Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Özlem Türeci und Uğur Şahin

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 19. März 2021

Der Bundespräsident hat am 19. März die Wissenschaftler Özlem Türeci und Uğur Şahin in Schloss Bellevue mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt: "Mehr und schneller impfen – mit allen Mitteln, die wir haben! Das ist das Gebot der Stunde! Mit Mut, mit Klugheit, mit einem guten Stück mehr Pragmatismus. In dieser wohl schwierigsten Phase der Pandemie kann die Geschichte der heute ausgezeichneten Ordensträger uns Mut machen, kann im besten Sinne Vorbild sein."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede anlässlich der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Özlem Türeci und Uğur Şahin im Großen Saal von Schloss Bellevue

Die Zukunft gehört denen, die die Möglichkeiten erkennen, bevor sie offensichtlich werden.

Oscar Wilde muss – auch wenn er sie eigentlich gar nicht kennen konnte –, er muss an unsere beiden Ordensträger gedacht haben, als er diesen Satz prägte.

Sehr geehrte Frau Doktor Türeci, sehr geehrter Herr Professor Şahin, zweieinhalb Jahre ist es her, da haben Sie die Fachwelt mit einer kühnen Vorhersage auf sich aufmerksam gemacht: Sie erklärten, man könne die Boten-RNA-Technologie nutzen, um im Falle einer Pandemie schnell einen Impfstoff zu entwickeln.

Zu dieser Zeit hatten Sie beide Ihre Forschung hauptsächlich auf die Behandlung von Krebs ausgerichtet. Ihr Unternehmen Biontech hatte noch kein Produkt auf den Markt gebracht. Und an eine Pandemie dachte kaum jemand.

Dann verbreitete sich das Corona-Virus. Und noch bevor es Europa erreichte, riefen Sie beide das Projekt Lichtgeschwindigkeit ins Leben, um einen Impfstoff zu entwickeln, der das Virus eindämmen und Menschenleben retten sollte. Schon im Januar letzten Jahres arbeiteten Sie zusammen mit Ihren Kolleginnen und Kollegen Tag und Nacht daran. Und das zu einer Zeit, als viele Menschen in Deutschland einander noch die Hand gaben, sich in die Arme nahmen und ein unbekümmertes Leben führten.

Sie beide sahen nicht nur früh voraus, dass aus der Virusepidemie in Wuhan eine Pandemie werden könnte. Nein, Sie verbanden Ihre Weitsicht mit Kenntnis und Entdeckergeist und erkannten, dass der experimentelle Ansatz Ihrer jahrzehntelangen Forschungsarbeit zu einem Impfstoff führen würde.

Sie erkannten die Möglichkeit, bevor sie offensichtlich wurde. Und Sie entwickelten den dringend benötigten Impfstoff in der Tat mit Lichtgeschwindigkeit. Wie dringlich wir alle diesen Schutz vor einer Infektion erwarten, das spüren wir ganz besonders in diesen Tagen. Ihre bahnbrechende Entdeckung rettet Menschenleben, sie rettet Existenzen, sie sichert unser gesellschaftliches, wirtschaftliches und kulturelles Überleben. Mit jedem geimpften Menschen können wir einen kleinen Schritt zurück in Richtung Alltag gehen, einen Schritt hin zu dem Leben, das wir vermissen, und zu den Menschen, die wir lieben.

Ich bin sicher: Eine ähnlich existenzielle wissenschaftliche Großtat ist in diesem Schloss hier selten ausgezeichnet worden!

Liebe Frau Doktor Türeci, lieber Herr Professor Şahin, Sie beide empfanden es als Ihre Pflicht, etwas zu tun. Sie waren überzeugt, etwas tun zu können und es gerade deshalb tun zu müssen.

Es gibt immer Gründe zu zweifeln. Sie aber haben gehandelt: mit Leidenschaft, mit wissenschaftlichem Ehrgeiz und mit Hingabe. Sie haben weit mehr als nur etwas getan. Sie haben das Entscheidende getan!

Es war Ihr Unternehmen, das kleine, innovative, schnelle Start-up Biontech in Mainz, das die bahnbrechende Erfindung, den ersten wirksamen Impfstoff gegen Covid-19, entwickelte. Und so wurde das Biontech-Labor für Forscherinnen und Forscher, was für IT-Tüftler in den 1970er Jahren die legendäre elterliche Garage war.

Viele Menschen auf der ganzen Welt bezeichnen Ihre Leistung als ein Impfwunder. Sie selbst werden als beeindruckendes Gründerpaar, Spitzenforscher, Helden des Wissens und sogar als Weltenretter beschrieben. Viele haben versucht, Ihre Leistung zu vereinnahmen, Ihrer Entdeckung eine Nationalität zu geben. Ein Impfstoff aber hat keine Nationalität – er ist weder deutsch, noch türkisch, er ist auch nicht amerikanisch. Wenn er etwas zeigt, dann, dass Menschen zu Großem und Größtem fähig sind, wenn sie in Freiheit und Respekt füreinander zusammenarbeiten, wenn sie über politische, soziale und kulturelle Grenzen hinweg miteinander etwas Neues wagen, etwas Gutes schaffen und damit unsere Gesellschaft voranbringen. Und dafür sind Sie ein Beispiel für Menschen überall auf der Welt! Sie beide haben als Wissenschaftler durch Ihre herausragende Leistung überzeugt. Und diese Leistung, der Impfstoff, den Sie entwickelt haben, ist ein Dienst an der Menschheit. Und genau deshalb sind wir heute hier.

Liebe Frau Doktor Türeci, lieber Herr Professor Şahin, eine Ordensverleihung ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Mit diesem Orden zeichnen wir Menschen aus, die Außergewöhnliches geleistet haben. Menschen wie Sie, deren Leben und Person ganz in der Aufgabe, die sie sich gestellt haben, aufgehen; für die Leben und Arbeit – wie wir das bei Ihnen sehen – fast untrennbar miteinander verwoben sind. Ich vermute, für Sie ist auch diese Ordensverleihung nur eine kurze, aber hoffentlich sehr angenehme Pause zwischen zwei Laborversuchen und ich hoffe, Sie können die Zeit mit uns etwas genießen.

Uns allen ist bewusst: Die Entdeckung und die Entwicklung des neuen Impfstoffes beruhen, wie alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, nie ganz allein auf der Leistung Einzelner – nicht einmal so herausragender Wissenschaftler wie Sie es sind. Und Sie sagen es ja auch immer wieder selbst: Entdeckung und Entwicklung sind das Ergebnis einer internationalen Forschungsgemeinschaft. Und gerade in der weltweit vernetzten Wissenschaft erhält dieses Wort Gemeinschaft geradezu selbstverständlich seine ureigene, wunderbare Bedeutung.

Alleine Biontech beschäftigt derzeit weltweit rund 2.000 hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus inzwischen mehr als sechzig Nationen.

Und auch die millionenfache Herstellung von Impfdosen ist nicht der Erfolg weniger, einzelner Unternehmen, sondern einer weltumspannenden Produktionsgemeinschaft. Einer Kooperation vieler Unternehmen, die in normalen Zeiten hart und härter miteinander konkurrieren. Ohne dieses Netzwerk würde uns vermutlich der Impfstoff in diesen Zeiten nicht erreichen.

Und dasselbe, davon bin ich überzeugt, gilt auch für die weltweite Verteilung von Impfstoffen. Denn die Pandemie unterscheidet nicht zwischen Kontinenten, politischen Systemen, Religionen oder Einkommen. Sie bedroht uns alle gemeinsam, und sie kann auch nur gemeinsam überwunden werden, dann nämlich, wenn die Menschen in allen Teilen der Welt vor dem Virus geschützt werden. Die Pandemie ist erst vorbei, wenn sie überall vorbei ist. Deshalb ist es nicht nur eine Frage der Solidarität, es ist auch unser wohlverstandenes eigenes Interesse, für einen fairen Zugang zu Impfstoffen weltweit zu sorgen.

Liebe Frau Doktor Türeci, lieber Herr Professor Şahin, erfolgreiche Paare, sagt man, schauen in eine Richtung. Sie beide eint die Leidenschaft für die Medizin. Sie brennen für die Forschung. Gemeinsam haben Sie sich der Bekämpfung von Krebs und anderen schweren Erkrankungen gewidmet. So waren Sie schon in den 1990er Jahren davon fasziniert, dass der Körper mit seiner eigenen Immunabwehr Krebszellen angreifen und vernichten kann.

Ihre Idee: Statt die Krankheit mit einer Chemotherapie oder einer Bestrahlung zu behandeln, soll der Körper mithilfe der sogenannten Boten-RNA den Krebs selbst bekämpfen. Ihre Vision ist die Entwicklung einer maßgeschneiderten Therapie gegen den Krebs. Wer würde diese gewaltige Aufgabe nicht lösen wollen? Ihnen beiden trauen wir es zu!

Sie geben an Krebs erkrankten Menschen auf diese Weise und durch Ihre wissenschaftliche Forschungstätigkeit Hoffnung und Zukunft. Sie zeigen, was die Forschung in Deutschland und in der Welt leisten kann: auch schwerste Krankheiten zu überwinden, und zu heilen, was als unheilbar gilt.

Ihrer beider Wege begannen an der Universität Köln und der Universität des Saarlandes, bevor sie damals schon mit hohen akademischen Titeln ausgezeichnet nach Mainz wechselten. Eine für alle Beteiligten glückliche Wahl. Heute sind die Listen Ihrer Auszeichnungen und Ihrer akademischen Veröffentlichungen lang, und die Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz aus der ersten Liga der Impfstoff-Forschung nicht mehr wegzudenken. Was soll denn schon Großes aus Mainz kommen?, hat man Ihnen jahrelang verächtlich nachgerufen, so habe ich kürzlich in einem Magazinbeitrag gelesen. Ich bin sicher: Dank Ihnen wird diese Frage niemand jemals wieder stellen – nicht in Harvard, nicht in Oxford, nicht im Silicon Valley. Und nicht nur Mainz darf stolz darauf sein!

Von der Forschung hin zum Unternehmertum war es ein langer Weg und es ist hierzulande leider immer noch außergewöhnlich, wenn akademische Forscher Unternehmen gründen. Man braucht dafür, sagten Sie, Frau Türeci, kürzlich, eine gesunde Balance aus Mut und Demut.

Vor Biontech gründeten Sie bereits 2001 Ihre erste biopharmazeutische Firma. Sie entschieden sich dafür, Forscher und Unternehmer zu sein, weil Sie wollten, so haben Sie gesagt, dass Ihre Forschung beim Patienten ankommt. Es war Ihnen ein wichtiges Anliegen, den Wissenstransfer nicht nur zu beschleunigen, sondern vor allen Dingen auch mitzugestalten. Es reichte Ihnen nicht, eine klinische Studie durchzuführen. Sie wollten sehen, was die Forschungsergebnisse im wahren Leben der Patienten verändern und bewirken können. Und so beschreiben Sie als einen auch für Sie persönlich bewegenden Moment im vergangenen Jahr einen Augenblick, als Sie die ersten Menschen beim Impfstart tatsächlich sehen und beobachten konnten.

Mit Mut und Demut, und mit einem klaren Ziel vor Augen, haben Sie beide alles auf eine Karte gesetzt, sind als Unternehmerin und Unternehmer in der Tat auch ein großes Wagnis eingegangen. Die Biotechnologie ist, wenn ich das so sagen darf, ein Hochrisikogeschäft. Eines, für das man Geld braucht und Geduld, und von beidem möglichst viel. Hohe Risiken einzugehen, wenn es um finanzielle Wagnisse geht, ist immer noch nicht leicht in Deutschland. Ja, es gibt staatliche Förderprogramme, und auch Ihre Forschung wurde gefördert. Das war aber vielleicht gar nicht das Entscheidende.

Das Besondere ist, dass Sie unermüdlich über eine lange Zeit selbst bereit waren, alles einzusetzen, um Ihre Vision zum Erfolg zu führen. Ihr Mut, Ihre Tatkraft und Ihr Vertrauen ins Gelingen beeindrucken mich und ich bin sicher auch alle, die hier zuschauen, zutiefst. Wir brauchen von diesem Mut, dieser Tatkraft ganz viel in unserem Land! Gerade dann, wenn es schwierig ist, wie in diesen Zeiten, in denen wir leben.

Natürlich gibt es Rückschläge im Kampf gegen die Pandemie, gerade erst in dieser Woche wieder, natürlich wurden auch Fehler gemacht. Wir sind nicht so weit, wie wir sein wollten und wie wir sein sollten. Und, ja, es herrscht Verunsicherung und Frust in unserem Land. Ich verstehe das nur zu gut.

Aber: Gerade jetzt, gerade im Angesicht der dritten Welle, ist nicht die Zeit für Resignation und Selbstmitleid! Natürlich muss aufgearbeitet werden, müssen Fehler identifiziert werden und Schwachstellen abgestellt werden. Aber ich glaube, wir verbrauchen wahrlich viel Kraft auf der Suche nach dem Schuldigen des Tages. Kraft, die wir als Gesellschaft im Augenblick an anderer Stelle dringend brauchen. Denn jetzt hilft doch nur eines: mehr und schneller impfen – mit allen Mitteln, die wir haben! Das ist das Gebot der Stunde! Mit Mut, mit Klugheit, mit einem guten Stück mehr Pragmatismus. In dieser wohl schwierigsten Phase der Pandemie kann die Geschichte der heute ausgezeichneten Ordensträger uns Mut machen, kann im besten Sinne Vorbild sein – für Bürger, für Politiker, für alle, die Verantwortung tragen.

Eines hat dieses großartige Paar vorgemacht: Wir können es! Und Deutschland kann es! Deshalb bleibe ich überzeugt, allen Widrigkeiten zum Trotz, und, ja, später als erhofft –, aber wir werden die Pandemie unter Kontrolle bringen.

Das, worauf es ankommt, soll gesagt sein: Wir können gewinnen und leben.

Ich bin kein umfassender Kenner der zeitgenössischen Lyrikszene, aber ich wage die Vermutung, dass es nicht allzu viele Immunologen gibt, über die Gedichte geschrieben werden. Sie aber gehören dazu! Wir können gewinnen und leben, das schreibt der indische Poet und Soziologe Surendra Munshi in einem Ihnen gewidmeten Gedicht.

Das Corona-Virus werden wir vermutlich nie gänzlich besiegen können. Aber wenn wir unsere Kräfte bündeln, werden wir das Virus in den Griff bekommen und mit ihm leben lernen.

Herr Professor Şahin, vor Kurzem erinnerten Sie daran, dass Sie mit einem Mittel gegen Krebs für ein einzelnes Individuum begannen. Und heute haben wir einen Impfstoff für die ganze Menschheit.

Im Namen unseres Landes danke ich Ihnen beiden für Ihre herausragende wissenschaftliche Leistung. Ich wünsche Ihnen, uns allen, dass Ihre weiteren großen Forschungspläne ebenso bahnbrechende Erfolge bringen werden. Nicht um des Gewinnens willen, sondern um des Lebens willen!