Festakt zum 100-jährigen Bestehen der estnischen Botschaft

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 29. Juni 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 29. Juni bei einem Festakt zum 100-jährigen Bestehen der estnischen Botschaft in Berlin, an dem auch die Präsidentin der Republik Estland Kersti Kaljulaid teilnahm, eine Ansprache gehalten: "Estland hat die Hoffnungen Lennart Meris eingelöst. Es hat getan, was kleine Länder in Europa vernünftigerweise tun können: Es hat auf die Gemeinschaft mit anderen gesetzt."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Festakt zum 100-jährigen Bestehen der estnischen Botschaft in Berlin.

Wie schön, hier zu sein und Sie zu sehen. Ich freue mich sehr über diese Einladung. Ich freue mich noch mehr über Ihren Besuch in Deutschland, liebe Kersti Kaljulaid. Wir waren Mitte März hier in Berlin verabredet und mussten unser Treffen drei Tage vorher wegen der sich zuspitzenden Corona-Pandemie absagen. Nun sind Sie mein erster Staatsgast, den ich heute Abend im Schloss Bellevue wieder begrüßen kann. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind!

Persönliche Begegnungen sind unersetzlich. Je länger die Reise- und Kontaktbeschränkungen andauern, desto deutlicher wird uns das bewusst. Wir vermissen ja nicht nur Freunde und Bekannte, wir vermissen auch die unerwarteten, überraschenden Begegnungen, aus denen Freundschaften erst erwachsen.

Die Geschichte dieses Hauses, das vor 100 Jahren die erste Botschaft der Republik Estland in Berlin wurde, ist untrennbar mit einer persönlichen Begegnung verbunden, die bis heute im Verhältnis unserer Länder nachhallt. Als diese Botschaft am 27. September 2001 nach langer Unterbrechung wiedereröffnet wurde, sprach hier ein ehemaliger Bewohner des Hauses: Ihr Amtsvorgänger Lennart Meri.

Er erzählte die Geschichte seines Schulranzens, den er täglich stolz zwischen der Hildebrandstraße Nr. 5 und seiner Schule in der Derfflingerstraße hin und her getragen hatte. Ein Lederranzen, den ihm sein Vater Georg Meri geschenkt hatte, der Legationsrat an der estnischen Botschaft in Berlin war. Als Estland seine Unabhängigkeit 1940 in Folge des Hitler-Stalin-Pakts verloren hatte, musste die Familie Meri Berlin verlassen. Den Schulranzen tauschte sie schließlich gegen Kartoffeln ein – in der sibirischen Verbannung.

Für Lennart Meri schloss sich 2001 ein Kreis: Er war zurück in Berlin, nach 61 Jahren, um als Präsident Estlands die Botschaft in Berlin wiederzueröffnen. Man könnte sagen: Das ist eine ebenso kurze wie inhaltsschwere Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Man kann sie auf vielerlei Arten lesen. Meri las sie optimistisch – wie es seine Art war – als ein Kapitel der europäischen Geschichte, in dem der Kampf um Freiheit und für Demokratie schließlich zu einem glücklichen Ausgang führt. Nicht in eine Welt, die dem Paradies gleich käme. Nein, Meri stellte sich eine Welt vor, in der die Probleme zwar komplizierter werden, aber das menschliche Denken ihnen gewachsen bleibt.

Er hat recht behalten: Dass die Probleme in den vergangenen zwei Jahrzehnten kleiner geworden wären, können wir nicht behaupten. Das 21. Jahrhundert schreibt eigene Geschichten.

Doch es haben sich nicht nur die dunkleren Prophezeiungen bewahrheitet, Estland hat auch die Hoffnungen Lennart Meris eingelöst. Es hat getan, was kleine Länder in Europa vernünftigerweise tun können: Es hat auf die Gemeinschaft mit anderen gesetzt, auf die Europäische Union, auf die Nordatlantische Allianz, und hat damit das Beste aus seiner Lage, aus der Zeit und aus seinen Voraussetzungen gemacht. Estlands Erfolg und Estlands Selbstbewusstsein in den letzten Jahrzehnten sind ein überzeugender Beweis des europäischen Lehrsatzes von Paul-Henri Spaak: Es gibt in dieser, in unserer Gemeinschaft nur kleine Staaten und solche, die noch nicht bemerkt haben, dass sie klein sind.

Entscheidend ist, dass man Ideen hat. Und dass man Wege findet, diese Ideen in die Tat umzusetzen. Wenige haben es so deutlich, aber auch so überzeugend formuliert, wie Sie, Frau Präsidentin, dass Estland Europa etwas zurückgeben will, dass es zum Erfolg des geeinten Europa selbst beitragen will. Und in der Tat ist Estland heute vermeintlich Größeren in vieler Hinsicht voraus. Es hat die Digitalisierung seiner Verwaltung vorangetrieben und profitiert nicht nur selbst von diesem technischen Vorsprung, es lässt andere teilhaben an seinen Erfahrungen. Dank Ihrer Initiative und Ihrem Geschick ist es Estland gelungen, eine der großen Herausforderungen unserer Zeit, die Sicherheit im Cyberraum, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zum Thema zu machen.

Verehrte Frau Präsidentin, neugierig bin ich außerdem auf Ihre Eindrücke von einer Reise, die Sie mir voraushaben: Ihre Reise in die Antarktis Anfang dieses Jahres. Auch die galt ja einem Zukunftsthema, das von der Pandemie eine Weile aus den Schlagzeilen verdrängt, aber deshalb nicht weniger drängend geworden ist: dem Klimawandel. Und sie folgte den Spuren Fabian Gottlieb von Bellingshausens, dem Baltendeutschen von der Insel Saaremaa, der vor 200 Jahren die Antarktis entdeckte.

Liebe Kersti Kaljulaid, manche Reise erfordert Mut, vor allem die in unwirtlichere Gegenden. Sie haben ihn bewiesen, nicht nur in der Antarktis. Estland gewinnt durch dieses Selbstbewusstsein. Europa braucht es.

Frau Präsidentin, ich freue mich auf unsere Begegnung heute Abend, und ich bin dankbar für die Freundschaft zwischen unseren Ländern und zwischen uns persönlich! Möge dieses schöne Haus dieser Freundschaft noch lange seinen Dienst erweisen.