Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945

Schwerpunktthema: Rede

Dresden, , 13. Februar 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 13. Februar bei der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 eine Rede in Dresden gehalten: "Denn wir alle tragen, jeder an seinem Platz, Verantwortung für das Zusammenleben und für die Demokratie in unserem Land. Auch das ist eine Lehre aus dem deutschen Irrweg, der am Ende zur Zerstörung Dresdens geführt hat."


Vor wenigen Monaten, am 1. September, stand ich im Morgengrauen auf dem Marktplatz einer kleinen Stadt in Polen: Wieluń, den meisten Deutschen wenig bekannt. Gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten, in Anwesenheit von vielen trauernden Bürgerinnen und Bürgern, haben wir dort der Bombardierung der Stadt vor achtzig Jahren gedacht.

Damals, am 1. September 1939, brachten Sturzkampfbomber der deutschen Luftwaffe Tod und Zerstörung über Wieluń – ohne jede Vorwarnung. Ihr Bombenhagel traf eine schlafende, ahnungslose, wehrlose und militärisch völlig unbedeutende Stadt. Er zertrümmerte das Krankenhaus, verwüstete den Marktplatz, brannte den Stadtkern nieder, tötete in dieser ersten Stunde des Krieges 1.200 Menschen.

Die Bomben von Wieluń waren das erste Verbrechen in einem Krieg, den das nationalsozialistische Deutschland in die Welt trug. Sie waren Vorboten des Grauens, das deutsche Selbstüberhebung, deutscher Rassenwahn und deutscher Vernichtungswille in den folgenden sechs Jahren über ganz Europa brachten. Sie markieren den Beginn einer Entgrenzung der Gewalt, die im Zweiten Weltkrieg weit mehr als fünfzig Millionen Menschen das Leben kostete. Der sechs Millionen ermordeten Juden, der Gequälten und Ermordeten in den Konzentrationslagern haben wir erst vor wenigen Wochen in Yad Vashem, Auschwitz und in Berlin gedacht.

Der Angriff auf Wieluń war auch der Auftakt zu einem brutalen Bombenkrieg, in dem die Zivilbevölkerung in den Städten ins Fadenkreuz geriet. Die deutsche Luftwaffe auf der einen, britische und amerikanische Bomber auf der anderen Seite zerstörten im Verlauf des Krieges hunderte Städte in fast allen Ländern Europas. Sie zogen eine bis dahin noch nie dagewesene Spur der Verwüstung, die von Großbritannien über Deutschland bis nach Russland reichte. Als dieser Krieg im Mai 1945 mit der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus endete, da lagen weite Teile des Kontinents unter Asche und in Trümmern.

Heute haben wir uns hier versammelt, um an die Luftangriffe auf Dresden vor 75 Jahren zu erinnern. Wir gedenken der Opfer des Bombenkrieges in dieser Stadt, in Deutschland und in Europa. Und wir gedenken aller Opfer von Völkermord, Krieg und Gewalt.

Das Inferno, das in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 über Dresden hereinbrach, dieses Inferno haben Augenzeugen immer wieder beschrieben. In zwei Wellen bombardierten britische Flugzeuge die Stadt. Brand- und Sprengbomben entfachten einen verheerenden Feuersturm. Als die Amerikaner die Luftangriffe am Aschermittwoch fortsetzten, blickten sie auf eine brennende Stadt.

Heute wissen wir: Bis zu 25.000 Menschen kamen damals ums Leben, große Teile des historischen Stadtkerns und angrenzender Wohnviertel wurden verwüstet. Innerhalb weniger Stunden zerstörten die Bomben vieles von dem, was Menschen hier in Dresden über Jahrhunderte aufgebaut hatten.

Wen die Bomben trafen, blieb dabei dem Zufall überlassen. Sie gingen auf Kinder, Frauen und Männer nieder, auf Dresdner und auf Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien. Sie fielen auf Soldaten wie auf Kriegsgefangene; auf überzeugte Nazis und Gestapo-Leute wie auf Widerstandskämpfer, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Und so zufällig, wie die Bomben zehntausende Menschenleben auslöschten, so zufällig retteten sie auch einige wenige: Jüdinnen und Juden wie Henny Wolf oder Victor Klemperer rissen sich in jener Nacht den gelben Stern von der Kleidung und konnten im allgemeinen Chaos untertauchen oder fliehen.

Wer den Feuersturm überlebte, der war oft körperlich und seelisch fürs Leben gezeichnet. Das Heulen der Sirenen, das unheilvolle Dröhnen der Flugzeuge und das rote Leuchten am Himmel; die Todesangst und die Enge im Keller; die Einschläge der Bomben, das splitternde Glas und die zerberstenden Mauern; das tosende Feuer, das allen Sauerstoff aus Straßen, Häusern und Trümmerhöhlen sog; die verbrannten Menschen und das Skelett der Stadt – unzähligen Augenzeugen sind die Bilder, Geräusche und Gerüche der Schreckensnacht nie mehr aus dem Kopf gegangen. Angst und Ohnmacht haben sich tief in ihre Seelen gefressen. Und wer in den folgenden Tagen mithalf oder als Zwangsarbeiter mithelfen musste, die entstellten Leichen aus den Ruinen zu bergen, auch den hat das Grauen oft nie wieder losgelassen.

Viele haben ihre Erlebnisse in Notizen, Briefen oder Tagebüchern festgehalten und versucht, die bedrückende Last auf diese Weise zu bannen. Viele haben ihren Kindern und Enkeln davon erzählt. Manche haben erst Jahre später die Kraft gefunden, über ihre Geschichte zu sprechen – ermutigt auch durch ein neues öffentliches Interesse am Bombenkrieg und seinen Folgen, durch die Debatten um Leid und Schuld, die wir verstärkt seit Ende der 1990er Jahre in unserem Land geführt haben.

Hier in Dresden sind es die Stimmen von Dora Baumgärtel und Liesbeth Flade, von Günter Jäckel, Götz Bergander und vielen anderen, die uns von jener Nacht und der anschließenden Not berichten. Viele der Überlebenden sahen ihre Angehörigen nie wieder; hatten ihre Wohnung und ihre persönlichen Erinnerungsstücke verloren; besaßen nur noch das, was sie hatten greifen können, als der Alarm losging. Wer mit dem Leben davongekommen war, der suchte oft verzweifelt Halt auf den Trümmern seiner Heimat.

Manchmal sind es nur wenige Worte, die uns nahegehen. So wie die Worte, die Lina Skoczowsky wenige Tage nach den Angriffen hier in Dresden auf eine kleine Postkarte schrieb:

Lieber Vati! Deine 3 sind zusammen. Alles verloren.

Nicht nur aus Dresden kennen wir solche Stimmen. Wir kennen sie aus allen deutschen Städten, die während des Zweiten Weltkrieges Luftangriffe erlitten, manche immer wieder. Wir kennen sie aus Lübeck und Hamburg, aus Wuppertal und Köln, aus Pforzheim, Würzburg, Darmstadt und Hannover, aus Berlin und Potsdam, Halberstadt und Magdeburg, aus Rostock, Chemnitz und vielen anderen mehr.

Wir kennen ähnliche Stimmen auch aus Städten in Italien und dem besetzten Frankreich, aus Neapel und Genua, Le Havre und Royan. Wir kennen sie aus den Städten Europas, die von der deutschen Luftwaffe zerstört wurden – aus Warschau und Rotterdam; aus London, Coventry und Liverpool; aus Belgrad, Leningrad und vielen anderen mehr. Und wir kennen sie aus Guernica, der baskischen Stadt, die deutsche Kampfflugzeuge der Legion Condor schon 1937 in Schutt und Asche gelegt hatten. Wolfram von Richthofen, der später auch den Angriff auf Wieluń befehligen sollte, notierte damals knapp in sein Tagebuch:

Guernica, Stadt von 5.000 Einwohnern, buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. […] Bombenlöcher auf Straßen noch zu sehen, einfach toll.

Es war auch dieser menschenverachtende Zynismus, der in die Katastrophe führte. Historische Fotos zeugen heute vom Ausmaß der Verwüstung in ganz Europa. Sie führen uns vor Augen, was damals in unseren Städten – auch hier in Dresden – für immer verloren ging. Sie lassen uns ahnen, wie groß die Leistung vor allem der vielen Frauen war, die unmittelbar nach Kriegsende den Wiederaufbau in Gang setzten, oft mit nichts als ihren bloßen Händen. Und ich finde, wir sollten, wir müssen auch heute versuchen, die Angst, den Schmerz und die Verzweiflung der Opfer und Hinterbliebenen des Bombenkrieges zu ermessen. Mein Dank gilt allen, die hier in Dresden und an vielen anderen Orten unermüdlich mithelfen, die Erinnerung an sie lebendig zu halten – und die sich zugleich denen entgegenstellen, die diese Erinnerung missbrauchen wollen, um neuen Hass und neue Ressentiments zu schüren.

Es ist auch das Verdienst dieser engagierten Bürgerinnen und Bürger, dass wir heute sagen können: Die Opfer des Bombenkrieges sind unvergessen. Ihr Leben und ihr Schicksal sind und bleiben eingeschrieben in unsere gemeinsame Erinnerung.

Ich bin überzeugt: Wer sich heute mit der Geschichte seiner Familie oder seiner Stadt im Bombenkrieg auseinandersetzt, der kann auch besser nachempfinden, was auch andere Menschen an anderen Orten erlitten haben. Aufrichtige Erinnerung lehrt uns Mitgefühl. Aufrichtige Erinnerung lässt uns Eigenes wie auch Fremdes sehen und besser verstehen. Sie lässt uns Anteil nehmen am Schicksal aller Opfer von Krieg und Gewalt, und das über nationale Grenzen hinweg. Ich danke allen hier in Dresden, die schon seit Jahren den Blick der Erinnerung weiten und den Austausch mit Städten auf der ganzen Welt suchen, von Coventry bis nach Breslau und Sankt Petersburg.

Wenn wir heute an die Geschichte des Bombenkrieges in unserem Land erinnern, dann erinnern wir an beides: an das Leid der Menschen in deutschen Städten und an das Leid, das Deutsche anderen zugefügt haben. Wir vergessen nicht. Es waren Deutsche, die diesen grausamen Krieg begonnen haben, und es waren schließlich Millionen Deutsche, die ihn führten – nicht alle, aber doch viele aus Überzeugung. Es waren die Nationalsozialisten und ihre willigen Vollstrecker, die den Massenmord an den Juden Europas ins Werk setzten. Und es war das Nazi-Regime, das das Morden auch dann nicht einstellte, als es den Krieg längst verloren wusste. Wir vergessen die deutsche Schuld nicht. Und wir stehen zu der Verantwortung, die bleibt.

Wenn wir heute an den Bombenkrieg erinnern, dann wissen wir auch: Schon damals wurde in Großbritannien und unter den Alliierten die Frage diskutiert, ob die sogenannten Flächenbombardements, bei denen auch zehntausende Soldaten des Bomber Command ums Leben kamen, militärisch sinnvoll, völkerrechtlich erlaubt, moralisch legitim seien. Bis heute beschäftigt diese Frage die Historiker und Philosophen, nicht zuletzt in Großbritannien.

Wir brauchen diesen nüchternen Blick, um zu verstehen, wie es damals zu jener Eskalation der Gewalt kommen konnte. Wir brauchen ihn, um Antworten auf die Frage zu finden, welche Mittel heute geboten und zulässig sein können, um schwere Verbrechen zu beenden. Aber die Frage nach alliierter Schuld führt auf Abwege, wenn sie gestellt wird, um deutsche Schuld zu relativieren. Wenn wir heute der Opfer in den deutschen Städten gedenken, dann geht es uns nicht um Anklage und schon gar nicht um Aufrechnung.

Viel zu oft und viel zu lange ist die Geschichte der Luftangriffe auf Dresden ideologisch zugerichtet und politisch vereinnahmt worden, erst von den Nationalsozialisten, dann vom SED-Regime. Und auch in diesem Gedenkjahr müssen wir erleben, wie politische Kräfte die Geschichte manipulieren, umdeuten und als Waffe missbrauchen wollen.

Deshalb will ich heute deutlich sagen: Wer heute noch die Toten von Dresden gegen die Toten von Auschwitz aufrechnet; wer versucht, deutsches Unrecht kleinzureden; wer wider besseres Wissen historische Fakten verfälscht, dem müssen wir als Demokratinnen und Demokraten die Stirn bieten, dem müssen wir laut und entschieden widersprechen!

Aber ich sage auch: Wer das Leiden der Menschen, der Bombenopfer in dieser Stadt ignoriert oder bagatellisiert; wer die Bombardierung als gerechte Strafe hinstellt oder Gesten der Trauer ins Lächerliche zieht, auch der wird der Geschichte nicht gerecht, auch der verhöhnt die Opfer.

Deshalb lassen Sie uns gemeinsam für ein Gedenken eintreten, das das Leid der Opfer und Hinterbliebenen in den Mittelpunkt stellt und zugleich nach den Gründen für dieses Leid fragt. Lassen Sie uns gemeinsam gegen all jene kämpfen, die Erinnerung als Munition missbrauchen wollen, um ihre ideologischen Schlachten zu schlagen!

Ich freue mich, dass viele engagierte Bürgerinnen und Bürger hier in Dresden diesen Weg seit vielen Jahren gehen. Die Menschenkette, zur der sich auch heute Abend wieder Tausende in dieser Stadt zusammenschließen werden, ist ein ganz starkes Zeichen für ein solches Gedenken im Geist der Verständigung, und ich bin dankbar, dass ich mich nachher gemeinsam mit Ihnen einreihen kann.

Längst haben Sie hier in Dresden nicht nur die Geschichte der Luftangriffe, sondern auch die Geschichte Ihrer Stadt im Nationalsozialismus in den Blick der Erinnerung gerückt – nicht um Leid aufzurechnen, sondern um aus der Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen.

Wir wissen, die Zerstörung der Kulturstadt Dresden geschah nicht über Nacht und nicht nur im Februar 1945. Die Zerstörung der Kulturstadt Dresden begann schon 1933 – so wie die Zerstörung vieler anderer Kulturstätten und Kulturstädte überall in Deutschland. Sie begann, als hier nur wenige Wochen nach der Machtübergabe an Hitler auf offener Straße Bücher verbrannt wurden; als der Dirigent Fritz Busch aus der Semperoper gebrüllt wurde, weil er mit jüdischen und ausländischen Musikern zusammenarbeitete; als Otto Dix und andere zeitgenössische Künstler verjagt und jüdische Wissenschaftler von ihren Lehrstühlen vertrieben wurden.

Die Zerstörung der Kulturstadt Dresden begann, als Regisseure, Schriftsteller, Journalisten, Verleger und viele andere mehr wegen ihrer jüdischen Herkunft oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt und verjagt wurden. Viele, wie die Sängerin Therese Elb und die Schauspielerin Jenny Schaffer-Bernstein, wurden später deportiert und ermordet. Auch hier in dieser Stadt war es ein Fanal, als in der Nacht des 9. November 1938 – viele Jahre vor der Semperoper – die Semper-Synagoge in Flammen aufging.

Die Zerstörung der Vernunft, die Zerstörung der Kultur, die Zerstörung der Bürgergesellschaft begann auch hier in Dresden, als ganz normale Bürgerinnen und Bürger jüdische Geschäfte boykottierten; als sie ihre Nachbarn aus dem öffentlichen Leben, den Schulen, den Parks ausgrenzten; als viele sich dem Nazi-Regime anbiederten oder einfach schwiegen. Mitten in dieser Stadt lebten unzählige Zwangsarbeiter aus Dresden und aus Europa, die Munition und Waffen herstellen mussten. Die Nazi-Justiz ließ am Münchner Platz politisch Andersdenkende ermorden. In Pirna-Sonnenstein wurden kranke und behinderte Menschen vergast. In Zeithain bei Riesa verhungerten sowjetische Kriegsgefangene zu Tausenden.

Auch hier in Dresden führt uns die Erinnerung heran an die Abgründe des Nationalsozialismus. Auch hier in dieser Stadt wurde seit 1933 das menschliche Leben erschreckend oft missachtet, wurde die menschliche Würde erschreckend oft mit Füßen getreten.

Wir gedenken heute auch dieser Opfer, und wir erinnern auch an ihr Leid. Wir tun es nicht, um damit anderes Leid zu rechtfertigen. Aber wir tun es auch, um eine Frage zu stellen, die uns bis heute alle angeht. Die Frage nämlich, wie in einer scheinbar zivilisierten Gesellschaft alle Dämme brechen, alle Regeln von Mitmenschlichkeit und Humanität über Bord geworfen und barbarische Gewalt entfesselt werden konnte.

Die Bombardierung Dresdens erinnert uns an die Zerstörung des Rechtsstaates und der Demokratie in der Weimarer Republik; an nationalistische Selbstüberhebung und Menschenverachtung; an Antisemitismus und Rassenwahn. Und ich befürchte, diese Gefahren sind bis heute nicht gebannt.

Denn wir erleben ja, wie in manchen Ländern die Sehnsucht nach Abschottung, die Faszination am Autoritären wieder zunimmt. Wir erleben, wie mitten in Europa die Freiheit der Presse, der Kunst, der Wissenschaft wieder eingeschränkt wird. Wir erleben, auch in unserem Land, wie Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit das öffentliche Leben wieder zu vergiften beginnen, wie Rechtsstaat und demokratische Institutionen verächtlich gemacht und ihre Repräsentanten beleidigt und angegriffen werden. Wenn gewählte Abgeordnete heute die Parlamente, in denen sie sitzen, vorführen und lächerlich machen, dann ist das der Versuch, die Demokratie von innen zu zerstören.

Es reicht nicht, wenn Demokratinnen und Demokraten erschauern und sich angewidert abwenden. Nichts davon darf in unserem Land unwidersprochen bleiben. Wir müssen Hass und Hetze zurückweisen, Beleidigungen widersprechen, Vorurteilen entgegentreten. Wir alle müssen, so erbittert der politische Streit in der Sache auch sein mag, Diskussionen mit Vernunft und Anstand führen und die Institutionen in unserer Demokratie schützen.

Es verläuft eine klare Grenze zwischen einer freiheitlichen Demokratie, die die Würde des Einzelnen schützt, und einer autoritär-nationalistischen Politik, deren Vertreter Andersdenkende und Anderslebende als Feinde des angeblich wahren Volkes ausschließen wollen. Diese Grenze müssen wir verteidigen, und das ist keineswegs nur ein Auftrag an Politik, das gilt für jeden von uns. Denn wir alle tragen, jeder an seinem Platz, Verantwortung für das Zusammenleben und für die Demokratie in unserem Land. Auch das ist eine Lehre aus dem deutschen Irrweg, der am Ende zur Zerstörung Dresdens geführt hat. Diese Lehre, die sollten wir beherzigen, für eine gute und friedliche Zukunft. Lassen Sie uns dieses Signal heute hier von Dresden aussenden!

In wenigen Monaten erinnern wir uns an das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Nationalsozialismus vor 75 Jahren. Damals, im Mai 1945, gab es für die überlebenden Opfer und Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes erstmals wieder so etwas wie eine Zukunft. Und zugleich schien vielen Menschen auf unserem Kontinent die Lage aussichtslos, und das nicht nur in Deutschland. In den Trümmerwüsten der zerbombten Städte wagte kaum jemand zu glauben, dass Europa noch eine Zukunft haben könnte.

Aber in den Schuttbergen und Ruinen schlug auch ein Wunsch tiefe Wurzeln: Nie wieder!, das war für viele, die den Krieg überlebt hatten, ein Lebensauftrag, ein Auftrag für die Zukunft. Nie wieder!, das war der Anfang einer langen Geschichte von Frieden und Versöhnung in Europa, die damals kaum jemand für möglich gehalten hätte.

Wir vergessen nicht: Schon in den 1950er Jahren streckten Frauen und Männer in Coventry die Hand zur Versöhnung aus, in jener Stadt, die die deutsche Luftwaffe 1940 so schwer verwüstet hatte. Das Nagelkreuz von Coventry, zusammengesetzt aus drei Nägeln der zerstörten Kathedrale, ist bis heute ein ganz starkes Symbol für Frieden und Verständigung.

Und wir vergessen auch nicht, wie viele Briten und Amerikaner nach der Wiedervereinigung unseres Landes mit ihren Spenden zum Wiederaufbau der Frauenkirche hier in Dresden beigetragen haben. Das goldene Kuppelkreuz, gestaltet vom Sohn eines britischen Bomberpiloten, ist ein Zeichen der Versöhnung, das weit über diese Stadt hinausstrahlt.

Ich freue mich, dass wir auch heute gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der ehemaligen Kriegsgegner an die Bombardierung Dresdens erinnern. Das gemeinsame Gedenken verbindet uns, über Grenzen hinweg. Your Royal Highness, Exzellenzen, ich bin dankbar, wir sind dankbar für diese Geste der Freundschaft.

Der Weg, den damals einige wenige gegangen sind, der Weg der Versöhnung, der hat uns nach vielen Jahren in ein gemeinsames Europa geführt. Dieses Europa ist die Lehre aus Jahrhunderten von Krieg und Verwüstung, aus Jahrhunderten von Hass und Gewalt. Es ist entstanden aus dem Geist des Widerstands gegen Rassenwahn und Totalitarismus, aus dem Geist der Freiheit, der Demokratie, des Rechts. Gemeinsam haben wir unglaublich viel erreicht. Wir Deutsche bedauern, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen hat. Aber wir wissen auch, wir bleiben Partner. Unsere Freundschaft ist tief. Was uns verbindet, ist stärker als das, was uns im Streit über die EU zuletzt getrennt hat.

Nach dem schrecklichen Krieg haben die Staaten der Welt Maßstäbe für eine Friedensordnung gesetzt, die auf Menschenrechten und Völkerrecht beruhen sollte. Gerade in einer Zeit, in der der Wille zur friedlichen Zusammenarbeit mancherorts wieder abnimmt, da wollen wir Deutsche unsere historische Verantwortung annehmen und diese Friedensordnung verteidigen, gemeinsam mit unseren Partnern. Denn wir wissen: Jeder Friede bleibt zerbrechlich.

Ich habe im November 2018 in London am Cenotaph, dem Ehrendenkmal von Whitehall, gestanden und gemeinsam mit Prince Charles der Toten des Ersten Weltkrieges gedacht. Ich habe dort einen Kranz niedergelegt, an dem eine kurze Notiz befestigt war:

Ich fühle mich geehrt, hier Seite an Seite zu gedenken, bin dankbar für die Versöhnung und blicke voller Hoffnung auf eine Zukunft in Frieden und Freundschaft.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns diesen Weg der Versöhnung weitergehen. Lassen Sie uns gemeinsam Verantwortung übernehmen für den Frieden. Und lassen Sie uns die Würde eines jeden einzelnen Menschen schützen. Auch und gerade hier in Dresden.

Herzlichen Dank.