Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht – Entlassung und Ehrung von Johannes Masing sowie Ernennung von Ines Härtel

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 10. Juli 2020

Der Bundespräsident hat am 10. Juli in Schloss Bellevue Ines Härtel zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts ernannt. In seiner Rede sagte der Bundespräsident: "Wir sind auf dem Weg zur Gleichberechtigung ein ganzes Stück vorangekommen – erreicht haben wir sie nicht." Und weiter: "Der Bundesrat hat jedenfalls mit seiner Wahl am 3. Juli ein deutliches Zeichen gesetzt: Er hat eine Frau als Nachfolgerin für Sie, lieber Herr Masing, gewählt."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache zum Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht im Großen Saal in Schloss Bellevue

Nun hat es doch noch vor der Sommerpause geklappt! Meine Hoffnung ist jedenfalls aufgegangen, dass wir uns in doch relativ kurzer Zeit hier in diesem Saal wiedersehen.

Hier in diesem Saal vor ziemlich genau einem Jahr, etwas mehr als einem Jahr, haben wir an die hundertste Wiederkehr der Einführung des Frauenwahlrechts erinnert. Wir hatten ein ausgesprochen interessantes Symposion mit sehr diskussionsfreudigen Gästen. Und deren Botschaft war: Wir sind auf dem Weg zur Gleichberechtigung ein ganzes Stück vorangekommen – erreicht haben wir sie nicht. Es bleibt viel zu tun, und jetzt, ein Jahr später, mitten in der Pandemie sagt die Berliner Soziologin Jutta Allmendinger, dass durch Corona die Gleichberechtigung der Frauen um Jahrzehnte zurückgeworfen würde. Die Frauen seien es, die die Lasten der Pandemie-Bekämpfung namentlich in den Familien zu tragen hätten. Ich hoffe, dass die Prognose von Frau Allmendinger nicht zutrifft.

Der Bundesrat konnte das alles nicht wissen. Er hat jedenfalls mit seiner Wahl am 3. Juli ein deutliches Zeichen gesetzt: Er hat eine Frau als Nachfolgerin für Sie, lieber Herr Masing, gewählt. Christian Rath hat dies in Legal Tribune Online dahingehend kommentiert, nun seien Frauen deutlich überquotiert, weil das Bundesverfassungsgericht nunmehr aus neun Frauen und sieben Männern besteht. Ich kann mich nicht erinnern, wann Journalisten in der Vergangenheit die umgekehrte Situation, die ja bekanntermaßen ununterbrochen galt, als eine Überquotierung von Männern kommentiert hätten? Aber das nur ganz am Rande.

Lieber Herr Masing, bei Ihrer Ernennung zum Richter des Bundesverfassungsgerichts vor zwölf Jahren sagte der damalige Bundespräsident, Sie würden am Bundesverfassungsgericht wieder zu Ihrem Dissertationsthema zurückfinden: Die Fülle von Verfassungsbeschwerden sei Teil der Mobilisierung des Bürgers für das Recht – so der Titel Ihrer Promotionsarbeit. Ich denke, so musikalisch wie Sie sind, können Sie heute ein Lied von den vielen Verfassungsbeschwerden singen, die Sie in zwölf Jahren als Berichterstatter abgearbeitet haben: 4.423 sind gezählt worden!

Verfassungsbeschwerden begründen – so jedenfalls meine Auffassung – das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts bei Bürgerinnen und Bürgern. Und zu diesem Ansehen haben Sie in Ihrem Zuständigkeitsbereich ganz erheblich beigetragen. Denn Sie waren für das Recht der freien Meinungsäußerung, der Informations-, Rundfunk- und Pressefreiheit, für das Allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie weite Teile des Datenschutzrechtes und bis zum letzten Jahr auch für das Versammlungsrecht zuständig. Prominente – politisch bedeutsame – Bereiche, die angesichts der unaufhaltsam fortschreitenden Digitalisierung fast unserer ganzen Lebenswelt heute den Alltag vieler Menschen beeinflussen, die aber auch rechtlich oft neu ausbuchstabiert oder nachjustiert werden müssen.

So hatten Sie sich mit dem Recht auf Vergessen im Internet zu befassen und haben hierzu zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorbereitet, die für Bürgerinnen und Bürger von besonderer Tragweite sind, weil sie den Grundrechtsschutz für Lebenssachverhalte verstärken, die rechtlich durch das Europäische Unionsrecht weithin jedenfalls dominiert werden. Und wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck vorherrscht, das Bundesverfassungsgericht sei besonders europaskeptisch, dann sollte man sich diese Entscheidung etwas genauer anschauen. Denn in den erwähnten Entscheidungen zieht das Bundesverfassungsgericht das Europäische Unionsrecht und namentlich die Europäische Grundrechtscharta neben den deutschen Grundrechten als Maßstab seiner Prüfung in Verfassungsbeschwerden mit heran. Diese Ausdehnung des Prüfungsmaßstabs der Verfassungsbeschwerde hat die Rechtsschutzmöglichkeiten des Bürgers bei unionsrechtlich geprägten Sachverhalten erheblich verbessert. Ich finde: ein echter Fortschritt. Die interpretationshungrige Staatsrechtslehre stehe Kopf, so konnte man lesen, über diese Neuerung würden auf Jahre hinaus lange Aufsätze geschrieben werden. Sie selbst werden noch dazu beitragen.

Nicht ganz so zufrieden wie die Bürgerinnen und Bürger war man vielleicht bisweilen in der Politik mit den von Ihnen als Berichterstatter betreuten Verfahren und Entscheidungen. In Ihr Dezernat fielen Fragen, in denen es im Kern um die Abwägung von Freiheit und Sicherheit geht: Wie weit reichen Datenschutz und Freiheit, wenn es um Verbrechensbekämpfung oder internationalen Terrorismus geht?

Als Berichterstatter mussten Sie sich 2010 mit der Vorratsdatenspeicherung auseinandersetzen, 2013 mit der Antiterrordatei und 2016 mit den neuen Regelungen des BKA-Gesetzes. Und in einer der letzten Entscheidungen, die Sie vorbereitet haben, ging es um die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst. Danach verstößt die Überwachung der Telekommunikation von Ausländern im Ausland durch den BND in der derzeitigen Ausgestaltung durch das BND-Gesetz gegen das grundrechtliche Telekommunikationsgeheimnis und die Pressefreiheit. Aber wer diese Entscheidungen genau zur Kenntnis nimmt, der wird feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht staatliche Sicherheitsinteressen immer anerkannt hat und Möglichkeiten eröffnete, berechtigten Sicherheitsanliegen zu entsprechen. So hat auch hier das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass eine verfassungsmäßige Ausgestaltung der gesetzlichen Grundlagen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung möglich sei.

Lieber Herr Masing, die wenigen Hinweise auf die von Ihnen betreuten und mitgeprägten Verfahren machen deutlich: Sie verkörpern geradezu den freiheitlich-liberalen Geist unseres Grundgesetzes. Und auch Ihre Biographie spiegelt diese Liberalität und Offenheit wieder.

Mit einem Rechtsanwalt als Vater war Ihnen die Juristerei gewissermaßen in die Wiege gelegt. Trotzdem studierten Sie zunächst Sprachen in Grenoble. Zudem zeichnet Sie ein ausgesprochenes musisches Talent aus: Schon bei der Bundeswehr spielten Sie im Heeresmusikkorps, bis heute singen Sie im Chor. Aber besonders beeindruckend ist es für mich, dass Sie neben dem schon anspruchsvollen Studium von Rechtswissenschaft und Philosophie noch im Fach Klavier an der Staatlichen Musikhochschule Freiburg die Diplom-Musiklehrerprüfung und dann an der Musikhochschule Stuttgart die Künstlerische Abschlussprüfung bestanden haben.

Auch Ihrer Sprachbegabung gehen Sie bis heute nach und lernen, auch aus familiärer Verbundenheit, die polnische Sprache. Ich weiß, wie schwer das ist. Ich bin daran gescheitert. Auch wegen dieser gelebten deutsch-polnischen Freundschaft schauen Sie besonders aufmerksam auf die Entwicklung von Justiz und Rechtsstaat in unserem Nachbarland – mit derselben Sorge, die auch mich umtreibt, wie ich aus unseren Gesprächen und Begegnungen im zurückliegenden Jahr weiß.

Schon früh haben Sie sich dem Verfassungsrecht verschrieben und konnten beim Eintritt in das Bundesverfassungsgericht auf eine reiche Erfahrung zurückgreifen. Ihr wissenschaftlicher Berufsweg begann nach den beiden juristischen Staatsexamina 1989 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht der Universität Freiburg. Zugleich arbeiteten Sie als freier Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei. Und besonders inspirierend stelle ich mir die vier Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Dritten Senat bei Ernst-Wolfgang Böckenförde vor. Von 1998 bis zum Sommer 2007 waren Sie ordentlicher Professor in Augsburg, seitdem sind Sie Hochschullehrer in Freiburg. Auch wenn die Lehre in den vergangenen Jahren als Verfassungsrichter etwas in den Hintergrund gerückt sein dürfte, so werden in Freiburg Ihre jährlichen Seminare in Sitten im Wallis nach wie vor gerühmt: Neben dem intensiven wissenschaftlichen Austausch auf der Hütte besitzen auch das Skifahren und das gemeinsame Käsefondue einen besonderen Stellenwert. Die Studierenden in Freiburg werden sich sicher freuen, wieder mehr von Johannes Masing zu haben!

In Karlsruhe dagegen wird man Sie vermissen – als geschätzten Kollegen und unprätentiösen Chef. Bei Ihren Mitarbeitern im Dezernat sind Sie sehr beliebt, weil Sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht nur dienstlich begegnen, sondern auch privat Kontakt zu ihnen pflegen und vor allen Dingen immer ein offenes Ohr für sie haben. Und wenn auch die Teilnahme an den Beratungen des Senats uns allen verwehrt ist, die Diskussionen dort zu den wohl am besten bewahrten Geheimnissen dieser Republik gehören, so wird doch Ihre intellektuelle Schärfe, Ihr Vergnügen am Argument und dem sachlichen Disput gerühmt, Ihr beharrliches und standhaftes Ringen um die richtige Entscheidung.

Lieber Herr Masing, zwölf Jahre sind eine lange Zeit und gehen nun zu Ende. Sie reisen gerne, wie ich gehörte habe, auch in die Mongolei. Für exotische Reiseziele werden Sie etwas mehr Zeit haben. Aber ich bin sicher: Wir werden auch weiter von Ihnen hören, denn Sie werden sich nicht zur Ruhe setzen, sondern der Wissenschaft intensiv verbunden bleiben. Heute darf ich Ihnen als sichtbare Anerkennung Ihrer Verdienste für unseren Staat – nach Überreichung der Ruhestandsurkunde – das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verleihen.

Ich darf Sie, verehrter Herr Masing – gemeinsam mit Herrn Präsidenten Harbarth –, nach vorne bitten.

Liebe Frau Härtel, der Bundesrat hat Sie am vergangenen Freitag zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts als Nachfolgerin von Herrn Masing gewählt. Gewählt hat der Bundesrat eine hochqualifizierte Juristin, die ein Gewinn für das Gericht sein wird. Nicht weniger wichtig finde ich, dass dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung jemand an das Bundesverfassungsgericht kommt, der aus den nun nicht mehr ganz so neuen Ländern stammt. Denn mit Ihnen ist erstmals eine Richterin des Bundesverfassungsgerichts gewählt worden, die auf eine originär ostdeutsche Biographie verweisen kann und diese in ihren Gerichtsalltag einbringen wird. 1972 in Sachsen-Anhalt, in Staßfurt geboren, erlebten Sie zu Abiturzeiten die Wiedervereinigung. Sie studierten Rechtswissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen. Nach dem ersten und zweiten Juristischen Staatsexamen wurden Sie Promotionsstipendiatin der Deutschen Bundesstiftung Umwelt und promovierten mit einem agrar- und umweltrechtlichen Thema. Die Habilitation erfolgte mit einer Arbeit zum Thema Europäische Rechtsetzung im Jahre 2005. Nach wissenschaftlichen Stationen in Göttingen und Bochum gingen Sie an die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und waren deren Vizepräsidentin von 2015 bis 2017. Dort sind Sie Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Verwaltungs-, Europa-, Umwelt-, Agrar- und Ernährungswirtschaftsrecht und leiten die Forschungsstelle für Digitalrecht. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen u.a. im Datenschutzrecht und im Digitalrecht. Auch Kontakte zur Praxis unterhalten Sie als Mitglied des Digitalbeirates des Landes Brandenburg und als Richterin im Nebenamt am Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg.

Sie treten jetzt in den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts ein und werden, wie Ihre Vorgänger auf dieser Position – eine beeindruckende Reihe: Konrad Hesse, Dieter Grimm, Wolfgang Hoffmann-Riem und Johannes Masing –, Sie werden dort die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mitprägen. Unser Rechtssystem steht in der Digitalisierung vor großen Herausforderungen, komplexe Fragestellungen stehen zur Entscheidung an. Ich bin sicher, mit Ihren Forschungsschwerpunkten im Digitalrecht sind Sie gut vorbereitet und werden sich schnell in Ihr neues Amt einfinden. Viel Arbeit wartet auf Sie, liebe Frau Härtel, aber ich bin gewiss, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen Ihnen den Start in Ihr neues Amt leicht machen werden.

Ich darf Sie – gemeinsam mit Herrn Präsidenten Harbarth – nach vorne zur Ernennung und nach der Ernennung dann zur Vereidigung bitten.

Liebe Frau Härtel, im Namen aller, das haben Sie eben gehört, nochmal ganz herzlichen Glückwünsch zu Ihrem neuen Amt!