Verleihung des Verdienstkreuzes am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Matthias Katsch und Pater Klaus Mertes

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 8. April 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Verleihung des Verdienstkreuzes am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Matthias Katsch und Pater Klaus Mertes am 8. April in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Sexueller Kindesmissbrauch ist eine schwere Straftat. Ich bin froh, dass es darüber, auch durch Ihr unermüdliches Engagement, keinen Zweifel mehr gibt."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Matthias Katsch und Pater Klaus Mertes im Großen Saal von Schloss Bellevue

Es ist mir eine große Freude und Ehre, Ihnen beiden heute das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen.

Sie beide haben sich in der Tat große und vor allem auch bleibende Verdienste um unser Gemeinwesen erworben. Sie haben sich mit viel Mut und großer Beharrlichkeit für die Aufdeckung und Aufklärung abscheulicher Verbrechen in unserer Gesellschaft engagiert. Sie sind eingetreten für die Schwächsten unter uns, für an Leib und Seele tief verletzte Kinder und Jugendliche, für lange Zeit Vergessene oder Verschwiegene.

Der sexualisierte Missbrauch von Macht gegenüber Abhängigen, Schutzbefohlenen, gegenüber Schülerinnen und Schülern – seine Aufklärung und, soweit das überhaupt möglich ist, seine Wiedergutmachung, dieser dringenden und schwierigen Aufgabe haben Sie sich angenommen.

Dafür sind Ihnen nicht nur die Betroffenen dankbar, sondern wir als Gesellschaft. Denn jahrzehntelang haben mächtige Institutionen den Mantel des Schweigens über tausendfachen Missbrauch ausgebreitet. Kinder und Jugendliche mit Missbrauchserfahrung standen oft genug allein und ohne Unterstützung. Sie waren Opfer und doch in einem schweren Dilemma: Nicht selten war die Einrichtung, in der sie missbraucht wurden, ihr Zuhause, nicht zuletzt ein Umfeld von Freunden, auf das sie nicht verzichten wollten. Auch wagten sie lange nicht zu sprechen und taten es meist auch später aus Selbstschutz nicht, wenn dann ein anderes Leben begonnen hatte. Ich lebte zwei Leben, lässt Albert Ostermaier seinen Sebastian in Schwarze Sonne scheine sagen. Und so hielt das Schweigen lange – zu lange!

Zum Aufbrechen des unheilvollen Tabus, das jahrzehntelang über den Sexualverbrechen gegenüber Kindern lag, haben mutige Frauen, Betroffene, die sich öffentlich zu Wort gemeldet haben, in den achtziger Jahren erste wichtige Beiträge geleistet. Durch Ihrer beider Wirken, Herr Katsch und Pater Mertes, ist der Kampf gegen den sexuellen Kindesmissbrauch und für die Aufklärung über die unvorstellbaren Dimensionen, die er mitten in unserer Gesellschaft angenommen hat, zu einem Thema geworden, zu einem Thema, das jetzt auf der Tagesordnung steht und geblieben ist.

Nicht weit von hier, im Canisius-Kolleg, nahm das seinen Anfang. Inzwischen wissen wir, dass sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche weit über die Einrichtung hinausgeht, in der 2010 in Deutschland die Aufdeckung begann. Mit Erschrecken haben wir alle lernen müssen, wie weit verbreitet sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche ist – und wie unendlich mühselig es war und ist, diese Taten ans Licht zu bringen.

Diese Taten wurden von Personen begangen, denen Eltern ihre Kinder anvertraut hatten, deren Aufgabe Schutz und Förderung dieser Kinder war. Die Täter haben ihre Schutzbefohlenen verraten, ihnen Verletzungen an Körper und Seele beigebracht, ihnen oft für ein Leben lang die Fähigkeit geraubt, Vertrauen in andere zu haben. Und Vorgesetzte haben diese Taten jahrelang vertuscht. Die Veröffentlichung des Gutachtens über die Vorgänge im Erzbistum Köln und die Debatten darüber haben uns das alles in den letzten Wochen wieder vor Augen geführt.

Sie beide, Herr Katsch und Herr Pater Mertes, haben in dieser furchtbaren Geschichte aus Verbrechen und ihrer Vertuschung eine Zäsur gesetzt, Sie sind unbeirrbar und zäh bei der Sache geblieben, auch wenn sich vieles und viele der Aufklärung entgegengestellt haben. Sie haben sich damit nicht nur Freunde gemacht, beide haben Sie in Ihren öffentlichen Äußerungen und in Ihren Büchern davon gesprochen und geschrieben. Neben vielem anderen hatten Sie das alte Schimpfwort vom Nestbeschmutzer zu ertragen. Dabei ist es doch gerade so, dass die angeblichen Nestbeschmutzer die ersten sind, die angefangen haben, das Nest zu reinigen. Die es überhaupt ermöglichen, dass die Taten von Jahrzehnten sichtbar werden und dass die Notwendigkeit der Aufklärung und der Sichtbarmachung erkannt wird.

Sie beide haben sich diese Aufgabe nicht ausgesucht. Aber als Sie mit dem konfrontiert wurden, was Sie als unerträglich begriffen hatten, haben Sie nicht gezögert, sich dieser Aufgabe zu stellen.

Wenn heute der Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen als eine gesellschaftliche Aufgabe von größter Bedeutung begriffen wird, wenn sexualisierter Machtmissbrauch nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch in vielen anderen Institutionen Thema ist, wenn das Schweigen gebrochen wird, wenn Opfer den Mut finden, sich zu äußern, wenn Täter namhaft und Missbrauch ermöglichende Strukturen aufgedeckt und verändert werden, wenn Vertuschung geächtet wird und der Schutz des Individuums Vorrang erhält vor dem Schutz der Institution, dann hat das alles auch eine Wurzel in Ihrem Mut, das Schweigen zu brechen.

Darum ging es zuerst, und darum geht es immer wieder: das Schweigen zu brechen, das der stärkste Schutz der Täter und die fortgesetzte Verletzung der Opfer ist.

Das Schweigen zu brechen – den ersten Schritt dazu haben Sie gemacht, Herr Katsch.

Sprechen hilft – aber man muss den Mut dazu finden. Sie und einige Ihrer Mitschüler haben schließlich diesen Mut gefunden. Wenn es leicht wäre, über diese schlimmen Gewalterfahrungen zu sprechen, dann hätte es nicht so lange gedauert, bis das alles ans Licht gekommen ist. Wie viel eigene Scham und Angst überwunden werden müssen, können wir nur ahnen. Denn Sprechen bedeutet in diesem Fall ja auch: Man gibt seine Geschichte aus der Hand, überlässt sie der Öffentlichkeit. Ich kann mir vorstellen, dass dieser erste Schritt sehr schwer war. Sie sind ihn gegangen, und Sie haben viele weitere ermutigt, ihn auch zu gehen.

Sexueller Kindesmissbrauch ist eine schwere Straftat. Ich bin froh, dass es darüber, auch durch Ihr unermüdliches Engagement, keinen Zweifel mehr gibt. Eine Straftat verlangt Aufklärung. Und sie verlangt strafrechtliche Verfolgung. Es muss verhindert werden, dass derselbe Täter an immer neuen Orten immer neue Opfer findet. Gutes Zureden und Forderungen nach individueller Buße reichen nicht aus. Solche Fälle dürfen nie wieder nur als innere Angelegenheiten der betroffenen Institutionen, auch nicht der Kirchen, behandelt werden. Es ist allein schon für die Opfer beinahe unerträglich, dass es in viel zu vielen Fällen, auch wegen der Verjährung, nicht zu einer strafrechtlichen Ahndung gekommen ist.

Dafür, für Ahndung und Aufklärung, für Hilfe und Genugtuung, lieber Herr Katsch, setzen Sie sich bis heute ein, national als Mitinitiator der Betroffenenvereinigung Eckiger Tisch, als Mitglied in der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und in der AG Aufarbeitung Kirchen des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. International engagieren Sie sich in der Vereinigung ECA, Ending Clergy Abuse.

Sie haben eine Aufgabe übernommen, die nicht in Ihrer Verantwortung lag. Wer Opfer sexualisierter Gewalt wird, ist ja nicht für die Aufklärung der Taten verantwortlich. Verantwortung trägt der Täter, tragen die Institutionen, in denen der Missbrauch geschehen ist.

Was Sie zu sagen hatten, verlangte nach einem Gegenüber, nach einem, der Ihre Geschichte anhörte und der Geschichte und Ihnen Glauben schenkte. Es war wichtig, dass Sie in Pater Mertes dieses Gegenüber fanden: dass er sich nicht nur anhörte, was Sie und andere zu sagen hatten, sondern Sie – als verantwortungsvoller Schulleiter und Seelsorger – aufforderte zu sprechen.

Für Sie, Herr Pater Mertes, war das auch kein leichter Schritt. Sie waren und sind leidenschaftlich katholischer Priester, überzeugtes Mitglied des Jesuitenordens – und Sie müssen nun sehen, wie viel schweres Unrecht von einigen Ihrer Mitbrüder verübt wurde. Die Zerrissenheit, die das im Innersten auslöst, haben Sie öfter beschrieben. Und Sie haben auch Ihren Schmerz und Ihren Zorn beschrieben. Als Sie nämlich immer wieder erleben mussten, dass man nicht begreifen wollte, dass es hier nicht nur um die Taten Einzelner ging, sondern um Strukturen, die sexualisierte Gewalt möglich machen und die dringend geändert werden müssen.

Kindesmissbrauch, sexualisierter Missbrauch von Macht, das ist, Sie haben es wieder und wieder gesagt, oft Ergebnis in sich geschlossener Einrichtungen, intransparenter, hierarchischer Strukturen, einer falsch verstandenen Loyalität, die Taten vertuscht, um ein glänzendes Bild nach außen hin aufrechtzuerhalten.

Sie bekämpfen diese Taten in der katholischen Kirche. Aber die ganze Wahrheit ist: Es gibt solche Taten und es gibt Strukturen, die solche Taten begünstigen, an vielen Orten – in staatlichen Institutionen und Vereinen, in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, im Sport, in Chören und Orchestern. Und wir dürfen nicht vergessen, dass es die Familien und das engste familiäre Umfeld sind, in denen Kinder der sexualisierten Gewalt am meisten ausgesetzt sind.

Manches ist inzwischen auf den Weg gekommen, aber: Wir müssen besser werden; denn obwohl es viele Initiativen gibt, die sich tatkräftig einsetzen für die Aufdeckung und Aufarbeitung und für die Verbesserung der Prävention, ist es bisher nicht gelungen, die Ausmaße sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend nachhaltig zu reduzieren.

Wir müssen rasch handeln: Das gilt für den Schutz von Kindern in Familien und Institutionen. Und das gilt für die dringende Aufarbeitung von Fällen, die schon viele Jahre zurückliegen; zahlreiche Betroffene sind inzwischen bereits ältere Menschen, die schon viel zu lange auf Entlastung und Unterstützung warten.

Sie beide haben Ihre Aufgabe von jeweils verschiedenen Seiten ergriffen – und das auch von Beginn an deutlich gemacht. Wer im Namen der Opfer, ihres Leids und ihrer berechtigten Interessen spricht, der denkt und handelt anders als der, der in seiner eigenen Institution, die die Taten begünstigt und die Täter geschützt hat, nach Aufklärung und Veränderung sucht. Da bleibt ein Gegensatz, den Sie nie verwischen konnten und vor allem auch nicht verwischen wollten.

Gerade deshalb ist es richtig, dass Sie beide gemeinsam heute ausgezeichnet werden.

Mit großer Freude händige ich Ihnen beiden jetzt den Verdienstorden aus.