Zentrale Trauerfeier für die Opfer des Anschlags vom 19. Februar

Schwerpunktthema: Rede

Hanau, , 4. März 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 4. März in Hanau bei der zentralen Trauerfeier für die Opfer des Anschlags vom 19. Februar eine Ansprache gehalten: "Sie waren unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger. Sie waren so viel mehr als das, was der Attentäter in ihnen sah. Für einige der Opfer mag ihre Herkunft bedeutsam gewesen sein, für andere weniger. Längst ist die Realität in unserem Land vielfältiger geworden."


Jedes Wort – zu viel und doch zu wenig. Wer könnte den trösten, dem das Liebste genommen wird

Wir gedenken heute unserer ermordeten Mitbürgerinnen und Mitbürger Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili-Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu sowie der Mutter des Attentäters, Gabriele Rathjen, die ebenfalls zu den Opfern zählt.

Zehn Menschen, zehn Lebensgeschichten, zehn Lebensträume gezielt und brutal ausgelöscht. Der mörderische Terror traf die meisten in einer Shisha-Bar. An einem Ort, wo sie sich sicher fühlten, sich nicht erklären mussten. Sie kehren nicht zurück.

Um sie trauern Partner, Eltern, Kinder, Geschwister, Onkel, Tanten und Cousinen, Freundinnen, Freunde und Kollegen. Mit ihnen trauern die Hanauerinnen und Hanauer und Menschen in ganz Deutschland. Wir alle sind erschüttert über ein terroristisches Verbrechen, einen brutalen Akt mörderischer Gewalt. In unsere Trauer mischen sich Bitterkeit und Zorn.

Nach nur wenigen Tagen stehe ich erneut hier vor Ihnen. Als Mitbürger, um Ihren Schmerz zu teilen. Und als Bundespräsident mit der klaren Botschaft: Jeder Mensch, der in unserem gemeinsamen Land lebt, muss in Sicherheit und Frieden leben können. Unser Staat hat die Pflicht, dieses Recht zu schützen. Dafür muss er mehr tun. Dafür muss er alles tun. Diese Verantwortung tragen zuallererst die Institutionen unseres Landes, diese Verantwortung tragen die Frauen und Männer an der Spitze. Aber eben nicht nur die. Diese Verantwortung tragen wir alle. Wir sind gefordert, zusammenzustehen gegen Hass und Hetze, gegen Terror und Gewalt. Daran werden wir gemessen.

Denn dieses Verbrechen geschah nicht zufällig. Diese Tat hat eine Vorgeschichte. Eine Vorgeschichte der Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit Migrationsgeschichte, von Muslimen, von angeblich Fremden. Eine Vorgeschichte geistiger Brandstiftung und Stimmungsmache. Eine Vorgeschichte des Hasses, der sich in den sogenannten sozialen Medien, aber längst nicht nur da, schonungslos über seine Opfer ergießt. Es ist dieses Klima, in dem die Hetzer immer schamloser werden, immer offener agieren, sich nicht mehr verstecken. Es ist dieses Klima, in dem Terroristen zur Waffe greifen, manche sich sogar gerechtfertigt fühlen zu morden.

Dieser Angriff war ein Angriff auf uns alle. So versuchen wir nach schrecklichen Ereignissen wie denen in Hanau regelmäßig, unsere Solidarität mit Ihnen, mit den Opfern und ihren Angehörigen, auszudrücken.

In den letzten Tagen haben einige von Ihnen, den Betroffenen, den Angehörigen, den Mitgemeinten, lautstark widersprochen: Nein, dieser Angriff galt nicht uns allen. Er galt denen, die dunkle Haare haben, die einen ausländischen Namen tragen, die eine andere Religion haben, in deren Familie es Migration aus dem Süden gab, und sei das schon viele Generationen lang her.

Als Mann mit weißen Haaren und weißer Haut, dessen Vater aus Westfalen, die Mutter aus Breslau nach Westdeutschland kam, muss ich meine Zugehörigkeit zu unserem Land nicht begründen. Ich erlebe nicht, wie mich im Vorbeigehen abschätzige Blicke treffen, wie verletzende Bemerkungen fallen, herabsetzende Witze gerissen werden. Ich erlebe nicht, wie Vorstellungsgespräche, Wohnungssuche und Behördengänge zum Spießrutenlauf werden.

Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, im Alltag ausgegrenzt zu werden – lange bevor es zu Gewalt kommt. Wie entmutigend es ist, ein Leben lang darum zu kämpfen, endlich ganz dazuzugehören. Wie zermürbend, immer und immer wieder – mal bewusst, mal nicht – als Fremder behandelt zu werden.

Und ich darf frei von der Sorge leben, dass meiner Frau, meiner Tochter, meiner Familie Gewalt angetan wird, nur weil sie anders aussehen oder anders glauben.

Aber es ist eben so: Auch wer, diese Erfahrung, wie ich, nicht teilen kann, muss dennoch um sie wissen. Ja, es gibt Rassismus in unserem Land – und das nicht erst seit einigen Wochen. Ja, es gibt eine weit verbreitete Muslimfeindlichkeit. Menschen mit dunklerer Hautfarbe oder mit Kopftuch erleben Diskriminierungen, werden Opfer von Angriffen, von Beleidigungen und von Gewalt. Sie alle haben ein Recht darauf, dass ihre Mitbürger Anteil nehmen, lernen, unterstützen, widersprechen und eingreifen. Sie alle haben ein Recht darauf, dass ihr Staat, wo schützende Gesetze durch menschenfeindliche Handlungen gebrochen werden, hinsieht, verfolgt und bestraft. Sie alle haben das Recht auf einen Staat, der sie schützt.

Der Anschlag galt den angeblich Fremden. Getroffen hat er Menschen. Ganz unterschiedliche Menschen. Männer und Frauen. Musikfans und Sportliebhaber. Menschen, die hier lebten, lachten, weinten, Pläne für die Zukunft schmiedeten. Menschen, die hier aufgewachsen sind, Kinder bekommen haben, gearbeitet, studiert, gefaulenzt haben. Die auf dem Bau gebuckelt, die Gedichte geschrieben haben. Die katholisch, orthodox, muslimisch, evangelisch waren – der eine praktizierend, der andere nur auf dem Papier. Die sich über die Politik geärgert, gefreut, die Köpfe heißgeredet haben. Die gewählt haben, sich einmischten – oder auch nicht. Die der Stolz ihrer Eltern waren und Stützen ihrer Familien und Freunde.

Ferhat war Firmengründer und mochte Rapmusik. Mercedes war eine offene, lebensfrohe Frau und Mutter von zwei Kindern. Sedat besaß eine Bar und konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Gökhan war Maurer und arbeitete als Kellner, er stand kurz vor der Verlobung. Hamza hatte nach erfolgreicher Ausbildung gerade seinen ersten Job angetreten. Said Nesar war Hanauer – immer für die Menschen da, die seine Hilfe brauchten. Kaloyan unterstützte seine Familie, wo er nur konnte, und war Vater eines kleinen Sohnes. Viorel war Kurierfahrer, viel auf Achse – das einzige Kind seiner Eltern. Fatih kam aus Regensburg und wollte sich gerade in Hanau selbstständig machen.

Sie waren unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Sie waren so viel mehr als das, was der Attentäter in ihnen sah.

Für einige der Opfer mag ihre Herkunft bedeutsam gewesen sein, für andere weniger. Längst ist die Realität in unserem Lande vielfältiger geworden. Aus der Spannung von dem schon immer Dagewesenem und dem, was in den Jahren hinzugekommen ist, aus diesem Austausch, aus dem Nebeneinander, hat sich etwas ganz Eigenes und Neues entwickelt, das eben zu uns gemeinsam gehört. Gehen wir deshalb nicht denen auf den Leim, die uns zu spalten versuchen mit dem simplen Schema von wir gegen die.

Denn das ist die Logik des Terrors. Das ist die Logik des Hasses. Menschen in Gruppen zu zwingen. Sie zu reduzieren auf ihre Herkunft, ihre Religion oder ihre Hautfarbe. Ihnen ihre Einzigartigkeit zu nehmen. Die Einzigartigkeit, die eben jeden Menschen ausmacht und die unser Grundgesetz in Artikel 1 schützt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Das genau meinen wir, wenn wir sagen: Dieser Anschlag ist ein Anschlag auf uns alle. Wir alle sind getroffen, wir alle sind verletzt – aber wir alle sind eben auch in der Pflicht.

Es ist ein Anschlag auf unser Grundverständnis von unserem Zusammenleben. Jeder Mensch hat die gleiche Würde, die gleichen Rechte. Es gibt keine Bürger zweiter Klasse und insbesondere keine Abstufungen im Deutschsein.

Es ist ein Anschlag auf unsere Freiheit, denn jeder Mensch bestimmt selbst, wer er ist. Was ihn ausmacht. Zu wem er gehört. Auch wie er sich verändert.

Es ist ein Anschlag auf den gesellschaftlichen Frieden. Wer den Einzelnen nur noch als Teil einer Gruppe sieht, befördert die Spaltung zwischen uns und denen. Denen, den Anderen, die erst zuFremden und dann zu Feinden gemacht werden. Austausch und Verständigung ist nicht mehr möglich, wenn der Fremde zum Feind wird. Hass und Hetze vergiften Debatten und Begegnungen. Am Ende steht Gewalt.

Das ist gemeint, wenn wir sagen: Diese Anschläge treffen uns alle – und wir alle müssen ihnen entgegentreten. Die ganz große Mehrheit der Menschen in Deutschland ist gegen Ausgrenzung und Ressentiments, gegen Hass und Gewalt. Aber es reicht nicht, zu wissen, dass man in der Mehrheit ist. Das Schweigen der Vielen darf nicht zur Ermutigung der Wenigen werden. Nein, die Mehrheit muss sich zeigen, immer wieder, im Verein, am Stammtisch, im Fußballstadion.

Unsere Grundwerte, unsere Freiheit, unser Frieden – sie sind ohne uns nicht gesichert. Demokratie lebt nicht, weil das Grundgesetz sie verordnet. Sie lebt und bleibt, wenn wir sie wollen und bereit sind, uns in ihr zu engagieren – gegen die, die sie infrage stellen oder gar bekämpfen. Wir müssen die Demokratie aktiv verteidigen. Wenn ich sage: Wir, dann: der Staat. Und Ich. Und jeder Einzelne!

Zehn Menschen sind gestorben. Sie haben eine Lücke gerissen, die bleiben wird. In unsere Trauer und unsere Wut mischt sich auch Entschlossenheit. Unsere Botschaft von Hanau in die Republik muss sein: Wir stehen zusammen. Wir halten zusammen. Wir wollen zusammen leben.

Und deshalb hören wir zu. Sehen den Einzelnen. Halten Unterschiede aus. Denn wir alle gehören zu diesem Land.

Auch Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili-Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu. Sie gehörten alle zu uns – jeder auf seine ganz eigene Weise. Als Teil von uns bewahren wir sie in unserer Erinnerung.

Vielen Dank..