Geteilte Geschichte(n): "Von den Kindern der Friedlichen Revolution"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 21. Februar 2020

Der Bundespräsident hat den Journalisten Paul-Jonas Hildebrandt und die Unternehmerin Fränzi Kühne am 21. Februar zum Gespräch "Von den Kindern der Friedlichen Revolution" in seiner Reihe Geteilte Geschichte(n) im Berliner Frannz Club begrüßt: "Heute lebt in unserem Land schon eine ganze Generation, die das geteilte Deutschland, die die umstürzenden Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 nur aus Erzählungen und aus dem Geschichtsunterricht kennt."


Ich bin ostdeutsch das zieht sich hin […]
ich bin ostdeutsch und ziehe
einen Klumpen Hoffnung hinter mir her.

Diese Zeilen stammen aus einem Gedicht, das mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist. Ostdeutsch“ hieß der Gedichtband von Helga M. Novak, als ganz junge Frau aus der DDR nach Island geflohen, ein Gedichtband, in dem sie sich ihre Sorgen in Island von der Seele geschrieben hat. Sie ist später noch zweimal in die DDR zurückgegangen, bis sie endgültig des Landes verwiesen wurde. Aber nie sollte das Ostdeutsche", wie Helga M. Novak geschrieben hat, sie loslassen. Erst nach dem Mauerfall konnte sie zurückgehen in ihren geliebten Osten, in die Nähe von Berlin.

Heute lebt in unserem Land schon eine ganze Generation, die das geteilte Deutschland, eine Generation, die die umstürzenden Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 kaum noch aus der Erinnerung, sondern aus Erzählungen und aus dem Geschichtsunterricht kennt. Um genau die, um die Kinder der Friedlichen Revolution, soll es gehen heute in unserem nunmehr schon fünften Teil der Gesprächsreihe Geteilte Geschichte(n).

In dieser Reihe wollen wir Geschichte und Geschichten miteinander teilen. Unsere Geschichte, die Geschichte des wiedervereinten Deutschland, sie besteht aus vielen, aus vielfältigen Geschichten, und ich glaube, viele Geschichten gerade der Ostdeutschen sind noch nicht erzählt, und wenn sie erzählt worden sind, dann ist nicht ausreichend zugehört worden. Wir möchten gern mit dieser Gesprächsreihe einen Beitrag dazu leisten, dass sich das ändert.

Deshalb will ich Sie, liebe Gäste, ganz herzlich einladen: Haben Sie ruhig Mut und teilen Sie Ihre Geschichten, die Sie erlebt haben, die Sie in Erinnerung haben, mit uns, hier an diesem besonderen Ort, dem Frannz Club! Dieser Ort hat eine ganz eigene Geschichte, eine Geschichte, so variantenreich, dass das einen eigenen Vormittag rechtfertigen könnte. Ich freue mich, dass wir heute hier sein dürfen. Ich darf mich bedanken für die Einladung hierher. Und ich freue mich auch darüber – das ist auch für uns eine Premiere –, dass wir diese Reihe Geteilte Geschichte(n) von jetzt an nicht mehr häufig im Schloss Bellevue machen, sondern dass wir hinausgehen in die Stadt und mit den weiteren Veranstaltungen in Berlin und außerhalb Westberlins präsent sein werden. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.

Wir haben in den bisherigen vier Veranstaltungen schon einen weiten Bogen gespannt, Geschichten gehört von Mut und Glücksmomenten, von Erwartungen und Enttäuschungen, vom Weggehen und Heimkehren, beim letzten Mal ging es, Sie werden es nicht glauben, um Erfolgsrezepte, wo wir Köche aus dem Westen und Osten zu Gast gehabt haben, die anhand ihrer Erfolgsgeschichten beschrieben haben, wie sich Ost- und Westdeutschland auseinanderentwickelt haben und wieder zusammengekommen sind. Und wir haben vor allem über das gesprochen, was die Deutsche Einheit für die Menschen, für den Einzelnen bedeutet hat und immer noch bedeutet. Ich freue mich, dass wir unser Gespräch auch in diesem Jahr, in dem wir auf dreißig Jahre gemeinsame deutsche Nachwendegeschichte zurückschauen, fortsetzen. Und dass wir es künftig an ganz besonderen Orten fortsetzen.

Ich bin ostdeutsch das zieht sich hin, schrieb Helga M. Novak. Sie konnte nicht ahnen, dass wir dreißig Jahre nach dem Mauerfall eine ganz neue Diskussion darüber führen, was das eigentlich ist, das Ostdeutsche. Für viele, die kurz davor oder kurz danach geboren wurden, spielt es keine so große Rolle mehr, ob einer aus dem Osten oder dem Westen kommt. Und es ist ja auch gar nicht mehr so einfach zu definieren, was ein Ostdeutscher und was ein Westdeutscher ist.

Und doch, glaube ich, sind auch die Kinder der Friedlichen Revolution von den Erfahrungen, die ihre Familien, ihre Eltern gemacht haben, geprägt, und diese Prägungen werden an die nächsten Generationen weitergegeben. Und deshalb spielt es immer noch eine Rolle, ob einer im Westen oder im Osten des Landes groß geworden ist.

Diese Prägungen werden weitergegeben an die nächste Generation, an eine selbstbewusste Generation, die forscht, publiziert, die in Netzwerken kommuniziert, die die Frage stellt: Was ist ostdeutsch? Und was bedeutet das für mich? Interessanterweise, das zeigt eine jüngere Studie, verstehen sich fast ein Viertel dieser ostdeutschen Kinder der Friedlichen Revolution in erster Linie als Ostdeutsche – im Westen spielt das eine geringere Rolle. Das Ermutigende an dieser Studie ist, dass man auf beiden Seiten, im Osten wie im Westen, in der jüngeren Generation optimistisch in die Zukunft schaut.

Was ist ostdeutsch – mit dieser Frage beschäftigt sich auch das Buch Nachwendekinder von Johannes Nichelmann, der heute unter unseren Gästen ist. Herzlich willkommen! In dem Buch befragen Sie, inspiriert von der eigenen Familiengeschichte, andere junge Ostdeutsche. Junge Ostdeutsche, die mehr wissen wollen über das Land, das sie gar nicht oder kaum gekannt haben; die Eltern haben, die nie über die DDR gesprochen haben oder sie verklären. Und die oft im Westen immer noch massiven Klischees und Vorurteilen begegnen.

Welchen Blick also haben die Kinder der Friedlichen Revolution auf unser Land? Das wollen wir heute etwas genauer ergründen. Und deshalb bin ich sehr gespannt auf das Gespräch, das Sie gleich führen werden, liebe Fränzi Kühne und lieber Paul-Jonas Hildebrandt.

Herr Hildebrandt, Sie sind Journalist und selbst ein Nachwendekind – eines aus dem Westen. Geboren und aufgewachsen in einem Land, das ich ganz gut kenne, in Niedersachsen. Heute leben Sie in Berlin und schreiben für die Zeit, die taz und andere. Sie selbst können natürlich gar keine Erinnerung an den Mauerfall haben, und auch in Ihrer Familie, so haben Sie es erzählt, haben die Deutsche Einheit und ihre Folgen keine große Rolle gespielt.

Trotzdem, so Ihre Wahrnehmung, fühlt sich unser Land auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall immer noch wie geteilt an, und das brachte Sie auf eine Idee. Als Journalist gingen Sie auf Ostwalz, und zwar zu Fuß. Sieben Wochen und einen Tag waren Sie unterwegs, und Sie haben mit sehr vielen, sehr verschiedenen Menschen gesprochen und das für uns aufgeschrieben. Diese Walz hat Ihren Blick verändert – wie genau, das werden Sie uns nachher erzählen. Herzlich willkommen, lieber Herr Hildebrandt, ich freue mich, dass Sie heute hier sind!

Ich freue mich auch sehr, dass Sie, liebe Fränzi Kühne, heute hier sind! Sie stammen aus Ostberlin und gehören zu den bekanntesten jungen Unternehmerinnen in unserem Land. Mit 25 Jahren gründeten Sie gemeinsam mit zwei Freunden – wunderbarer Titel – eine Agentur Torben, Lucie und die gelbe Gefahr, die erste Digitalagentur in Deutschland. Heute hat TLGG mehr als 200 Mitarbeiter, das spricht für sich – auch wenn Sie, liebe Fränzi Kühne, inzwischen aufgebrochen sind zu neuen Ufern. Was die neuen Ufer sind, was Sie davon erzählen mögen, das entscheiden Sie selbst.

Als die Mauer fiel, waren Sie noch ein Kind, und Sie erinnern sich daran, wie aufgeregt Ihr Vater damals vor dem Fernseher saß. Das Leben Ihrer Familie, so erzählen Sie es, hat sich danach vollkommen verändert, und Sie sagen, zum Positiven. Und obwohl es in Ihrem Umfeld nicht mehr so wichtig war, ob jemand Ost oder West ist, spielt es heute doch eine Rolle für Sie, Ostdeutsche zu sein. Sie haben auch immer im Osten Berlins gelebt und könnten es sich anders gar nicht vorstellen. Liebe Fränzi Kühne, ich freue mich sehr, dass Sie heute hier sind, und wir alle sind gespannt auf Ihre Geschichte!

Und schließlich möchte ich unsere heutige Moderatorin ganz herzlich begrüßen, die Sie alle kennen, auf jeden Fall die, die RBB gucken. Sie sind in Ost-Berlin geboren und waren ebenfalls noch ein Kind, als die Mauer fiel. Und auch Sie erinnern sich gut an Erzählungen Ihrer Eltern über diese Zeit. Berlin, das ist für Sie Heimat, und obwohl Sie in beiden Teilen der Stadt gelebt haben, verstehen auch Sie sich als Ostdeutsche. Ein ganz herzliches Willkommen auch Ihnen, liebe Frau Zerdick!

Liebe Frau Kühne, lieber Herr Hildebrandt, jetzt freuen wir uns auf Ihre Geschichten! Und noch einmal meine ausdrückliche Bitte an alle Gäste: Freuen Sie sich auf das Gespräch der beiden mit Frau Zerdick, aber bereiten Sie sich vor darauf, dass wir anschließend Ihre Geschichten hören wollen. Teilen Sie Ihre Geschichten mit uns, und dafür schon jetzt herzlichen Dank und noch einmal ein herzliches Willkommen an Sie alle!