In seiner trockenen Art hat mein Amtsvorgänger Roman Herzog 1998 einmal eine Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober mit der Bemerkung begonnen:
Die Deutsche Einheit – setze ich als bekannt voraus. Einzelheiten ergeben sich aus dem Bundesgesetzblatt und aus jedem halbwegs aktuellen Atlas.
Nun, das dürfen wir auch heute noch: die Deutsche Einheit als bekannt voraussetzen. Aber langsam scheint für viele im Dunkel der Geschichte zu verblassen, dass diese Einheit eben nicht vom Himmel gefallen ist, sondern zu einer sehr konkreten Zeit von sehr konkreten Menschen erkämpft und gestaltet worden ist.
Die Friedliche Revolution in der DDR und die in ihrer Folge möglich gewordene Deutsche Einheit sind von einer unübersehbaren Zahl von Menschen in der DDR initiiert, ermöglicht und getragen worden. Menschen, die sich für kurze oder längere Zeit engagiert haben, die sich persönlicher Gefährdung ausgesetzt haben, die sich in kleinen Initiativen für eine bessere Zukunft eingesetzt haben – anfänglich mit durchaus ungewissem Ausgang. Oder die sich dann den großen Demonstrationen angeschlossen haben – auch hier noch mit der Möglichkeit des Scheiterns. Viele haben mutig ihr persönliches Schicksal mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für alle verknüpft.
Manchen ist dabei und danach eine Aufgabe zugewachsen, von der sie nur wenige Wochen oder Monate zuvor nicht einmal geträumt hatten. Manche mussten sich plötzlich, ohne jemals an eine politische Karriere gedacht zu haben, in Ämtern und in Aufgaben bewähren, auf die sie in keiner Weise vorbereitet waren und die sie in überzeugender, in pflichtbewusster und in selbstloser Weise zum Wohle aller Mitbürgerinnen und Mitbürger ausgefüllt haben.
Zu den Glücksfällen in den aufregenden Zeiten nach der Öffnung der Mauer und den Umwälzungen in der DDR gehören Sie, Lothar de Maizière. Vielleicht ahnen viele in unserem Land nicht, wie viel der Einigungsprozess Ihrer Nüchternheit, Ihrem klaren Blick, Ihrer Entscheidungsfreude und Ihrem gesunden Menschenverstand zu verdanken hat.
Dazu kommt Ihre pragmatische, auch christlich fundierte Sicht auf den Staat und seine Aufgaben – und auf den Menschen in diesem Staat. Da wir gerade im Hölderlinjahr sind, darf ich noch einmal das Zitat aus Hölderlins Hyperion wiedergeben, das sie in Ihrer Regierungserklärung verwendet haben; wann hat ein Regierungschef schon einmal Hölderlin zitiert?
Sie haben sehr bewusst seinen Satz gewählt: Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.
Und hinzugefügt haben Sie dann selber: Wer den Staat zum Himmel machen will, läuft in die Irre.
Dieser Realismus hat Sie wie wohl kaum jemand anderen dazu befähigt, Ihr Amt so auszuüben, wie Sie es ausgeübt haben.
Zu keinem Moment haben Sie sich Träumen hingegeben, wie sie von nicht wenigen seinerzeit geträumt wurden, etwa von einer reformierten DDR. Sie kannten zu genau die ökonomische, aber auch die geistig-politische Situation in Ihrem Land, um sich auch nur einen Moment solchen Illusionen hinzugeben. Sie haben von vornherein, direkt am Anfang Ihrer Regierungszeit unmissverständlich festgestellt, dass diese Regierung einzig und allein zu dem Zweck existiert, sich selber abzuschaffen.
Es gehört persönliche Größe dazu, ein solches Ziel zu formulieren und daran auch unbeirrbar festzuhalten. Jeder, der einmal in einem solchen hohen Amt ist, als Regierungschef zumal, wird leicht von der Überzeugung der eigenen Unersetzbarkeit korrumpiert. Sie aber haben – und das ist wohl weltgeschichtlich einzigartig – keinen Augenblick daran gezweifelt, dass es Ihre historische Aufgabe war, diese Regierung und somit auch Ihr Amt als Ministerpräsident zu einem Ende zu bringen, um ein einiges, freies, demokratisches Deutschland zu ermöglichen.
Nicht viele Biografien gibt es, die sich in ganz besonderen Momenten oder in wenigen Monaten verdichten. Und es ist natürlich auch nicht ganz gerecht, wenn man ein so langes, inzwischen eben achtzigjähriges Leben vor allem auf eine kurze Zeitspanne fokussiert.
Aber Sie selber werden mir nicht widersprechen, wenn ich sage, dass Ihre Zeit als Ministerpräsident, die sieben Monate vom 18. März bis zum 3. Oktober 1990 die entscheidende Zeit Ihres Lebens waren. Sie selber haben ja zum Beispiel von Ihrer Unterschrift unter den Zwei-plus-Vier-Vertrag gesagt, dass Sie genau in dem Moment gewusst haben, es sei die wichtigste Unterschrift und der glücklichste Moment Ihres Lebens.
Um es pathetisch zu formulieren: Als die Geschichte Sie in einer für unser Land entscheidenden Periode in die Pflicht genommen hat, haben Sie den Ruf angenommen. Sie haben Verantwortung übernommen und in hervorragender Weise getragen, als es auf Sie ankam.
Das ist Ihnen nicht immer gebührend gedankt worden. Ebenso wenig Ihren loyalen Mitstreitern in der Regierung. In einer kürzlich ausgestrahlten Dokumentation über die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen brachten französische und britische Diplomaten noch in der Rückschau die Verwunderung, ja Irritation darüber zum Ausdruck, wie die westdeutsche Delegation die ostdeutsche behandelt hat. Von oben herab und als nicht ganz ernst zu nehmen sei man ihnen von westdeutscher Seite begegnet – das war ihr Eindruck. Manchmal sollen den Ostdeutschen sogar wochenlang wichtige Informationen vorenthalten worden sein.
Viele Verletzungen und noch längst nicht verheilte Verwundungen im Zusammenwachsen der Teile unseres Landes scheinen sich schon damals, in den ersten Monaten gezeigt zu haben. Dass es sogar Vertretern der Vier Mächte aufgefallen ist und diese sich bis heute daran erinnern, ist doppelt peinlich.
Sie selber, Herr de Maizière, haben das gelegentlich mit Ihrem oft sehr erfrischenden schwarzen Humor kommentiert. In der Rückschau vergessen Sie zum Beispiel nicht darauf hinzuweisen, dass die Bundesrepublik durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag die DDR sozusagen in letzter Minute faktisch völkerrechtlich anerkannt hat.
Ich denke, über das, was Sie für Ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger in der DDR, was Sie für unser ganzes Land geleistet haben, kann kein Zweifel bestehen: Sie haben sich um unser Vaterland verdient gemacht.
Ihr Beitrag zur Geschichte bleibt bestehen – bis hin zu jenem 3. Oktober 1990, über den am Morgen danach, um zwei Uhr nachts, der Deutschlandfunk folgende zusammenfassende Nachricht ausstrahlte. Ich denke, Herr de Maizière, dass Sie nichts dagegen haben, wenn ich den Anwesenden noch einmal in Erinnerung rufe, wie diese damals das weltgeschichtliche Ereignis unübertreffbar präzise eingeordnet haben, kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig:
Es ist Donnerstag, der 4. Oktober, zwei Uhr. Hier ist der Deutschlandfunk mit Nachrichten:
Die deutsche Zweistaatlichkeit ist beendet. Um Mitternacht wurde der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland wirksam. Die Volkskammer in Ostberlin hatte diesen Beitritt im August beschlossen. Damit hat die DDR, nach dem Verständnis der ehemaligen Staatspartei SED ein sozialistischer Staat deutscher Nation, zu existieren aufgehört. Das wiedervereinigte Deutschland ist jetzt, 45 Jahre nach dem Ende des Krieges, wieder ein souveräner Staat. Die vier Siegermächte hatten ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes zunächst ausgesetzt. Die endgültige Souveränität tritt in Kraft, wenn die Parlamente der Vier Mächte dies ratifiziert haben werden. Vor dem Berliner Reichstagsgebäude wurde um Mitternacht zum Zeichen der Vereinigung eine große schwarz-rot-goldene Fahne gehisst, vom Rathaus Schöneberg läutete die Freiheitsglocke. An der Zeremonie vor dem Reichstagsgebäude nahmen Bundespräsident von Weizsäcker, Bundeskanzler Kohl und der bisherige Ministerpräsident der DDR de Maizière teil.
Soweit der Deutschlandfunk.
Sie waren nicht nur dabei, Sie haben das alles mit ermöglicht. Dafür können die Menschen im wiedervereinigten Deutschland Ihnen gar nicht genug dankbar sein. Lieber Herr de Maizière, ich bin zusätzlich dankbar, dass Sie mit Familie und Freunden heute hier sind und erhebe mein Glas auf Sie!