Abendessen zu Ehren von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck anlässlich seines 80. Geburtstages

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 11. Februar 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 11. Februar ein Abendessen zu Ehren von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck zu dessen 80. Geburtstag gegeben. In seiner Ansprache sagte er über seinen Amtsvorgänger: "Das Land, das diesen Mann zum Präsidenten bekam, konnte und kann sich glücklich schätzen, eben weil sein Lebensweg keine Gerade war, weil dieser Weg keiner vorgegebenen Spur folgte."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim Abendessen zu Ehren von Bundespräsident a. D. Joachim Gauck anlässlich seines 80. Geburtstages in Schloss Bellevue.

Acht Jahrzehnte, es nützt nichts, drum herumzureden, das ist eine lange Strecke. Wer zum achtzigsten Geburtstag gratuliert, der sieht weit zurück, wenn er die Anfänge in den Blick nehmen will, die Kindheit im Wustrower Kapitänshaus, auf dem schmalen Landstrich zwischen Bodden und Küste – der Blick weit hinaus auf die Ostsee, Fischland und Darß, für den damals Vier- bis Fünfjährigen für einige Jahre die Heimat.

Gewöhnlich erwartet einen solchen Rückblick auch der Jubilar. Das Leben ist ruhiger geworden, und der lange Weg, der hinter ihm liegt, lässt sich aus dieser Lage und Position gut überschauen.

Aber gilt das auch für Joachim Gauck? Das Leben a.D. mag ruhiger geworden sein, aber Ruhestand? Ruhestand kann man das im Ernst nicht nennen. Wer mit Joachim Gauck zurückschaut – man kann das Tun der anderen ja heute mühelos mit Google zurückverfolgen –, der findet Einträge unterschiedlicher Art, aber nicht etwa aus den letzten zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren, sondern Einträge, die in der Regel vom Vortag stammen. Im Januar 2020 waren es Schlagzeilen wie die Mahnung, Deutschland möge seine militärische Verpflichtung im Irak einhalten, auch nach der Zuspitzung des Konflikts zwischen dem iranischen Regime und den USA; es ging um Rezensionen seines letzten Buches – keine Lebenserinnerungen, sondern Anmerkungen zu einer der wichtigsten und notwendigsten Tugenden unserer Zeit, der Toleranz. Und auch das: Es waren Schlagzeilen, die Koalitionsverhandlungen in Thüringen betreffend, bei denen er zu vermitteln versuchte. Er konnte noch nicht wissen, dass die Wahl des Ministerpräsidenten missbraucht werden könnte, um die freiheitliche Demokratie und ihre Vertreter der Lächerlichkeit preiszugeben. Aber er war angetrieben von der Überzeugung, dass gewählte Parlamentarier ihre besondere Verantwortung für die Demokratie auch wahrnehmen müssen.

Das alles, Sie merken es, sind nicht die Einlassungen eines Ruheständlers, nicht solche Einlassungen, die allenfalls milde belächelt werden. Es sind Meldungen aus der Tagespolitik, Zwischenrufe, Debattenbeiträge und Kommentare, die wahrgenommen, die diskutiert werden, durchaus und immer wieder auch kontrovers.

Deshalb bleibt auch kaum ein Glückwunsch und kaum eine Würdigung zum achtzigsten Geburtstag ohne Ausblick auf Kommendes und noch zu Erwartendes.

Ralf Fücks, der heute unter uns ist, schrieb in seiner Würdigung zum Achtzigsten, wer sich die Biographie Joachim Gaucks vor Augen rufe, dem scheine es, als sei seine Zeit im Amt des Bundespräsidenten die logische Vollendung seines Lebenswegs. Aber das sei natürlich eine Konstruktion vom Ende her. Das heißt ja nichts anderes, als dass am Anfang der Entwicklung das Ende unwahrscheinlich, ja eigentlich undenkbar schien.

Und was sagt Joachim Gauck? Der stand im vergangenen Jahr, von einer Fernsehkamera beobachtet, auf dem Kirchturm in Wustrow, blickte über das Fischland seiner Kindheit und sagte: Eigentümlich. Und meinte wohl: Eigentümlich und wunderbar, dass das Kind, das er war, später Präsident dieses Landes wurde.

Das Land, das diesen Mann zum Präsidenten bekam, konnte und kann sich glücklich schätzen, eben weil sein Lebensweg keine Gerade war, weil dieser Weg keiner vorgegebenen Spur folgte. Joachim Gauck ist, um es mit den Worten Uwe Johnsons zu sagen, immer quer über die Gleise gegangen. Er ist kein Nonkonformist, aber einer, der eigene Wege geht, mitunter –häufiger in seinem Leben – auch gehen musste. Das ist bis heute so geblieben. Es macht die Auseinandersetzung mit ihm zu einem Gewinn für uns alle.

Denn die Erfahrungen dieses Lebenswegs, die Einsichten, Schlussfolgerungen und Prägungen, ja auch Verletzungen und Zweifel sind eingegangen in sein Denken und sein Handeln. Sie haben eine menschliche Spur hinterlassen, in allen Ämtern, die Joachim Gauck innehatte, besonders aber hier in diesem Amt, in dem des Bundespräsidenten, in das ich die Ehre hatte, ihm nachzufolgen.

Manche Verletzung kann ein Leben prägen und ihm eine Richtung geben. Dass der Vater vom sowjetischen Geheimdienst abgeholt wurde und für Jahre spurlos verschwand, ist so eine Verletzung. Dem Sohn blieb das Germanistikstudium verwehrt, weil er sich – ich zitiere aus der damaligen Beurteilung des Schuldirektors – in einem Stadium kritischer Auseinandersetzung mit seiner Umwelt befand. Kritik heißt Unterscheiden, aber unter den herrschenden Verhältnissen der DDR war die kritische Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen auf den politischen Gegner anzuwenden, nicht etwa auf die eigenen Kalamitäten. Und Joachim Gauck wollte es eben andersherum.

Lieber Joachim Gauck, wer das weiß, wird Ihr schönes Vorwort zur Neuausgabe von Heines Deutschland. Ein Wintermärchen durchaus auch als Selbstauskunft lesen: Heines Nöte, seine Sehnsucht danach, beheimatet und verbunden zu sein mit dem Vertrauten, mit Menschen und Räumen, die Suche nach Zugehörigkeit und ihr Scheitern an der Engstirnigkeit und dem Anpassungsdruck einer vordemokratischen Gesellschaft – das waren auch Ihre Nöte.

Joachim Gauck fand sich nicht ab mit der geistigen Enge, und er widerstand dem Anpassungsdruck. Aber den für uns heute vielleicht naheliegendsten, bequemsten Weg, den ging er gerade nicht. Von den drei Möglichkeiten, die sich boten – Flucht in den Westen, einen Beruf erlernen oder das Theologiestudium –, wählte er die letztere. Er wählte die Theologie als den einzigen verbliebenen Raum, der sich dem unmittelbaren Zugriff des Staates und der Partei entzog. Und er wählte sie, um mehr über sich und seinen Platz in der Welt zu erfahren.

Joachim Gauck wollte nicht fliehen, er wollte stehen. Auch in dieser Ambivalenz, der Liebe zur Freiheit und der Verbundenheit mit dem Vertrauten, war ihm Uwe Johnson nah. Flucht, hatte Johnson gesagt, sei eine Bewegung in großer Eile, unter gefährlicher Bedrohung. Er dagegen sei mit der Stadtbahn in den Westteil Berlins gekommen. Als die nach dem 13. August 1961 nicht mehr fuhr, blieb Joachim Gauck zurück – im geistigen Exil, wie man so sagt. Mit dem Körper hinter der Mauer, im Geist ein Grenzgänger, ging er ein lebenslanges Verhältnis mit der fernen Freundin Freiheit ein.

Es sollte die prägendste Verbindung seines Lebens werden. Aus der intimen Freiheitsliebe im Schutzraum der Kirche wird nach 1989 ein leidenschaftliches Bekenntnis. Ein politisches Bekenntnis – selbstverständlich auch, weil man nicht über Politik sprechen kann, ohne immer auch über Freiheit zu sprechen, und nicht über Freiheit, ohne auch über Politik zu sprechen. Diese Freiheit, die Hannah Arendt meint, die Freiheit als Ziel aller Politik, das ist das politische Bekenntnis seines Lebens.

Denn das, lieber Joachim Gauck, sind Sie immer geblieben: ein Liberaler. Ein konservativer, mitunter sozialdemokratischer und gelegentlich auch ein grüner Liberaler. Sie blieben es – ohne parteipolitische Bindung, wohl weil Sie wussten oder mindestens befürchteten, dass eine solche Bindung Ihnen den Weg quer über die Gleise verwehrt hätte oder mindestens erschweren würde.

In allen Ämtern, die Sie bekleidet haben, dem des Seelsorgers, dem des Sonderbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR und schließlich im höchsten Staatsamt, war es ein mutig gelebtes Leben, das Ihr Handeln im Alltag beglaubigt hat. Kein Parteibuch könnte es ersetzen. Auch wenn ein solches Buch einem mutig gelebten Leben, füge ich mit Blick auf viele hier im Saal hinzu, nicht zwingend entgegenstehen muss.

Mit der WG des Bundespräsidenten Joachim Gauck zog, wie die Süddeutsche Zeitung damals schrieb, ein neuer, ein offener, ein streitbarer Geist ins Schloss Bellevue ein. Ein Präsident der Herzen, der sich gleichwohl nie gescheut hat, Erwartungen zu unterlaufen, der sich nicht vereinnahmen ließ, der Überzeugungen vertrat, von denen er wusste, dass sie ihm Kritik, in manchen Fällen sogar Gegnerschaft eintragen würden. Ein selbstbewusster Präsident, ausgestattet mit einer gehörigen Portion sympathischer mecklenburgischer Dickköpfigkeit, der Themen setzte, sie offensiv vertrat und aneckte, wie etwa mit der Forderung, Deutschland müsse seiner Rolle in Europa gerecht werden und mehr Verantwortung übernehmen, auch militärische Verantwortung. Einer, der Widerspruch aushält und Verletzungen und doch immer wieder die Hand ausstreckte, das Gespräch suchte, versöhnen wollte.

Es ist genau diese Souveränität, die Joachim Gauck auszeichnet, eine, die wirklich innere Freiheit meint und diese Freiheit auch fruchtbar machen, sie gestalten und erhalten will, mit Verantwortung, mit Vernunft, mit Urteilskraft. Diese Souveränität ist besonders. Lieber Joachim, wer sie hat, ist ein mutiger Mensch, ein wahrer, ein aufrechter Demokrat, ein Bundespräsident, der tiefe Spuren hinterlässt – und dankbare Nachfolger.