werte, für die Ihr Verband seit 100 Jahren steht, sollten auch in Zukunft mehr sein als Wohlfühlwörter in einer Werbekampagne. Die Arbeiterwohlfahrt hat ihre Gestalt verändert und verändern müssen, aber ich wünsche mir, dass sie sich auch in Zukunft ihr Gesicht und ihr Herz bewahrt. Die Geschichte von 1919 und 1945, die Ideen von Solidarität und Selbsthilfe, für die Marie Juchacz und Lotte Lemke stehen – dieser Geist muss auch weiterhin das Handeln der AWO bestimmen!
Ich wünsche mir deshalb, dass die AWO auch in Zukunft ein Kristallisationspunkt für bürgerschaftliches Engagement bleibt. Wir erleben heute ja immer wieder Wellen der spontanen Hilfsbereitschaft, gerade auch in der jüngeren Generation. Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege können Menschen, die sich im Geist der Solidarität engagieren wollen, Räume bieten, und sie können sie mit ihrer Erfahrung und ihrem Fachwissen unterstützen. Das ist die große Chance für unsere Gesellschaft, und ich bin dankbar, dass Sie offen sind auch für neue Formen des Ehrenamts.
Sich unablässig kritisch mit dem zu befassen, was ist, und es in Frage zu stellen, um bessere […] Lösungen zu finden
, das war für Lotte Lemke eine ständige Aufgabe
der Arbeiterwohlfahrt. Und ich finde, auch diese Aufgabe sollten Sie heute nicht vernachlässigen, allen wirtschaftlichen Herausforderungen zum Trotz. Hören Sie nicht auf, sich als Anwältin der Schwachen in die politischen Debatten einzumischen. Kämpfen Sie für die, die nicht für sich selbst kämpfen können. Bleiben Sie kritisch, manchmal auch unbequem. Unser Land braucht Ihre Stimme, auch 100 Jahre nach dem Aufbruch von Weimar.