Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag des Oktoberfestattentats

Schwerpunktthema: Rede

München, , 26. September 2020

Der Bundespräsident hat am 26. September bei der Gedenkfeier zum Oktoberfestattentat vor 40 Jahren in München eine Rede gehalten: "Wegschauen ist nicht mehr erlaubt. Nicht nach dem Oktoberfestattentat, nicht nach dem NSU-Prozess, nicht nach den Drohschreiben von NSU 2.0, nicht nach Waffenfunden und Feindeslisten sogenannter Preppergruppen mit Verbindungen zu Reservisten der Bundeswehr und Angehörigen von Sicherheitsbehörden, nicht nach der Aufdeckung einer rechtsextremen Chatgruppe innerhalb der Polizei in Nordrhein-Westfalen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Gedenkfeier zum 40. Jahrestag des Oktoberfestattentats beim Denkmal für die Opfer des Anschlags am Haupteingang der Theresienwiese in München

Vier Jahrzehnte sind seit dem Anschlag auf das Oktoberfest 1980 vergangen. Fast zwei Generationen und viel Geschichte liegen zwischen diesem 26. September und heute. Aus zwei deutschen Staaten ist inzwischen einer geworden. Nächste Woche werden wir dreißig Jahre Einheit feiern. Eine Ewigkeit scheint vergangen. Und doch ist uns dieser furchtbare Tag nah. Sein Schrecken ist uns allen wieder nah, gerade jetzt, nach dem Mord an Walter Lübcke, nach den Taten von Halle und Hanau.

Aber vor allem für Sie, für die Opfer und Hinterbliebenen bleibt dieser 26. September 1980 unendlich nah, ein unauslöschbares Datum. Ein tiefer Einschnitt, ein Schmerz, der nicht vergeht. Niemand entkommt dem Schatten, den der Terror über ein Leben legt. Auf den Opfern, auf Ermittlern, Politikern, Anwälten und Staatsanwälten, auf ihnen allen lasten die vergangenen vierzig Jahre.

In ganz besonderer Weise aber auf Ihnen, den überlebenden Opfern, den Angehörigen, die Kinder, Mütter oder Väter verloren haben.

Wie soll ein Siebenjähriger das Bild seiner schwerverletzten Mutter vergessen? Den Eindruck der Hilflosigkeit, den sein Vater, den die Erwachsenen um ihn herum damals auf ihn machten? Wie sollte er den Feuerwehrmann vergessen, der mit ihm das Vaterunser beten wollte?

Wie soll eine leidenschaftliche Bergsteigerin, der die Bombe Fuß und Rücken zerfetzte, vergessen, dass sie in den langen Jahren nach dem Attentat Berggipfel nur noch auf Fotos sah und stattdessen mühsam wieder laufen lernen musste?

Und vor allem: Wie leben die Mütter, Väter und Kinder weiter, deren Liebste ums Leben kamen? In deren Leben eine Lücke gerissen wurde, die niemals wieder zu schließen war? Die den Schmerz um ihren Verlust tragen mussten und die Wut darüber, dass ihre Fragen unbeantwortet blieben; Fragen nämlich, wer ihnen diesen Schmerz zugefügt hat und warum?

Ja, vierzig Jahre später müssen wir beschämt eingestehen: Viele Fragen sind offengeblieben. Fragen, die ein sorgfältiges Ermittlungsverfahren hätte beantworten müssen. Fragen, die im ersten Anlauf aber nicht beantwortet wurden und die im zweiten nicht mehr beantwortet werden konnten. Diese offene Wunde bleibt. Umso mehr sind wir heute in der Pflicht, den Überlebenden jenseits der strafrechtlichen Ermittlungen beizustehen. Wie leben sie, wie geht es ihnen heute? Wer lindert ihre Schmerzen, wer hilft ihnen im Alltag?

Auch diese Fragen wurden lange nicht gestellt oder blieben unbeantwortet. Sie waren Gegenstand jahrzehntelanger Auseinandersetzungen und Quelle vieler Enttäuschung und Verzweiflung bei den Angehörigen und Opfern.

Ich bin deshalb froh und dankbar, dass die Betroffenen nach vierzig Jahren nun – über bisher Geleistetes hinaus – eine finanzielle Unterstützung erhalten, auf die sie schon so lange gewartet haben. Herr Oberbürgermeister, Sie haben es angesprochen. Der Fonds in Höhe von 1,2 Millionen Euro, den der Bund, der Freistaat Bayern und die Landeshauptstadt München jetzt einrichten werden, ist ein spätes, aber ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Opfern.

Über die praktische Solidarität hinaus haben wir eine zweite Verpflichtung: nicht zu vergessen. Die Erinnerung wachzuhalten. Gemeinsam zu trauern und zu gedenken. Und deshalb danke ich an erster Stelle Ihnen, den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer, von Herzen dafür, dass Sie heute hier sind, dass Sie zu uns und mit uns sprechen. Wir brauchen Ihr Wort und Ihr Zeugnis, wenn wir an die Opfer dieses Anschlags erinnern, an die Toten wie an die Überlebenden.

Ich danke der Stadt München und der Gewerkschaftsjugend, die diese und vorangegangene Gedenkveranstaltungen möglich gemacht haben.

Ich danke Ulrich Chaussy, der in den vergangenen vierzig Jahren keine Ruhe gegeben hat, der sich nie mit den Widersprüchen zwischen Zeugenaussagen, Indizien und Ermittlungsergebnissen abfinden wollte und trotz aller Widrigkeiten weiter bohrte und weiter recherchierte.

Mein Dank gilt Werner Dietrich, der als Vertreter der Nebenklage den Opfern eine Stimme gegeben, unermüdlich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens gestritten und sie schließlich – im dritten Anlauf – erreicht hat.

Ja, und ich danke auch dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann und der bayerischen Staatsregierung dafür, dass sie diese Wiederaufnahme des Verfahrens unterstützt haben.

Meine Damen und Herren, mein Dank gilt Ihnen allen, weil Sie getan haben, was in Ihrer Macht steht, um den blinden Fleck des Geschehens auszuleuchten und zur Aufklärung der Hintergründe beizutragen. Die wieder aufgenommenen Ermittlungen konnten die offenen Fragen zwar nicht mehr beantworten. Aber sie haben zu einer klaren Einordnung des Generalbundesanwalts geführt: Der Anschlag auf das Oktoberfest 1980 war ein rechtsterroristischer Anschlag. Diese Erkenntnis macht einen Unterschied. Wie jede Erkenntnis macht sie uns freier. Sie war notwendig – und sie war ein Gewinn.

Denn die unzureichende Aufklärung dieser Terrortat schmerzt nicht nur die Opfer von damals. Auch unser demokratisches Gemeinwesen, unser Rechtsstaat trägt eine Wunde davon – bis heute. Die Verbindungen des Attentäters Gundolf Köhler zur rechtsradikalen Wehrsportgruppe Hoffmann waren schon 1980 bekannt.

Nach der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens 2014 aber fehlten die Asservate für eine Beweisführung, etwa durch DNA-Anhaftungen. Es fehlten wichtige, vielleicht entscheidende Beweismittel. Eine Tatbeteiligung der Wehrsportgruppe Hoffmann oder anderer rechtsextremer Netzwerke konnte nicht mehr nachgewiesen werden. Nichtaufklärung, wo Aufklärung möglich und nötig gewesen wäre, ist unentschuldbar und ein Versagen, das das Vertrauen in Ermittlungsbehörden und Justiz berührt.

Nie sollte sich in Deutschland Vergleichbares wiederholen! Diese Erkenntnis hätten wir uns doch zumindest, alle gemeinsam, als Lehre aus München gewünscht. Ein Wunsch, der sich nicht erfüllen sollte. 2011 erfuhren wir von der Mordserie des NSU. Zehn Menschen waren aus rechtsextremen Motiven ermordet worden, ohne dass je ernsthaft in diese Richtung ermittelt worden war.

Sind rechtsextreme Netzwerke in der Strafverfolgung zu selten wahr- und noch weniger ernst genommen worden? Die Geschichte rechtsextremer Straftaten und Mordanschläge in unserem Land lässt zwei Antworten zu. Entweder hat sich die Erkenntnis, dass auch diese Attentäter ein Umfeld haben, in Netzwerke eingebunden sind oder sich von ihnen inspirieren lassen, erst spät, zu spät durchgesetzt, oder diese Erkenntnis wurde bewusst missachtet.

Wenn wir den Opfern des Attentats vor vierzig Jahren gerecht werden wollen, dann muss das Gedenken an sie auch ein Nachdenken über uns sein, ein Nachdenken über Fehler, über Versäumnisse und über blinde Flecken bei der Aufklärung rechtsextremistischer Anschläge in der Vergangenheit.

Zu diesem Nachdenken gehört es zu fragen, ob es typische, sich wiederholende Defizite in der Strafverfolgung gab und möglicherweise noch immer gibt.

Wir wissen: Rechtsextremistische Netzwerke existieren. Die Mordserie des NSU hat Licht in diesen toten Winkel der Strafverfolgung gebracht. Sie hat – auch im Urteil von Sicherheitsbehörden – gezeigt, dass Ermittlungen ins Leere laufen, wenn sie nicht, wie es sein sollte, vorbehaltlos erfolgen, sondern von Befangenheit und Vorurteilen geleitet werden. Sie hat gezeigt, dass Opfer und Täter verwechselt werden, wenn Ermittler Ressentiments folgen; dass Tatmuster und Hintergründe nicht erkannt werden, wenn Ermittlungsbehörden ihre Erkenntnisse nicht austauschen.

Fehler wie diese können Strafverfolgung in ihr Gegenteil verkehren. Ja sie gefährden den demokratischen Rechtsstaat. Deshalb müssen wir sie erkennen und korrigieren – mit allem Nachdruck und mit aller Ernsthaftigkeit.

Denn die Täter und Mittäter, die aus rassistischen, menschenverachtenden Motiven handeln, die Hass, Gewalt und Bomben einsetzen, die Serienmorde begehen, die ihre Opfer verhöhnen und die Verantwortung für ihre Taten leugnen, die haben ein Ziel. Dieses Ziel sind wir alle. Es ist unser Gemeinwesen, die Gesellschaft, unsere freiheitliche Ordnung – eine Ordnung, die sie als System verhöhnen –, die zerstört werden soll. Ihr Ziel ist es, uns das Fürchten zu lehren.

In diesen Hinterhalt lassen wir uns nicht zwingen. Wir erkennen die Bedrohung und überwinden die Angst. Wir stehen zusammen und helfen den Opfern und den Hinterbliebenen, sich wieder sicher und aufgehoben zu fühlen in unserer Mitte.

Denke ich an den Herbst 1980, in dem der Anschlag auf das Oktoberfest verübt wurde, dann erinnere ich mich an den Film von Margarethe von Trotta, der nur wenig später in die Kinos kam: „Die bleierne Zeit“.

Die Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer, das Drama um die entführte Lufthansa-Maschine Landshut und die Selbstmorde der führenden Mitglieder der RAF – all das lag im Oktober 1980 gerade drei Jahre zurück. Der Deutsche Herbst, wie diese bedrückende Zeit im September und Oktober 1977 bis heute heißt, legte sich lange lähmend und bleiern auf unser Land.

In dieser aufgerauten Atmosphäre wurde 1980 ein neuer Bundestag gewählt. Wer diese Zeit miterlebt hat, erinnert sich an einen extrem polarisierten Wahlkampf, bestimmt von harten rhetorischen Zweikämpfen und einem bis aufs Äußerste gereizten politischen Klima.

Die Kontrahenten hießen Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt. Zwei Männer, die politische Gegner waren und einander dennoch, wie wir heute wissen, achteten.

Im Wahlkampf 1980 wäre niemand auf die Idee gekommen, dass ihre politische Gegnerschaft eines Tages in eine persönliche Wertschätzung münden würde. Die erbitterten Auseinandersetzungen, die sich Schmidt und Strauß in diesem Wahlkampf lieferten, noch mehr aber die Tumulte und Krawalle, die diesen Wahlkampf begleiteten, ließen eine solche Vorstellung nachgerade unmöglich erscheinen. Zu schroff schienen die Gegensätze, zu verletzend die Rhetorik, zu tief das Zerwürfnis – zwischen den Personen und zwischen den politischen Lagern.

In dieser aufgeheizten, feindlichen Atmosphäre zündete der Attentäter vom 26. September 1980 die Bombe – neun Tage vor dem Wahltermin.

Auch vierzig Jahre später dringen die Bilder aus dem Gedächtnis hervor: das Chaos, die Schreie, das Blut. Zwölf Menschen wurden ermordet, 213 verletzt, viele von ihnen so schwer, dass sie tagelang in Münchner Krankenhäusern um ihr Leben rangen. Das Oktoberfest ging weiter. Es wurde nur am Tag der Trauerfeier für 24 Stunden unterbrochen.

Die politischen Auseinandersetzungen aber ruhten nicht einmal für eine Stunde. Sie nahmen an Schärfe noch zu. Die verbliebenen Tage bis zur Bundestagswahl am 5. Oktober bestimmte dann zusätzlich der Parteienstreit um die politische Verantwortung für das Attentat – die Instrumentalisierung des Anschlags im Wahlkampf in beide Richtungen. Beide Seiten wiesen einander eine Mitverantwortung für das Attentat zu und drohten mit Verleumdungsklagen.

Es ist diese Situation, die ich meine, wenn ich vom Hinterhalt des Terrors spreche. Attentäter morden skrupellos. Ihre Opfer sind ihnen nur Mittel zum Zweck. Der Zweck aber ist erst dann erreicht, wenn das Ziel der Zerstörung – die politische Ordnung – die beabsichtigte Reaktion zeigt. Das Ziel des rechtsextremistischen Terroranschlags vor vierzig Jahren war genau das, was eintrat: dass Demokraten miteinander im Streit um die Verantwortung für den Terrorakt liegen. Schlimmer noch, dass sie einander die Schuld dafür zuweisen.

Dass dieser Streit, diese gegenseitigen Schuldzuweisungen – jedenfalls unter den demokratischen Parteien unseres Landes – überwunden sind, spricht für die demokratische Kultur und die Zivilität unseres Landes. Ob die Lektion dauerhaft gelernt ist, ist offen. Das hängt davon ab, ob die demokratischen Parteien untereinander den wichtigen Unterschied zwischen Gegnerschaft und Kontroverse einerseits und Feindschaft, Hass und Verachtung andererseits auch in Zukunft respektieren. Kontroverse und auch scharfe Konfrontation braucht jede Demokratie, das ja. Häme, Hass und Verachtung aber schaffen ein Klima, in dem einige sich zur Anwendung von Gewalt ermuntert sehen.

Diese Bedrohung ist vierzig Jahre nach München nicht kleiner geworden. Vor drei Tagen habe ich in Berlin mit Angehörigen der Opfer der kaltblütigen Morde von Hanau gesprochen. In zwei Wochen jährt sich der Anschlag auf die Synagoge in Halle.

Halten wir deshalb die Erinnerung an München wach – auch an die Fehler, die gemacht worden sind. Nur wer seine Fehler kennt, kann sie auch korrigieren. Denn auch für Hanau und Halle gilt: Wir mögen die konkreten Täter kennen. Aber das befreit uns eben nicht von der Verpflichtung, ihre Motive zu ergründen, ihr Umfeld zu ermitteln und die Netzwerke zu durchleuchten, mit denen sie in Verbindung standen.

Wegschauen ist nicht mehr erlaubt. Nicht nach dem Oktoberfestattentat, nicht nach dem NSU-Prozess, nicht nach den Drohschreiben von NSU 2.0, nicht nach Waffenfunden und Feindeslisten sogenannter Preppergruppen mit Verbindungen zu Reservisten der Bundeswehr und Angehörigen von Sicherheitsbehörden, nicht nach der Aufdeckung einer rechtsextremen Chatgruppe innerhalb der Polizei in Nordrhein-Westfalen.

Für mich ist klar: Alarmismus bringt uns nicht weiter. Aber Selbstberuhigung ist eine Gefahr. Es geht um die Integrität unserer rechtsstaatlichen Institutionen. Die müssen wir schützen – um der Zukunft unserer Demokratie willen!

Ich vertraue unserer Polizei. Ich vertraue den vielen Beamtinnen und Beamten, die täglich für Recht und Demokratie einstehen und die stolz darauf sind, die Freiheit zu schützen. Viele habe ich getroffen und gesprochen. Ich weiß, was sie leisten. Sie brauchen dieses Vertrauen, und sie verdienen es. Feinde der Freiheit und der Demokratie dürfen in der Polizei nicht geduldet werden. Es muss jede Anstrengung unternommen werden, rechtsextreme Netzwerke zu enttarnen, wo es sie gibt. Die Polizeiführungen und die politisch Verantwortlichen dürfen kein Klima dulden, in dem solche Netzwerke entstehen und von anderen gedeckt werden können.

Das ist unser gemeinsames Interesse. Aber ich bin überzeugt: Es entspricht auch dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten, dass ihr Ansehen und das in sie gesetzte Vertrauen nicht von Verfassungsfeinden in den eigenen Reihen beschädigt werden.

Der Rechtsextremismus hat tiefe Wurzeln in unserer Gesellschaft. Die Erinnerung an die vielen auch nach 1980 verübten rechtsextremistischen Terrortaten und an die große Zahl ihrer Opfer muss einen angemessenen Platz finden im kollektiven Gedächtnis unseres Landes. Der heutige Tag sollte uns Anlass sein, diese Erinnerung zu fördern und wachzuhalten.

Die rechtsterroristischen Mordtaten der vergangenen Jahrzehnte waren nicht das Werk von Verwirrten. Die Täter waren eingebunden in Netzwerke des Hasses und der Gewalt oder ließen sich von ihnen zu ihren Taten anstiften. Diese Netzwerke müssen wir aufspüren. Wir müssen sie bekämpfen – entschiedener als bisher!