Videobotschaft zum 75. Gründungsjubiläum des NDR Elbphilharmonie Orchesters

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 30. Oktober 2020

Der Bundespräsident hat am 30. Oktober beim Konzert zum 75. Gründungsjubiläum des NDR Elbphilharmonie Orchesters eine Rede gehalten, die zuvor aufgezeichnet wurde: "In ganz Westdeutschland wurden in der Nachkriegszeit öffentlich-rechtliche Klangkörper gegründet, große und kleine Orchester, Chöre und Big Bands. Sie alle haben uns durch die Geschichte der Bundesrepublik begleitet, unseren musikalischen Horizont erweitert, kompositorisches Neuland für uns erschlossen. Sie alle lieferten den Soundtrack zur demokratischen Erneuerung."


Einen schönen guten Abend nach Hamburg!

Für die Einladung zu diesem ganz besonderen Konzert meinen großen Dank. Ein Konzert mit einem Orchester, das Geschichte geschrieben hat und weiter schreibt. Ich freue mich, dass ich wenigstens aus der Ferne zum Jubiläum des NDR Elbphilharmonie Orchesters gratulieren kann.

Vor 75 Jahren, als das Orchester, das wir heute feiern, in der Laeiszhalle sein erstes Konzert gab, lag Hamburg in Trümmern, so wie zahllose andere Städte in Deutschland und in Europa. Wer damals von St. Pauli aus die Elbe hinabblickte, der sah an dem Ort, an dem jetzt die Elbphilharmonie steht, kein funkelndes Konzerthaus, sondern die Überreste des von Bomben zerstörten Kaiserspeichers. Nur der Turm mit dem Zeitball, das alte Wahrzeichen des Hamburger Hafens, ragte noch heraus aus Schutt und Asche.

Wenn wir heute auf die Gründung des Hamburger Rundfunkorchesters zurückblicken, dann erinnern wir uns an die schwere Zeit nach Kriegsende, vor allem aber an die Befreiung unseres Landes und des gesamten Kontinents von der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten. Und wir erinnern uns an die westlichen Alliierten und die vielen Mütter und Väter dieser Republik, die damals alles daransetzten, um das Unvorstellbare wahr werden zu lassen: das eben noch nationalsozialistische Deutschland, das die halbe Welt mit Krieg und Mord überzogen hatte, in eine freiheitliche, friedliche, weltoffene Demokratie zu verwandeln.

Die Offiziere der britischen Militärregierung, die das Orchester damals nach dem Vorbild des BBC Symphony Orchestra ins Leben riefen, die waren sich bewusst, dass es für einen solchen Neubeginn nicht nur demokratische Institutionen und nicht nur wirtschaftlichen Aufschwung brauchte, sondern auch eine geistige Erneuerung der Gesellschaft. Es brauchte demokratische und kulturelle Bildung, und der Rundfunk sollte dabei eine herausragende Rolle spielen.

Wir wissen, die westlichen Alliierten mussten 1945 nicht bei null beginnen. Sie konnten aufbauen auf dem kulturellen Erbe Deutschlands und Europas, das die Nationalsozialisten für ihre Zwecke missbraucht und zu zerstören versucht hatten. Hans Schmidt-Isserstedt, der Gründungsdirigent des Hamburger Rundfunkorchesters, stöberte in den Kriegsgefangenlagern der britischen Besatzungszone viele exzellente Musiker auf, deren Ensembles während der letzten Kriegsjahre aufgelöst worden waren. Und er spielte mit ihnen bald nicht nur Mozart, Beethoven, Haydn, sondern auch Hindemith, Bartók, Strawinsky – Komponisten, deren Werke die Nazis als „entartete Musik“ verächtlich gemacht hatten.

Wahr ist aber auch: Vieles von dem, was das Kulturleben in der Weimarer Republik ausgezeichnet und weltberühmt gemacht hatte, war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unwiederbringlich verloren. Wenn wir heute ein Orchester ehren, das 1945 gegründet wurde, dann erinnern wir uns auch an diejenigen, die damals nicht mehr mitwirken konnten: an die vielen oft jüdischen Komponisten, Dirigenten, Musikerinnen und Musiker, die von den Nationalsozialisten verfolgt, verjagt und ermordet worden waren.

Wir dürfen und wir werden sie nicht vergessen!

Das Sinfonieorchester des Nordwestdeutschen Rundfunks, das damals bei Ihnen in Hamburg entstand, war in Deutschland das erste seiner Art: ein öffentlich-rechtliches Rundfunkorchester, ausgestattet mit dem Auftrag zur kulturellen Bildung. Ein Unikat blieb es allerdings nicht lange. In ganz Westdeutschland wurden in der Nachkriegszeit öffentlich-rechtliche Klangkörper gegründet, große und kleine Orchester, Chöre und Big Bands.

Sie alle haben uns durch die Geschichte der Bundesrepublik begleitet, unseren musikalischen Horizont erweitert, kompositorisches Neuland für uns erschlossen. Sie alle lieferten den Soundtrack zur demokratischen Erneuerung, nach der Wiedervereinigung auch im Osten unseres Landes, wo das Orchester des Mitteldeutschen Rundfunks an eine lange Tradition anknüpfen konnte. Es ist den öffentlich-rechtlichen Ensembles immer wieder gelungen, ein breites Publikum für Klassische und Neue Musik zu begeistern, und ich finde, das ist ein großes Verdienst, das man gar nicht genug würdigen kann.

Das Hamburger Rundfunkorchester steht in besonderer Weise für die Strahlkraft und die gesellschaftliche Verantwortung der öffentlich-rechtlichen Klangkörper. Dirigenten von Hans Schmidt-Isserstedt über Günter Wand bis hin zu Alan Gilbert, Solistinnen und Solisten von Yehudi Menuhin bis Lisa Batiashvili oder Julia Fischer, alle haben mit dazu beigetragen, sein großes Repertoire weit über die Tore dieser Stadt hinaus bekannt zu machen. Und ich bin dankbar, dass sich das Orchester gerade nach seinem Umzug in die wunderschöne Elbphilharmonie mit viel Dynamik und guten Ideen dafür einsetzt, Musik verständlich zu vermitteln und für alle zugänglich zu machen.

75 Jahre nach dem Gründungskonzert fällt auch dieses Jubiläumskonzert in eine aktuell schwierige Phase. Der wackelige Neustart der Kultureinrichtungen nach den Sommerferien muss schon wieder unterbrochen werden. Bitter für die Einrichtungen, bitter für die Kulturschaffenden, aber auch bitter für die meisten Menschen in unserem Land, die erneut für eine Weile nicht in Kinos, Theatern und Konzertsälen sitzen und Kultur genießen dürfen.

Aber vielleicht wird uns in der Corona-Krise noch einmal neu bewusst: Kultur ist eben kein Luxusgut für ein paar wenige, sie ist ein Lebenselixier für uns alle, für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft als Ganze.

Wir brauchen öffentliche Räume, in denen wir Musik gemeinsam erleben können. Und wir brauchen öffentliche Institutionen, die uns, den vielen unterschiedlichen Menschen in diesem Land, Musik näherbringen. Der Auftrag zur musikalischen Bildung ist auch heute unverzichtbar. Es ist und bleibt wichtig, dass wir ein vielfältiges öffentlich-rechtliches Kulturangebot aufrechterhalten, nicht zuletzt für Kinder und Jugendliche.

Es ist und bleibt aber auch wichtig, dass wir jenseits des öffentlich-rechtlichen Engagements eine lebendige und vielfältige Kulturlandschaft erhalten. Wir wissen, die Pandemie hat freischaffende Künstlerinnen und Künstler besonders hart getroffen, viele sind in ihrer Existenz bedroht. In diesem Herbst und Winter sind sie mehr denn je auf unsere Solidarität angewiesen. Gerade dann, wenn wir wegen Corona nicht mehr ins Konzert, ins Theater, in die Ausstellung gehen können, gerade dann müssen wir selbst kreativ werden und uns überlegen, wie wir die Kulturschaffenden auf anderem Wege unterstützen können. Die Politik ist gefragt, die Politik muss helfen, klar. Aber wir müssen es auch. Möglichkeiten dazu gibt es reichlich! Lassen wir sie nicht im Stich, die Kultur, meine Damen und Herren!

Wir werden gleich – im Saal, am Bildschirm oder im Radio – Brahms und Tschaikowsky hören, Teile des historischen Konzerts vom 1. November 1945. Was für eine schöne Idee. Mein Dank gilt den Musikerinnen und Musikern, die heute Abend für uns spielen, er gilt allen anderen, die uns immer wieder anstecken mit ihrer Leidenschaft für Musik und ihrer Freude am Musizieren. Ich gratuliere dem NDR Elbphilharmonie Orchester zum 75. Geburtstag. Und ich wünsche allen einen großartigen Konzertabend, wo auch immer Sie jetzt zuhören.

Herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank!


Die Rede des Bundespräsidenten wurde zuvor aufgezeichnet und als Videobeitrag übermittelt.