Videobeitrag zur digitalen Gedenkveranstaltung des Präsidenten des Staates Israel, Reuven Rivlin, an die Pogromnacht von 1938

Schwerpunktthema: Rede

Jerusalem/Israel, , 9. November 2020

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Präsidenten Israels eine Videobotschaft zum Gedenken an die Pogromnacht von 1938 übermittelt, die am 9. November als Teil einer Gedenkveranstaltung im Internet übertragen wurde. Darin sagt er: "Die Novemberpogrome markierten nicht den Anfang der Judenverfolgung in Deutschland. Sie waren ein widerwärtiger Gewaltausbruch, der auf lange Jahre der Diskriminierung, Einschüchterung und Anfeindung folgte."


Es geschah in einer milden Herbstnacht in Bremen. Der fünfzehnjährige Martin Bialystock schlief tief und fest. Plötzlich zerbarsten die Schaufenster des Ladengeschäfts seiner Familie direkt unter der Wohnung. Er hörte, wie Menschen schrien, wie sie den Laden plünderten und gegen die Wohnungstür hämmerten. Martin und seine neunjährige Schwester Miriam versteckten sich im Wohnzimmer. Seine Mutter saß schweigend da, drehte sich dann zu ihm um und sagte: Jetzt wirst du sehen, die bringen uns um. Es war der 9. November 1938.

Heute vor genau 82 Jahren wurden mehrere Hundert deutsche Jüdinnen und Juden ermordet. Viele weitere wurden verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Synagogen und Gebetshäuser in ganz Deutschland wurden niedergebrannt, Friedhöfe verwüstet, Geschäfte und Wohnungen geplündert und dann in Brand gesteckt.

Die Täter waren Menschen, sie waren Deutsche. Die Opfer waren Menschen, sie waren Deutsche. Gerhard Löwenthal, ein weiterer Zeitzeuge, sagte: Sie waren Menschen wie ihre Nachbarn, nur dass sie den damals noch unsichtbaren Judenstern verpasst bekommen hatten.

Die Novemberpogrome markierten nicht den Anfang der Judenverfolgung in Deutschland. Sie waren ein widerwärtiger Gewaltausbruch, der auf lange Jahre der Diskriminierung, Einschüchterung und Anfeindung folgte. Sie waren ein Vorbote der unfassbaren Verbrechen der Shoah, die meine Landsleute einige Jahre später verüben sollten. Und sie sind eine eindringliche Warnung an uns heute.

Ich bin dankbar dafür, dass das jüdische Leben in Deutschland heute wieder blüht.

Doch es beschämt mich, dass Juden mit einer Kippa sich auf unseren Straßen nicht sicher fühlen. Es beschämt mich, dass jüdische Gebetshäuser geschützt werden müssen. Es beschämt mich, dass ein tödlicher Angriff auf die Synagoge in Halle vor einem Jahr an Jom Kippur nur durch eine schwere Holztür verhindert wurde.

Es reicht aber nicht aus, unsere Wirklichkeit zu beschreiben, so schmerzhaft sie auch sein mag. Wir müssen handeln. Ich bin dankbar, dass die Behörden in Deutschland ihrer Verantwortung gerecht werden, indem sie den Polizeischutz für Synagogen aufstocken und antisemitische Straftaten mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgen.

Aus diesem Grunde spreche ich heute Abend zu Ihnen. Ich möchte Ihnen gegenüber mein Bekenntnis erneuern, das ich in Yad Vashem abgelegt habe: Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels!

Das starke Band der Freundschaft, das unsere Länder im Laufe der Jahre geknüpft haben, erfüllt mich mit Demut. Und ich bin stolz, dass ich Präsident Rivlin meinen Freund nennen darf. Vielen Dank, lieber Ruvi, für Dein Vertrauen und für Deine Einladung, heute Abend an dieser Zeremonie teilzunehmen.

Meine Damen und Herren, das Wunder der deutsch-israelischen Freundschaft wird weiter gedeihen, wenn wir zusammenstehen, wenn wir die Erinnerung an die Lehren der Vergangenheit wach halten. In der Erinnerung liegt der Samen für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ja, wir können Hoffnung finden, selbst wenn wir an die dunklen Tage und Nächte des Novembers 1938 zurückdenken.

Vielen Dank!