Treffen mit Angehörigen der Todesopfer des Anschlags von Hanau

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 23. September 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 23. September bei einem Treffen mit Angehörigen der Todesopfer des Anschlags von Hanau in Schloss Bellevue eine Rede gehalten: "Lassen Sie uns gemeinsam für ein Land streiten, in dem niemand das Gefühl haben muss, weniger wert zu sein. Für ein Land, in dem niemand wegen seines Namens oder seiner Hautfarbe schlechtere Chancen hat. Für ein Land, in dem wir auf unsere Sprache achten, im Internet, auf der Straße, in den Parlamenten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache anlässlich des Treffens mit Angehörigen der Todesopfer des Anschlags von Hanau im Großen Saal von Schloss Bellevue

Ich schaue in Ihre Gesichter, und meine Gedanken gehen zurück zum Abend des 20. Februar. Nur wenige Stunden lag die grauenvolle Bluttat von Hanau zurück. Wir kamen zusammen im Rathaus, um von dort gemeinsam zur Mahnwache zu gehen. Ohnmächtiger Schmerz lag über dem Raum. Wir haben miteinander geschwiegen, auch geweint. Es gab keine Worte, die das Unfassbare hätten beschreiben oder einordnen können. Es ging nur darum, diesen Schmerz gemeinsam auszuhalten. Und das war unerträglich schwer.

Sieben Monate sind seitdem vergangen. Aber der Schmerz ist geblieben. Einige von Ihnen haben inzwischen die Kraft gefunden, über ihr Leid zu sprechen. Über die Nächte, in denen sie die Bilder von der mörderischen Gewalttat nicht loslassen. Über den ersten Gedanken am Morgen, wenn einem wieder und wieder bewusst wird, dass die fehlen, die Sie geliebt haben und die so brutal von Ihrer Seite gerissen wurden: Ihre Tochter oder Schwester, Ihr Sohn oder Bruder, Mutter oder Vater.

Manche von Ihnen können bis heute nicht fassen, was geschehen ist. Oder sie wollen es nicht wahrhaben, weil der Schmerz so unbeschreiblich groß ist. Manche warten noch immer darauf, dass ihr Kind nach Hause kommt. Andere spüren erst allmählich den Verlust und die grenzenlose Leere. Jeder Schritt im Alltag fällt schwer. Und noch schwerer fällt es, in die Zukunft zu schauen – in eine Zukunft ohne die, die man liebte.

Die Corona-Krise hat Sie in der Zeit der Trauer zusätzlich und besonders hart getroffen. Weil Sie sich nicht mehr treffen und austauschen konnten. Weil Sie sich allein, einsam und isoliert gefühlt haben. Aber auch, weil Sie befürchten mussten, die rassistischen Morde, die Opfer und Ihr Leid würden über die Pandemie in Vergessenheit geraten.

Aber, verehrte Angehörige: Wir vergessen nicht. Wir dürfen nicht vergessen, und wir werden nicht vergessen. Das möchten meine Frau und ich Ihnen heute sagen, stellvertretend für die große Mehrheit Ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger in diesem Land. Den Schmerz können wir Ihnen nicht nehmen, auch wenn wir nichts lieber tun würden als das. Aber Sie sollen wissen: Wir stehen an Ihrer Seite. Dieses Land – Ihr Land – steht an Ihrer Seite. Die Herzen unseres Landes sind Ihnen zugewandt.

Was geschehen ist, macht viele Menschen immer noch traurig, wütend und entschlossen. Das haben die Kundgebungen des Mitgefühls und der Solidarität vor wenigen Wochen gezeigt – bei Ihnen in Hanau und in vielen anderen Städten unseres Landes. Und ich hoffe, dass Sie das heute auch hier im Schloss Bellevue spüren können.

Ich weiß, dass manchen von Ihnen die Reise nach Berlin nicht leichtgefallen ist. Dass Sie dennoch gekommen sind, ehrt uns. Wir wollen heute gemeinsam der Menschen gedenken, die Sie und wir alle am 19. Februar verloren haben. Und wir wollen hören, wie Sie die schwere Zeit der Trauer ertragen haben, ob Sie den Beistand hatten, den Sie brauchten und erhofften.

Wir erinnern uns an neun Menschen, neun junge Leben. An eine Frau und acht Männer, die an ihrer Zukunft bastelten, für ihre Träume kämpften, für andere da waren. Sie hatten noch so viel vor in ihrem Leben. Und sie alle hatten eines gemeinsam: Sie verstanden sich als Hanauer – ganz egal, woher sie oder ihre Familien einmal gekommen waren, woran sie glaubten, woran sie Freude hatten.

Ihr Tod hat eine große Lücke gerissen. Und diese Lücke bleibt. Niemand weiß so gut wie Sie, was diese neun Menschen in ihrer Persönlichkeit ausgemacht hat. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie uns von ihnen erzählt haben, dass wir ihre Gesichter sehen konnten. Wir vergessen sie nicht. Und wir hören nicht auf, ihre Namen zu sagen:

Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Vili-Viorel Păun, Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Kaloyan Velkov.

Wir denken heute auch an Behçet Gültekin, den Vater von Gökhan. Ich durfte ihn noch kennenlernen. Er erlag nur wenige Wochen nach der Tat seiner schweren Krankheit. Der Tod seines Sohnes hat ihm die letzte Kraft genommen.

Neun Menschen sind tot, weil ein rassistischer und rechtsextremistischer Attentäter in ihnen Ausländer sah. Sie wurden erschossen, weil sie dunkle Haare hatten oder sich in einer Shisha-Bar aufhielten. Einer von ihnen, Vili-Viorel Păun, hat offenbar versucht, den Täter zu verfolgen und aufzuhalten. Nach allem, was wir wissen, waren es auch sein Mut und sein Wille, andere zu schützen, die ihn das Leben kosteten.

Der Attentäter wusste nichts von seinen Opfern. Er griff sie stellvertretend an. Ziel seines mörderischen Hasses waren Menschen mit Migrationsgeschichten. Menschen, deren Eltern oder Großeltern aus dem Süden oder Osten nach Deutschland gekommen waren. Menschen, die er als anders empfand, als fremd, die er in seinem verquasten Weltbild als nicht deutsch, als nicht dazugehörig verachtete.

Seine Tat offenbart die kalte und blinde Logik des Rassismus und aller anderen menschenverachtenden Ideologien. Wer Menschen aufgrund irgendwelcher Merkmale in Gruppen zwingt und abwertet, wer sie auf ihre Herkunft, ihren Glauben, ihr Geschlecht oder ihre Lebensanschauung reduziert, wer ihnen ihre Einzigartigkeit nimmt, stellt sich gegen das Lebensprinzip unserer Demokratie. Die Würde des Menschen, jedes einzelnen Menschen, ist unantastbar. Sie steht unter dem Schutz unseres Grundgesetzes.

Die Terrortat von Hanau traf neun einzigartige Menschen. Neun Menschen, die keine Fremden waren, sondern Teil dieser Gesellschaft. Sie alle gehörten zu diesem Land, jeder mit seiner ganz eigenen Prägung. Ihre Geschichten führen uns vor Augen, dass in unserer Einwanderungsgesellschaft längst eine junge Generation herangewachsen ist, in der sich die unterschiedlichsten Lebenswelten vermischt haben. Eine junge Generation, für die längst nicht mehr entscheidend ist, woher jemand kommt, sondern wofür er steht und wohin er will. Rassistische Zuschreibungen sind menschenfeindlich, und sie werden der Lebenswirklichkeit in unserer vielfältigen Gesellschaft nicht gerecht.

Wir gegen die, die gegen uns – das ist die Sprache des Hasses. Es ist die Sprache der Herabwürdigung, einer Herabwürdigung, die den Boden für Gewalt bereitet. Es ist die Sprache derer, die Menschen gegeneinander aufhetzen und unsere Gesellschaft spalten wollen. Wir müssen unsere Stimme erheben und solidarisch sein, wann immer Menschen in unserem Land in ihrer Würde verletzt werden. Das sind wir den Opfern des 19. Februar schuldig.

Die meisten Menschen in diesem Land sehen die neue deutsche Vielfalt als Bereicherung. Sie wollen zusammenleben, und sie tun es tagtäglich – bei Ihnen in Hanau, hier in Berlin und an vielen anderen Orten der Republik in gleicher Weise. Die Verschiedenen begegnen sich in Kitas und Schulen, in Werkstätten und Büros, in Cafés und Sportvereinen. Und sie – und wir alle – lernen hoffentlich immer besser, Unterschiede auch mal auszuhalten und Konflikte auszutragen, im respektvollen Gespräch auf Augenhöhe.

Aber wir wissen auch: Der rassistische Terror von Hanau kam nicht aus heiterem Himmel. Es gibt Rassismus in unserem Land, es gibt Muslimfeindlichkeit, und es gibt Antisemitismus. Auf offener Straße werden Menschen beleidigt, bedroht, angegriffen und ermordet, weil sie eine dunkle Hautfarbe haben, in einer Moschee beten oder eine Kippa tragen. Die Wurzeln des Rechtsextremismus reichen tief in unsere Gesellschaft hinein. Das ist ein ernstes und drängendes Problem. Wir dürfen es auch in Zeiten von Corona nie aus den Augen verlieren.

Sie alle, verehrte Angehörige, wissen, wie es sich anfühlt, abgestempelt und ausgegrenzt zu werden. Liebe Frau Kurtović, Sie haben gesagt: Rassismus und Diskriminierung sind Alltag für uns, obwohl wir uns erfolgreich integriert haben und uns selbst als Deutsche sehen. Da schwingt tiefe Enttäuschung mit. Sie haben gekämpft, um dazuzugehören. Sie haben viel geleistet für diese Gesellschaft. Und dann sind Sie in den Augen mancher doch wieder nur die Ausländer. Ich kann verstehen, wie bitter das ist, wie wütend es macht, auch wenn ich es selbst nicht erleben muss.

Als Bundespräsident stehe ich an Ihrer Seite, an der Seite aller Menschen, die Ausgrenzung und Diskriminierung erleben. Lassen Sie uns gemeinsam für ein Land streiten, in dem niemand das Gefühl haben muss, weniger wert zu sein. Für ein Land, in dem niemand wegen seines Namens oder seiner Hautfarbe schlechtere Chancen hat. Für ein Land, in dem wir auf unsere Sprache achten, im Internet, auf der Straße, in den Parlamenten.

Die Erinnerung an den Anschlag in Hanau und die vielen anderen Akte rechtsextremistischer Gewalt macht uns umso entschlossener. Immer wieder haben rechte Terroristen versucht, unsere demokratische Einwanderungsgesellschaft mit blutigen Attacken zu erschüttern. Am Samstag nehme ich in München an der Gedenkfeier für die Opfer des Oktoberfestattentats vor vierzig Jahren teil. Und am 9. Oktober besuche ich Halle, ein Jahr nach den furchtbaren Anschlägen dort, die Juden und Muslimen galten und bei denen zwei Menschen starben, die weder das eine noch das andere waren.

Wir vergessen die Toten nicht. Und die Erinnerung fordert und verpflichtet uns. Es ist die Pflicht unseres Staates und seiner Sicherheitskräfte, jeden Menschen in unserem Land zu schützen, unabhängig von seiner Herkunft, seinem Glauben, seiner Hautfarbe. München, Halle, Hanau mahnen uns, alles zu tun, was wir tun können, um solche Anschläge in Zukunft zu verhindern. Und sie mahnen uns, noch mehr zu tun, damit niemand in unserem Land sich ungeschützt fühlen muss.

Aber nicht nur der Staat, auch jeder Einzelne ist gefordert im Kampf gegen Hass und Gewalt. Wir müssen Hilfe anbieten und wachsam sein, wenn Menschen in unserem Umfeld Verschwörungsmythen anheimfallen, sie fördern und sich zurückziehen. Wir müssen uns einmischen, wenn Menschen im Alltag verächtlich gemacht werden. Und wir müssen uns klar abgrenzen, wo auch immer Rechtsextremisten aufmarschieren. Wer gleichgültig neben ihnen herläuft, macht sich mit ihnen gemein.

Ich bin froh, dass so viele Menschen in unserem Land Farbe bekennen gegen Rassismus. Dass sie auch in Zeiten von Corona hörbar und sichtbar geblieben sind. Auch Sie, verehrte Angehörige, haben sich in den vergangenen Wochen für den Zusammenhalt starkgemacht. Nach allem, was Sie erlitten haben, ist das nicht selbstverständlich. Ich finde, Ihr Engagement sollte alle beschämen, die in Deutschland weiter Hass und Hetze verbreiten. Und es sollte alle anstecken, die sich noch nicht gegen Menschenfeindlichkeit engagieren.

Liebe Frau Unvar, ich möchte zum Schluss die eindrucksvollen Worte zitieren, die Sie vor einem Monat bei der Gedenkkundgebung in Hanau gefunden haben. Unsere Kinder, haben Sie gesagt, dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss das Ende sein, das Ende rassistischer Angriffe. Ihr Tod soll der Anfang sein von etwas Neuem, von Schulen ohne Rassismus und von einem Zusammenleben, in dem wir alle gleiche Rechte haben. […] Wenn wir das geschafft haben, werde ich am Grab meines Sohnes stehen und sagen: Das war Dein Kampf, und Du hast es geschafft.

Liebe Frau Unvar, verehrte Angehörige, lassen Sie uns gemeinsam für dieses große Ziel kämpfen: für eine Gesellschaft ohne Rassismus, ohne Hass und Gewalt. Wir stehen zusammen. Wir halten zusammen. Und wir wollen zusammenleben. Das ist und bleibt die Botschaft von Hanau.