Ich habe Besseres zu tun
, hat Professor Drosten auf eine Interviewanfrage gesagt. Und man könnte auf die Idee kommen, dass dieser Satz heute auf alle unsere Ehrengäste zutrifft. Denn Sie alle haben eigentlich Besseres zu tun, als hier zu sitzen und Orden in Empfang zu nehmen. Aber wer Herausragendes leistet, wer so viel Gutes tut wie Sie, wer sich so unermüdlich engagiert für das Miteinander in diesem Land, der hat sich auch mal eine kleine Pause verdient, einen Moment der Anerkennung, einen Moment des Dankes. Ich freue mich, dass Sie alle heute zu uns gekommen sind. Seien Sie herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue
Übermorgen feiern wir den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Aus diesem Anlass wollen wir heute Menschen aus Ost und West, Nord und Süd auszeichnen, die sich um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft verdient gemacht haben. Menschen, die anderen zur Seite stehen; Menschen, die mithelfen, Mauern abzutragen; die dafür sorgen, dass wir miteinander im Gespräch bleiben.
Es sind ganz unterschiedliche Menschen, die hier und heute hier zusammengekommen sind. Sieben Frauen und acht Männer, die im Ehrenamt oder in ihrem Beruf, in Kunst oder Wissenschaft wirklich Außergewöhnliches, eben Herausragendes leisten. Einige sind einem Millionenpublikum bekannt, andere spielen eine wichtige Rolle in ihrer Region. Manche wollen am liebsten gar nicht im Mittelpunkt stehen, sondern packen einfach an, wann immer sie gebraucht werden.
Sie alle miteinander, die heute ausgezeichnet werden, spiegeln die Vielfalt des Engagements, das es in unserem Land gibt. Und sie stehen stellvertretend für die vielen, die sich täglich um mehr kümmern als nur um sich selbst.
Vereint und füreinander da
, das ist das Motto dieser kleinen Feierstunde heute Morgen. Es passt gut in diesem Jahr, in dem wir nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie enger zusammengerückt sind und doch – trotz Nähe – Abstand halten müssen. Gerade in der Krise haben wir gesehen, wie viel Solidarität, wie viel Gemeinsinn in unserer Gesellschaft steckt. Und heute wollen wir einige von denen ehren, die mit ihrem Wissen, ihrem Können, ihrer Leidenschaft und ihren Ideen ganz besonders dazu beigetragen haben, dass wir das Virus gemeinsam eindämmen.
Wir haben Menschen hier im Saal, die es uns überhaupt erst ermöglicht haben, vernünftig und solidarisch zu handeln, weil sie uns in verständlicher Sprache über das Virus und dessen große Gefahren aufgeklärt haben.
Da ist der Virologe, dessen Podcast Millionen Menschen durch die Krise geleitet hat; dem wir beim Denken und beim Überdenken zuhören durften; der uns besser hat verstehen lassen, warum Wissenschaft und Politik sich Schritt für Schritt vorantasten müssen, beide große Lernprozesse zu bewältigen haben. Und da ist die Chemikerin und Journalistin, die junge Menschen für die Welt der Wissenschaft begeistert und ihnen in der Krise per Video vermittelt, wie und warum sich das Virus ausbreitet.
Beide stärken mit ihrer Arbeit das Vertrauen in die Wissenschaft, und sie stärken das Vertrauen in eine Politik, die sich an wissenschaftlichen Befunden orientiert, statt sich von Fake News oder Verschwörungsmythen treiben zu lassen.
Wir zeichnen heute den Landrat von Heinsberg aus, dessen Kreis der erste in Deutschland war, in dem sich die Pandemie rasend schnell ausbreitete. Er kennt die Situation, die die Politikwissenschaft als Entscheidung unter Ungewissheitsbedingungen
beschreibt. Er ging auf unsicherem Boden beherzt voran, und er wandte sich täglich an die Bürgerinnen und Bürger, um Entscheidungen zu erklären und für das bislang beste Medikament im Kampf gegen das Virus zu werben – für Solidarität.
Hier bei uns im Saal sind Menschen, die sich schon seit vielen Jahren engagieren und für die es völlig selbstverständlich war, auch in der Corona-Krise mit anzupacken.
Ein ehemaliger Leiter der Feuerwehr und Präsident des Technischen Hilfswerks, der nach dem Ausbruch der Pandemie seinen Ruhestand unterbrochen hat, um hier in Berlin in sensationell kurzer Zeit ein Behandlungszentrum für Corona-Kranke aus dem Boden zu stampfen. Ich hab’s mir angesehen: Ein perfektes Krankenhaus in einer Messehalle! Und wir haben einen Kraftfahrzeugmeister aus Mecklenburg-Vorpommern hier, der seit fast zwanzig Jahren beim Roten Kreuz aktiv ist und den man nicht lange bitten musste, in seinem Landkreis Corona-Tests zu organisieren. Und eine Notärztin aus Tübingen, die ihre rollende Arztpraxis, mit der sie sonst Geflüchtete und Obdachlose versorgt, kurzerhand in eine mobile Teststelle umgerüstet hat, um auf diese Weise Pflegeheime zu unterstützen.
Wir wollen heute nicht zuletzt einen weltberühmten Pianisten ehren, der schon lange weiß: The people united will never be defeated
. Als das öffentliche Leben stillstand, setzte er sich jeden Abend in seinem Wohnzimmer an den Flügel und sendete seine Musik hinaus in die Welt, ein klingendes Symbol des Miteinanders in Zeiten der Isolation.
Meine Damen und Herren, Sie alle stehen für die vielen Menschen in unserem Land, die sich im Kampf gegen die Pandemie besonders engagieren. Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz mehr tun, als sie tun müssten; die Ideen entwickeln, um Unternehmen oder Kulturschaffenden durch die Krise zu helfen; die für Nachbarn da sind, die das Virus härter getroffen hat als sie selbst.
Einige von ihnen werde ich in den kommenden Wochen bei meinen Reisen durch Deutschland treffen. Heute Vormittag will ich aber die Gelegenheit nutzen, um allen zu danken, die seit dem Ausbruch der Pandemie ihre Solidarität unter Beweis stellen. All den Krankenschwestern und Pflegern, den Kassiererinnen und Lastwagenfahrern, den Lehrerinnen und Erziehern, den Mitarbeitern in Städten, Gemeinden und Krankenhäusern, den vielen Helferinnen und Helfern von nebenan.
Sie alle sind viel mehr als nur systemrelevant. Sie sind das Herz unserer Gesellschaft. Der Tag der Deutschen Einheit, er ist in diesem Jahr ganz besonders Ihr Tag. Herzlichen Dank für Ihren großen Einsatz!
Vereint und füreinander da
, das ist ein schönes Motto für unsere Gesellschaft. In manchen Ohren mag es aber auch ein bisschen zu freundlich, zu apodiktisch klingen, ganz so, als wäre in unserem Land längst alles gut. Sie kennen die Redensart, die uns im Alltag immer wieder begegnet: Alles gut
. Das ist zwar immer nett gemeint, dient aber oft nur dazu, sich nicht einzulassen auf den anderen, Widersprüchen auszuweichen, Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Nein, es ist nicht alles gut in unserem Land! Die Risse in unserer Gesellschaft, über die wir seit Jahren diskutieren, sind in der Corona-Krise nicht einfach verschwunden.
Wir erleben in diesen Wochen beides: Vertrauen und Solidarität einer Mehrheit, aber auch Wut und Feindschaft in anderen Teilen unserer Gesellschaft. Wir erleben, wie der Zusammenhalt mancherorts brüchig bleibt oder sogar noch brüchiger wird, wie der Ton im öffentlichen Raum angesichts der Gefahren der Pandemie nicht etwa milder, sondern zuweilen sogar noch schärfer wird. Und wir erleben, wie zerbrechlich das Vertrauen in die Demokratie bleibt, auch wenn die Zufriedenheit mit Entscheidungen der Regierungen in Ländern und Bund in der Krise gewachsen ist und autoritäre Schlichtheit ganz offenkundig an Faszination verloren hat.
Dennoch: Wir dürfen uns nie zu sicher sein. Die freiheitliche Demokratie braucht uns als Bürgerinnen und Bürger, sie braucht unsere Leidenschaft, sie braucht jeden Tag unsere Anstrengung.
Und wir wissen auch: Manche Menschen in unserem Land haben ganz und gar nicht den Eindruck, dass wir vereint und füreinander da
sind – weil sie sich abgehängt oder ausgegrenzt fühlen, weil sie schlechtere Chancen haben, weil sie Abwertung und Diskriminierung, Hass und Gewalt erleben, sei es wegen ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe, wegen ihres Glaubens, ihrer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung.
Auch die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland ist dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht aus allen Köpfen gewichen. Noch immer gibt es Menschen, die nur wenig über den jeweils anderen Landesteil wissen oder wissen wollen. Und noch immer gibt es Vorurteile, Missverständnisse, trennende Erfahrungen.
Wir wollen heute Menschen auszeichnen, die zum besseren Verständnis zwischen Ost- und Westdeutschen beitragen. Sie alle stehen dafür, wie viel Neues seit 1990 in unserem Land gewachsen ist, wie sehr Ost und West sich vermischt und gegenseitig bereichert haben.
Eine Hotelfachfrau aus Jena ist hier bei uns, die in der DDR für Meinungs- und Reisefreiheit kämpfte, die verfolgt und ins Zuchthaus gesperrt wurde. Heute lebt sie in Rheinland-Pfalz, wo sie über das menschenverachtende Grenzregime der DDR informiert und an Schulen über ihr Leben in einer Diktatur berichtet.
Wir haben eine großartige Schauspielerin hier, die ihre Kindheit in der DDR verbrachte, nach der Wiedervereinigung im Osten und im Westen Karriere machte und heute in Leipzig zu Hause ist. Ihre Geschichte und ihre Figuren – ihre großartige Vielfältigkeit – zeigen uns, dass Schubladendenken uns nicht weiterbringt. Und dass es hilft, die Welt auch mal mit den Augen des anderen und aus immer neuen Perspektiven zu sehen.
Wir ehren einen herausragenden Schriftsteller, der aus Dresden stammt und – das wird er vielleicht gar nicht so gerne hören – als Chronist der Wiedervereinigung gilt. Seine Geschichten erzählen von Lebenswenden, von Hoffnungen und Enttäuschungen, und er mischt sich immer wieder kritisch ein, wenn es um das Zusammenwachsen von Ost und West geht – eine Metapher übrigens, die er überhaupt nicht mag, weil die Einheit ja kein natürlicher, sondern ein politischer und gesellschaftlicher Prozess sei.
Wir ehren auch einen Geoökologen aus Bayern, der sich 1989 gemeinsam mit anderen Umweltschützern aus Ost- und Westdeutschland dafür eingesetzt hat, den ehemaligen Todesstreifen an der Grenze unter Naturschutz zu stellen und in eine Lebenslinie zu verwandeln. Das Grüne Band
ist heute ein besonders schönes Beispiel dafür, wie viel ehrenamtliches Engagement bewirken kann.
Wenn wir heute über die Deutsche Einheit reden, dann geht es längst nicht mehr nur um das Zusammenleben von Ost- und Westdeutschen. Es geht um das Miteinander von Menschen aus allen Teilen unseres Landes, mit und ohne Migrationsgeschichten, von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Lebenswelten, um das Miteinander der vielen verschiedenen Menschen in unserem Land.
Einige unserer Ehrengäste stehen für diese gar nicht mehr so neue deutsche Vielfalt, die in den vergangenen Jahren größer, vor allem aber sichtbarer geworden ist. Sie helfen mit, Vorurteile abzubauen; kämpfen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung; sorgen dafür, dass wir nicht nur übereinander reden, sondern vor allem miteinander.
Hier im Saal ist eine Projektleiterin aus Berlin, die muslimische Jugendliche ermutigt, öffentlich ihre Stimme zu erheben und selbst für ihre Anliegen einzustehen, zum Beispiel auf der Bühne beim Poetry Slam.
Wir haben eine Schülerin aus Hamburg hier, die dafür gesorgt hat, dass der Schwerbehindertenausweis heute in vielen Teilen unseres Landes als Schwer-in-Ordnung-Ausweis bekannt ist. Die von ihr ausgelöste Debatte hat den Blick auf Menschen mit Behinderung verändert und gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir auf unsere Sprache achten.
Wir ehren einen ehemaligen Fußballnationalspieler, Deutscher Meister mit dem VfB Stuttgart, der mit seinem Coming-out ein Tabu gebrochen hat und seit vielen Jahren gegen Homophobie, Sexismus und Rassismus in Stadien und Vereinen kämpft.
Und wir ehren eine Facharbeiterin, die sich in Zerbst um Suchtkranke und arme Familien kümmert. Sie hat eine Kindertafel gegründet, sorgt für gesunde Ernährung, ist aber auch zur Stelle, wenn es in der Schule hakt oder irgendwo Probleme im Alltag auftauchen. Gerade jetzt in der Corona-Pandemie brauchen wir Menschen wie sie.
Was für eine tolle Gesellschaft, hier in diesem Saal. Sie alle stehen für den großen Willen zur Solidarität in unserem Land. Sie stehen dafür, dass uns das Virus nicht unserer Kraft beraubt, füreinander da zu sein! Und Sie machen Mut, dass wir gerade jetzt nach vorn schauen und auch über die Zukunft nach der Pandemie nachdenken und reden, gemeinsam und als Verschiedene.
Ich bin froh, in einem Land zu leben, in dem es Menschen gibt wie Sie. Menschen, die Besseres zu tun haben, als einen Orden in Empfang zu nehmen. Und die ich jetzt gerade deshalb mit einem Orden auszeichnen werde. Ihnen allen meinen herzlichen Glückwunsch. Und vor allen Dingen: Herzlichen Dank..