Kein Jubel! Keine Freude! Als die ersten Soldaten der Roten Armee die Lagertore öffneten, hatten wir dafür nicht mehr die Kraft.
So erinnerte sich eine der Überlebenden, Giselle Cycowicz, vergangene Woche in Jerusalem. Überlebende sind wir heute
, sagte sie. Vor fünfundsiebzig Jahren waren wir Todgeweihte, in denen noch ein letzter Rest Leben war, bevor wir den Millionen anderen folgen sollten. ‚Ihr seid frei!‘, hatten uns die Soldaten zugerufen: ‚Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt!‘ Wir? Wir – die allerletzten unserer Familien? Ohne Eltern, ohne Kinder, ohne Schwestern, ohne Brüder, ohne Heimat, ohne Namen, ohne Hoffnung – wohin sollten wir gehen?
Als Alexander Woronzow, ein sowjetischer Soldat, gemeinsam mit seinen Kameraden der 1. Ukrainischen Front wenig später am Nachmittag des 27. Januar 1945 durch das Tor mit dem zynischen Schriftzug Arbeit macht frei
ging, hatte er eine Filmkamera dabei, seine Kamera.
Es sind seine Bilder, die wir kennen als die ersten Bilder nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Bilder von Kindern, die dem Kameramann ihre Arme entgegenstrecken, um ihm die eintätowierten Nummern zu zeigen, die sie als Häftlinge ausweisen: Schicksalslose, mit Materialnummern versehen, Brandzeichen einer versuchten Entmenschlichung. Es sind Bilder grenzenlosen Grauens, Bilder eines deutschen Verbrechens.
Als Alexander Woronzow Jahrzehnte später von dem sprach, was er an diesem Tag durch das Objektiv seiner Kamera gesehen hatte, sagte er: Über diese Erinnerung hat die Zeit keine Macht.
Lieber Herr Staatspräsident Rivlin, vorgestern gingen wir gemeinsam durch das Lagertor von Auschwitz. Nie war mir ein Gang so schwer. Nie war ich so dankbar für den Freund an meiner Seite.
Vor unseren Augen waren die Bilder des sowjetischen Soldaten. Im Ohr klangen uns die Geschichten der Überlebenden. Drei von ihnen aus Deutschland waren mit uns in Auschwitz und haben uns von ihrem Überleben berichtet. Als Kinder, allein, den Eltern entrissen, in der todbringenden Hölle. Wer sich nur für einen Moment die Verlassenheit eines Kindes in Auschwitz vorstellt, mag vielleicht ermessen, was es für die Überlebenden bedeutet, heute dorthin zurückzukehren. Herr Gardosch, Herr Taussig, ich danke Ihnen dafür, dass Sie uns begleitet haben. Und wir alle danken Ihnen, den Überlebenden, dass Sie heute hier sind!
Dank schulde ich auch Ihnen, verehrter Herr Staatspräsident: Dank dafür, dass ich vor wenigen Tagen in Yad Vashem als Vertreter Deutschlands das Wort ergreifen durfte; dafür, dass ich an Ihrer Seite sein durfte, als wir in Auschwitz der Befreiung gedacht haben, und dafür, dass wir von Auschwitz zusammen nach Berlin gekommen sind, um heute hier im Deutschen Bundestag zu sprechen.
Dass ein israelischer Präsident die schmerzhaften Schritte der Erinnerung gemeinsam mit einem Deutschen geht, dass ein israelischer Präsident an diesem Tag in diesem Haus spricht, im Herzen unserer Republik, das erfüllt mich mit tiefer Demut. Lieber Reuven Rivlin, es ist ein Geschenk. Dafür danke ich Ihnen im Namen meines Landes!
Ihre Anwesenheit ist ein Zeichen der Verbundenheit zwischen unseren Ländern, zwischen Israel und Deutschland. Ich bin dankbar für dieses Zeichen. Aber mehr noch: Ich verstehe es als Verpflichtung – als Verpflichtung, uns der Hand, die Israel uns gereicht hat, würdig zu erweisen. Die Versöhnung ist eine Gnade, die wir Deutsche nicht erhoffen konnten oder gar erwarten durften. Aber wir wollen ihr gerecht werden! Präsident Rivlin: Wir werden nicht vergessen! Und wir stehen an der Seite Israels!
Das gemeinsame Gedenken in den vergangenen Tagen und die Stunde hier im Bundestag sind bewegende Momente, nicht nur für mich. Denn wir wissen: Die Zeit hat Macht über uns, über unsere Erinnerung. Es ist an uns, zu widerstehen. Es ist an uns, die Erinnerung und die Verantwortung, die aus ihr erwächst, gegen jede Anfechtung zu verteidigen. Dafür will ich einstehen, als Bundespräsident und als Bürger der Bundesrepublik Deutschland.
Meine Generation ist mit den Bildern Alexander Woronzows aufgewachsen. Sie haben uns begleitet. Wir waren mit dem Wunsch konfrontiert, diese Bilder zu verdrängen; dem Versuch, sie zu leugnen; dem Willen, sie vergessen zu machen. Und trotz alledem: Wir wurden zu Zeugen ihrer Macht über die Zeit.
Was diese Bilder zeigen und was Menschen wie Elie Wiesel, Bronisław Geremek, Jorge Semprún, Simone Veil, Arno Lustiger, Shimon Peres, Zoni Weisz, Daniil Granin, Ruth Klüger, Anita Lasker-Wallfisch, Saul Friedländer und andere an dieser Stelle, hier im Deutschen Bundestag berichtet haben, all das ist nicht zu leugnen. Ihr Zeugnis verdrängen, vergessen, verschweigen oder verharmlosen zu wollen, hieße, die Opfer zu verhöhnen. Und es hieße für unser Land, mit diesem Teil seiner Geschichte auch seine eigene Identität zu verleugnen.
Denn die Shoah ist Teil deutscher Geschichte und Identität. Auf diesen demokratischen Konsens haben sich meine Vorgänger an dieser Stelle berufen können. Es war ein langer, jahrzehntelanger, von Widerständen und Rückschlägen begleiteter Prozess. Viele Deutsche meiner Generation haben nur dank dieser Aufarbeitung ihren Frieden mit dem eigenen Land machen können. Dass die Auseinandersetzung mit der historischen Schuld heute zum Selbstverständnis unseres Landes gehört, wird von Demokraten in diesem Hause nicht bestritten.
Das meinte Roman Herzog, als er vor mehr als zwanzig Jahren diesen Gedenktag ins Leben rief und an dieser Stelle sagte, die Frage sei nicht mehr, ob, sondern in welcher Weise wir uns erinnern.
Wir werden heute neue Formen des Gedenkens finden müssen für eine junge Generation, die fragt: Was hat diese Vergangenheit mit mir und meinem Leben zu tun?
Wir werden neue Antworten geben müssen für junge Deutsche, deren Eltern und Großeltern aus anderen Ländern zu uns gekommen sind. Ihr habt Eure Geschichte, wir haben unsere
, das kann und darf nicht die Antwort sein. Nein, die Lehren aus unserer Geschichte können und müssen zum Selbstverständnis aller Deutschen gehören – denn Verantwortung im Hier und Heute, die tragen wir alle!
Und wir werden auf unsere Worte achten müssen, wenn wir vermeiden wollen, dass unser Gedenken zum Ritual erstarrt. Gedenken neigt zur Formelhaftigkeit. Doch gerade weil das so ist, darf unsere Sprache dieser Neigung nicht nachgeben. Wir können uns nicht damit begnügen, das Unbegreifliche der Shoah zu beschwören. Sondern wir wollen das Unermessliche ermessen, das Unfassbare erfassen, das Verlorene betrauern – um der Opfer willen: der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, Kranken und Behinderten, der als sogenannte Asoziale
und Berufsverbrecher
Erniedrigten.
Wer die Verbrechen verstehen will, der muss die weiten Wege zurückverfolgen, die zum Lagertor von Auschwitz führten. Die Bahngleise, die an der Rampe endeten, die Zugfahrpläne, die Logistik des Todes. Sie wurde in Ämtern mit Berliner Adressen erdacht, einen Steinwurf entfernt von hier.
Ausgeführt und ins Werk gesetzt wurde all das in über eintausend Lagern und auf abertausenden Erschießungsplätzen; an Orten, von denen viele weit entfernt im Osten liegen und deren Namen bis heute viele Deutsche noch nie gehört haben: Paneriai oder Malyj Trostenez, Mizocz, Chełmno.
Und gerade weil wir wissen, dass diese Verbrechen überall dort bis heute nachwirken, müssen wir unsere historische Verantwortung vor unseren Nachbarn benennen: Deutsche waren es, die das getan haben!
Und ebenso müssen wir gegenhalten, wenn Erinnerung instrumentalisiert wird. Geschichtsschreibung gehört nicht unter die Knute der Politik, sondern sie braucht die Freiheit und den offenen Austausch der Historiker. Geschichte darf nicht zur Waffe werden!
Und schließlich: Wer verstehen will, muss sich an die Wurzeln des nationalsozialistischen Weltbildes erinnern – an völkisches Denken, an Antisemitismus und Rassenhass, an die Verrohung der Sprache in der Weimarer Republik, an die Zerstörung der Vernunft, an den Einzug der Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung, an die Verächtlichmachung des Parlaments, die Zertrümmerung des Rechtsstaats und der Demokratie.
Der erste Satz unserer Verfassung sagt jedem, der ihn lesen kann und lesen will, was in Auschwitz geschehen ist. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist die Umkehrung des völkischen Denkens. Er stellt die Menschenwürde jedes Einzelnen ins Zentrum. Wer also erinnern will, wer das Andenken der Opfer ehren will, muss Demokratie und Rechtsstaat schützen, wo immer sie in Frage gestellt werden!
Vor wenigen Jahren hätte meine Rede an diesem Punkt enden können. Wir waren uns einig über die Lehren der Vergangenheit und eine Erinnerungskultur, die es gemeinsam zu pflegen gilt. Doch ich fürchte, unsere Selbstgewissheit war trügerisch.
Ich wünschte, ich könnte, erst recht vor unserem Gast aus Israel, heute mit Überzeugung sagen: Wir Deutsche haben verstanden. Doch wie kann ich das sagen, wenn Hass und Hetze sich wieder ausbreiten, wenn das Gift des Nationalismus in Debatten einsickert – auch bei uns?! Wie kann ich das sagen, wenn das Tragen der Kippa zum persönlichen Risiko wird oder Juden die Menora beiseite räumen, wenn der Heizungsableser kommt?! Wie kann ich das sagen, wenn ein Rechtsterrorist in Halle an Jom Kippur zwei Menschen ermordet und allein die schwere Holztür der Synagoge ein Massaker an jüdischen Männern, Frauen und Kindern verhindert?! Wie kann ich das sagen, wenn diejenigen, die Verantwortung für die Demokratie übernehmen – in Rathäusern, Parlamenten oder Zeitungsredaktionen –, angegriffen werden; wenn sich Menschen nicht mehr trauen, Ehrenämter in ihren Gemeinden zu übernehmen?! Und wie kann ich das sagen, wenn ein Abgeordneter dieses Hauses wegen seiner Hautfarbe mit dem Tode bedroht wird?!
Nein, meine Sorge ist nicht, dass wir Deutsche die Vergangenheit leugnen. Meine Sorge ist, dass wir die Vergangenheit inzwischen besser verstehen als die Gegenwart.
Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision; gar noch als die bessere Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit.
Ich fürchte, darauf waren wir nicht genügend vorbereitet – aber genau daran prüft uns unsere Zeit! Und diese Prüfung müssen wir bestehen. Das sind wir der Verantwortung vor der Geschichte, den Opfern und auch den Überlebenden schuldig!
Primo Levi hat gesagt: Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen.
Für ihn, den Überlebenden, war dieser schlichte Satz der Kern dessen, was wir zu sagen haben
. Und für uns ist dieser Satz keine Theorie, keine Formel für Gedenkstunden wie diese. Nein, Levis Satz ist unsere Prüfung – nicht in ferner Zukunft, sondern hier und jetzt. Deshalb darf es keinen Schlussstrich geben! Deshalb, Herr Staatspräsident, bekennen wir heute, fünfundsiebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz: Wir vergessen nicht, was geschehen ist! Aber wir vergessen auch nicht, was geschehen kann!
Ich bin fest überzeugt: Die große Mehrheit in unserem Land steht für die Demokratie, und die große Mehrheit in unserem Land weiß um unsere Verantwortung. Also: Nehmen wir sie an! Erheben wir uns gegen den alten Ungeist in der neuen Zeit! Kämpfen wir gegen Antisemitismus, gegen Rassenhass und nationale Eiferei! Erliegen wir nicht der Verführung des Autoritären! Streiten wir mit Argumenten, nicht mit Hass! Leben und handeln wir als gute Nachbarn in Europa!
Präsident Rivlin, wir wollen Israel und der Welt zeigen, dass unser Land dem neu geschenkten Vertrauen gerecht wird! Das ist die Aufgabe, die uns die Erinnerung aufgibt. Damit, was geschehen kann, nicht geschehen wird.