Eröffnung der Ausstellung "Das Erscheinen eines jeden in der Menge"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 28. Januar 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 28. Januar in der Galerie von Schloss Bellevue eine Ausstellung eröffnet, die die Bedeutung von Begegnungen im öffentlichen Raum zum Thema hat. Zu Beginn des Livestreams sagte er: "Wenn wir uns diesen Lebens- und Kulturraum erhalten wollen, werden wir ihn nach der Pandemie zurückerobern und um ihn kämpfen müssen. Dafür will ich mit dieser kleinen Kunstauswahl werben."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache anlässlich der Eröffnung einer neuen Ausstellung in der Galerie von Schloss Bellevue mit dem Titel 'Das Erscheinen eines jeden in der Menge'

Wenn ich Ihnen heute diese kleine Auswahl an Kunstwerken vorstelle, preise ich etwas ganz und gar Besonderes an. Und Sie werden sich vielleicht fragen: Was mag in den gefahren sein? Wir alle haben seit Monaten keine Ausstellung mehr besuchen können, und nun präsentiert uns der Bundespräsident in der Abgeschiedenheit von Schloss Bellevue Kunstwerke, die uns begeistern sollen, obwohl wir sie doch wieder nur als Fern-seh-bilder betrachten können.

Doch meine Begeisterung für diese Werkauswahl hat nicht anders begonnen, als Ihre – hoffentlich – beginnen wird: nämlich beim Betrachten der Bilddateien von Collagen, Gemälden und Skulpturen am Computer. Schloss Bellevue ist für gewöhnlich ein öffentlicher Raum, in diesen Tagen aber bis auf meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auf meine Frau und mich verwaist.

Wir können Ihnen die Kunstwerke also – natürlich anders als geplant – nicht persönlich und in Ihrer unmittelbaren Anwesenheit, sondern nur digital vermittelt vorstellen. Was mich davon überzeugt hat, es dennoch zu tun, ist die gemeinsame Idee dieser Werke. Besonders eindrucksvoll verdeutlicht diesen gemeinsamen Gedanken die Verbindung von Wort und Bild in der Fotoarbeit Der Blick von Astrid Klein. Es sind die Augen einer Frau, vielleicht auch die eines Mannes, die den Betrachter ansehen, und dieser Blick ist verbunden mit einer Erläuterung, einem Zitat von Jean-Paul Sartre, das auch so etwas wie der Schlüssel zum Verständnis dieser Werkauswahl sein könnte: Das 'Vom-Anderen-gesehen-Werden‘ ist die Wahrheit des 'Den-Anderen-Sehens‘.

Will sagen: Ohne ein Gegenüber sind wir verloren. Im physikalischen Sinn sehen wir überhaupt nur etwas, weil von diesem Gegenüber ein Licht ausgeht, dieses Etwas Licht ausstrahlt oder reflektiert und streut, ebenso wie wir selbst es tun.

Sartre erinnert uns daran, dass wir in Isolation und Weltabgeschiedenheit keinen Begriff vom Anderen, von unserem Gegenüber haben können, ebenso wenig wie von uns selbst. Wir gewinnen ihn nur im Bezug zur Welt und zu uns selbst.

Der Blick von Astrid Klein aber trifft uns gegenwärtig in einer durch Corona erzwungenen Abgeschiedenheit, einer Abgeschiedenheit von der Welt und voneinander. Der öffentliche Raum, in dem sich unsere Blicke begegnen und wir einander wahrnehmen, ist verwaist. Wir erleben leere Innenstädte, geschlossene Theater, Kino- und Konzertsäle, Galerien und Museen.

Ein ganzer Winter, ohne auch nur einmal im Museum, im Kino, im Konzert oder im Theater gewesen zu sein, war unlängst über den Kulturlockdown im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Wir sehen ein, dass das in der Pandemie nicht anders möglich ist, aber das heißt ja nicht, dass wir es nicht gleichzeitig betrauern können, ja müssen.

Aber kann man sich Bilder, Skulpturen, selbst Installationen nicht ebenso gut am Bildschirm ansehen? So, wie wir es gerade tun, mit all den Möglichkeiten und Bequemlichkeiten, die Computer heute in der Bilddarstellung bieten? Ist der Museumsbesuch nicht auch als Virtual Reality denkbar?

Denkbar schon, aber eben nicht dasselbe. Man muss nicht einmal mit der Aura, der Echtheit und Einmaligkeit des Kunstwerks operieren, um zu dem Schluss zu kommen, dass der digitale Zugang zur Kunst bestenfalls ein Ersatz sein kann. Wenn wir ehrlich sind, heißt es in dem erwähnten Artikel, lassen einen all diese digitalen Substitute fühlen, dass man beileibe nicht nur der Bilder wegen ins Museum geht.

Nein, wir gehen hin, um da zu sein. Wir brauchen diesen Raum, in dem wir unter anderen mit den anderen oder auch für uns allein sein können, in dem wir sehen und gesehen werden. Ein Miteinander, eine demokratische Gesellschaft ist ohne diese Freiheit der Begegnung kaum denkbar. Davon, vom Erscheinen eines jeden in der Menge, wie ein Vers des Dichters Nicolas Born lautet, erzählen diese Kunstwerke, die Ihnen unsere Kuratorin Bettina Klein jetzt vorstellen wird.

Sie erinnern uns an diesen öffentlichen Raum, den wir brauchen und den wir gerade jetzt, da wir ihn schmerzhaft vermissen, neu entdecken. Die Pandemie hat viele Museen, Galerien, Kinos, Theater und Konzerthäuser in eine existenzielle Krise getrieben. Sie verdienen unsere Unterstützung in der Krise und nach der Krise. Wenn wir uns diesen Lebens- und Kulturraum erhalten wollen, werden wir ihn nach der Pandemie zurückerobern und um ihn kämpfen müssen. Dafür will ich mit dieser kleinen Kunstauswahl werben.