76. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald

Schwerpunktthema: Rede

Weimar, , 11. April 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 11. April beim Gedenkakt zum 76. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald eine Rede in Weimar gehalten: "Die Würde der Opfer verlangt, dass wir sie nicht vergessen. Man kann immer wieder nach Buchenwald kommen, ohne die Geschichte des Lagers erschöpfend zu kennen. Nicht die Geschichte der Opfer, aber auch nicht die Geschichte der Täter, der Mittäter, der Profiteure. All dies ist unsere Geschichte. Die Geschichte unseres Landes. Wir wollen sie nicht vergessen. "

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei einem Gedenkakt zum 76. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald im Deutschen Nationaltheater in Weimar

Jedem das Seine – Juristen kennen diese Worte als einen klassischen Rechtsgrundsatz. Jedem soll Gerechtigkeit widerfahren, seine Eigenart respektiert, seine Neigungen, Bedürfnisse und Interessen sollen anerkannt werden. Niemand soll benachteiligt, herabgesetzt oder verletzt werden. Jedem das Seine, das heißt: Menschen als Individuen achten, die vor dem Gesetz gleich sind. Es ist ein Versprechen auf Recht und Gerechtigkeit für alle, ohne Ansehen der Nationalität, politischer oder religiöser Weltanschauung.

Wer als Häftling durch das Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald trat, der erfuhr die Umkehrung dieses Versprechens, die Pervertierung des Rechts an einem Ort institutionalisierten Unrechts.

Besucher der Gedenkstätte Buchenwald kennen die Inschrift des Lagertors. Sie ist nach innen gerichtet. Erst der Blick zurück vom Appellplatz macht sie lesbar: Jedem das Seine.

Jedem das Seine: Für rund eine Viertelmillion Menschen bedeutete das in den Jahren zwischen 1937 und 1945 Haft, Hunger, Folter und Zwangsarbeit. Mehr als 34.000 männliche Lagerinsassen starben in Buchenwald, in den 27 Frauenaußenlagern Buchenwalds verloren mehr als 300 weibliche Häftlinge ihr Leben. Achttausend sowjetische Kriegsgefangene erschoss die SS in einer eigens dafür erdachten Genickschussanlage, 1.100 Namenlose erhängte sie im lagereigenen Krematorium. Mindestens 12.000 Häftlinge starben auf den Todesmärschen im April 1945 und noch einmal Hunderte Menschen in den ersten Tagen nach der Befreiung. Insgesamt wurden während der Naziherrschaft mindestens 56.000 Menschen in einem der größten Konzentrationslager auf dem Gebiet des nationalsozialistischen Deutschen Reiches getötet.

Und die, die überlebten, die den Tag der Befreiung heute vor 76 Jahren erlebten, die blieben gezeichnet von dem, was ihnen hier in Buchenwald und in den Außenlagern widerfahren war.

Elie Wiesel schrieb in seinen Erinnerungen, dass ihn Wochen nach der Befreiung ein Leichnam aus dem Spiegel anblickte und ihn dieser Blick nicht mehr verlassen habe.

Es ist nicht allein die Zahl der Toten, es sind auch die Umstände, unter denen Menschen in Buchenwald entrechtet und ausgebeutet, gequält und getötet worden sind; auch die Umstände, die den Schrecken dieses Ortes ausmachen. Es ist die Umkehr aller Werte, die Perversion des Rechts, der Moral und der Menschlichkeit.

Und es ist der Ort selbst, der für all das ausgewählt wurde. Es ist die Nachbarschaft zu Weimar – einer Stadt, die einen Namen hat in der Welt: ein Name, der verbunden ist mit der ersten deutschen Republik, der ersten demokratischen Verfassung unseres Landes. Es ist die Stadt Goethes und Schillers, Wielands und Herders.

Schloss Ettersburg, der Sommersitz der Herzogin Anna Amalia auf dem Ettersberg, war nicht ein Ort deutscher Klassik – es war der Ort.

Gleich nebenan ließ die SS 1937 das Konzentrationslager Ettersberg errichten. Sie musste es noch im selben Jahr umbenennen, weil die NS-Kulturgemeinde in Weimar Einspruch erhoben hatte gegen die Verknüpfung des Namens Ettersberg mit einem Konzentrationslager. Ettersberg sei verbunden mit dem Namen Goethes.

Es ging um Namen. Mehr Widerspruch gegen die Existenz des Lagers – wenige Kilometer Luftlinie vom Frauenplan entfernt – regte sich damals kaum.

Das Konzentrationslager wurde errichtet. Man einigte sich auf den Namen Buchenwald.

Die Häftlingstischlerei wird im Februar 1942 den Auftrag bekommen, Kopien der Möbel aus Schillers Arbeits- und Schlafzimmer anzufertigen, ebenso Kisten zur Auslagerung der Bibliothek Goethes. Wegen drohender Bombenangriffe auf Weimar sollten die wichtigsten Kulturgüter der Stadt ausgelagert werden, ohne dass die Museen schließen mussten.

Jedem das Seine: Goethe und Schiller den einen, Tod und Verderben den anderen. Am Ende werden die Stadtoberen von Weimar und Vertreter beider Kirchen die Einwohner der Stadt und der Umgebung von Mitschuld oder Verantwortung freisprechen. Nichts gewusst, ja nicht einmal geahnt haben zu wollen, war auch hier die Ausflucht.

Die Kulturstadt Weimar – darum bitten Vertreter von Stadt und Kirchen die amerikanische Militärregierung – solle nicht mit einem Makel behaftet werden, den sie nicht verdient hat.

Dabei war die Ausbeutung der Häftlinge, die Zwangsarbeit in Betrieben der Umgebung ein fester Baustein der regionalen Wirtschaft, und zwar nicht nur der Rüstungswirtschaft.

Die Stadtväter werden geahnt, nein, gewusst haben, dass das, was auf dem Ettersberg geschah, für immer mit Weimar verbunden bleiben wird.

Hochkultur und Barbarei: Dass dies in Zusammenarbeit und guter Nachbarschaft geschah, schreibt der Historiker Jens Schley, sei das eigentlich Beunruhigende an dem Nebeneinander von Weimar und Buchenwald.

Beunruhigend – das bleibt es bis heute. Deshalb sollten wir nicht vergessen und auch nicht vergessen wollen, was hier geschah. Denn wer sich nicht mehr daran erinnert, was geschehen ist, der hat auch vergessen, was geschehen kann.

Deshalb bin ich dankbar für die Weimarer Erklärung, die ehemalige Häftlinge des Lagers und Vertreter der Stadt gemeinsam abgegeben haben, Erinnerung leben und Verantwortung übernehmen zu wollen. Jede Initiative, die sich der Erinnerung an Buchenwald und seiner Außenlager widmet, trägt dazu bei. Und ich weiß von vielen privaten Initiativen in Thüringen, die zur Geschichte ehemaliger Außenlager von Buchenwald, zu den Todesmärschen in den letzten Kriegstagen forschen und so dazu beitragen, dass die Schicksale so vieler Häftlinge nicht vergessen werden.

Denn auch das gehört zur Geschichte Buchenwalds: dass Männer und Frauen aus nahezu allen von der deutschen Wehrmacht besetzten europäischen Ländern hierhergebracht wurden – Kriegsgefangene, aber auch willkürlich Verhaftete, die zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt wurden.

Buchenwald lebt in vielen europäischen Familien fort. In französischen, niederländischen, polnischen und tschechischen Familien und Familien vieler anderer Nationalitäten. Die Massengräber im Außenlager Mittelbau-Dora und dem dazugehörigen KZ Ellrich-Juliushütte gelten als größter französischer Friedhof außerhalb Frankreichs.

In Buchenwald waren Kommunisten und Demokraten eingekerkert, Homosexuelle und sogenannte Asoziale. Juden, Sinti und Roma wurden hierher verschleppt und ermordet.

Mit seiner Vielzahl von Opfergruppen steht Buchenwald für die gesamte Barbarei der Nazis, für einen aggressiven Nationalismus nach Außen, für Diktatur und Unterdrückung nach Innen, und für ein völkisches Denken. Buchenwald steht für Rassenwahn, Folter, Mord und Vernichtung.

Sowjetische Kriegsgefangene und zur Zwangsarbeit deportierte Russen, Belarussen und Ukrainer stellten die größte Gruppe im Konzentrationslager Buchenwald. Für sie sah die pseudowissenschaftliche Rassenlehre der Nationalsozialisten keinen Platz in der menschlichen Gesellschaft vor. Ja, sie wurden ihr nicht einmal zugerechnet, ebenso wenig wie Juden und damals sogenannte Zigeuner. Sie waren zur Vernichtung vorgesehen, durch Arbeit oder Hunger, meistens durch beides.

Mancherorts konnte die deutsche Bevölkerung diese Vernichtung beobachten – in Gefangenenlagern, die keine Lager waren, in denen Kriegsgefangene unter freiem Himmel, zwischen Stacheldraht eingepfercht, bestenfalls bei Wasser und Brot gehalten wurden.

In diesem Jahr jährt sich der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion zum 80. Mal. Das Datum, der 22. Juni 1941, hatte auch unmittelbare Folgen für das Konzentrationslager Buchenwald. Mit den sowjetischen Kriegsgefangenen erreichte eine neue Gruppe von Opfern den Ettersberg. Im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wurden an der Front gefangengenommene politische Kommissare, Funktionäre und Juden sofort erschossen. Doch auch unter den Kriegsgefangenen in den Lagern auf deutschem Reichsgebiet, fahndete die Gestapo weiter nach Verdächtigen. Wer von der Wehrmacht an die SS ausgeliefert wurde, verlor seinen Status als Kriegsgefangener, war für die Ermordung im nächstgelegenen Konzentrationslager vorgesehen.

Für sie war in Buchenwald ein ehemaliger Pferdestall zu einer Genickschussanlage umgebaut worden. Es ist ein Ort, der dazu erdacht war, feigen Mord tausendfach und im Akkord zu begehen, der nach demselben Muster entworfen war, wie die Gaskammern in den Vernichtungslagern Auschwitz und Treblinka. Man täuschte die Gefangenen, führte sie zu einer medizinischen Untersuchung, vorbei an mit Arztkitteln verkleideten SS-Männern und stellte sie schließlich vor eine Messlatte, die an der Wand angebracht war. In einem Raum dahinter konnte ein SS-Mann durch einen freigelassenen Spalt seine Opfer auf der exakt angegebenen Höhe mit einem Genickschuss hinterrücks töten.

Ja, es war eine Diktatur, eine nationalsozialistische Herrschaft, die für grausamste Verbrechen und Völkermord verantwortlich war. Aber es waren Menschen, Deutsche, die anderen Menschen das antaten.

Achttausend sogenannte Verdächtige, sowjetische Offiziere und Juden, wurden allein in Buchenwald umgebracht. Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren zu lange eine vergessene Opfergruppe. Es ist deshalb richtig, dass wir ihr, gerade in diesem Jahr, mehr Aufmerksamkeit widmen.

Die Würde der Opfer verlangt, dass wir sie nicht vergessen.

Man kann immer wieder nach Buchenwald kommen, ohne die Geschichte des Lagers erschöpfend zu kennen. Nicht die Geschichte der Opfer, aber auch nicht die Geschichte der Täter, der Mittäter, der Profiteure.

All dies ist unsere Geschichte. Die Geschichte unseres Landes. Wir wollen sie nicht vergessen.

Ich bin dankbar, dass die Erinnerung an Buchenwald immer wieder, von vielen und mit großer Leidenschaft als Aufgabe angenommen wird. Mein Dank gilt den Zeitzeugen aus aller Welt, die das schmerzhafte Erinnern auf sich nehmen und uns dadurch ein Vermächtnis hinterlassen. Ich danke den Gedenkstättenleitern und Kuratoren in Buchenwald und Mittelbau-Dora, die immer wieder zeitgemäße Wege des Gedenkens und Erinnerns finden. Ich danke ihnen auch dafür, dass sie all jenen entschlossen entgegentreten, die die Würde der Opfer heute bewusst missachten. Und ich danke den vielen jungen Menschen, den Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden, Studentinnen und Studenten, die sich ehrenamtlich in ihrer Freizeit für die Erinnerungsarbeit engagieren. Sie alle tun das Richtige. Lassen Sie sich von Anfechtungen nicht beeindrucken. Ihre Arbeit bleibt unverzichtbar. Nicht, weil wir heute Verantwortung dafür tragen, was damals geschehen ist, sondern weil wir alle, die wir uns als Menschen begreifen, Verantwortung dafür tragen, dass es nie wieder geschieht.