Videogrußwort beim digitalen Festakt zu 500 Jahre Martin Luther auf dem Wormser Reichstag

Schwerpunktthema: Rede

Worms, , 16. April 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 16. April mit einer Videoansprache den digitalen Festakt zu 500 Jahre Martin Luther auf dem Wormser Reichstag in Worms eröffnet: "Im geduldigen Zuhören, im wahrhaftigen Austausch miteinander, in der Erkenntnis, dass die alleinige Wahrheit meist nie auf einer Seite ist, lassen sich sehr viele Fragen zivilisiert und verletzungsfrei klären. Man muss nicht seinen persönlichen Positionen oder Überzeugungen untreu werden, um das Denken in Feindbildern zu überwinden."


Liebe Bürgerinnen und Bürger von Worms,

es ist unendlich schade, dass wir heute nicht bei Ihnen sein können: bei Ihnen in Worms, das in diesen Tagen seinen weltgeschichtlichen Augenblick feiert. Ich bin sicher, viele haben sich lange darauf gefreut. Sie grüße ich ganz besonders, aber auch alle, die jetzt von überallher zuschauen.

Bei den Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum vor vier Jahren war es ein eher akademisches Ereignis, dessen wir gedachten: Luthers Veröffentlichung seiner Thesen, womit ja alles seinen Anfang nahm.

Heute aber erinnern wir an die Tage, die man auf Zeit und Stunde genau bestimmen kann, in denen die Gedanken, die religiösen Erfahrungen und die theologischen Einsichten eines Professors und Mönchs aus dem eher am Rande liegenden Wittenberg zur Staatsangelegenheit wurden. Luther steht vor Kaiser und Reich – und er steht vor Kaiser und Reich unerschütterlich zu seinen Einsichten, zu seinen Erkenntnissen und seinen Überzeugungen.

Wir gedenken einer europäischen Sternstunde des erwachten individuellen Gewissens. Ja, nicht nur für uns Deutsche, die Martin Luther in den vergangenen Jahrhunderten auf sehr verschiedene Weise geehrt, interpretiert und auch instrumentalisiert haben – nein, für ganz Europa und für die Welt bleiben diese Stunden und Tage von Worms vor fünfhundert Jahren eine kostbare, eine prägende Erinnerung.

Dass Religion nicht ohne Freiheit gedacht und gelebt werden kann, dass die Freiheit, nach seinem Gewissen sprechen und leben zu können, zu unseren unverlierbaren Grundüberzeugungen gehört – das lag 1521 ganz gewiss noch nicht im Denkhorizont der Zeitgenossen. Das Mittelalter war noch längst nicht vorbei.

Aber der Keim war hier gelegt.

Der Keim zur Überzeugung: Nicht Autorität, weder Kaiser noch Papst, nicht Tradition allein, wie heilig und lang sie auch sei, dürfen das religiöse und schließlich auch das gesellschaftliche Leben bestimmen. Luthers Beharren darauf, durch Argumente zu überzeugen oder überzeugt zu werden, haben die geistige, die religiöse und schließlich auch die politische Welt zutiefst verändert.

Das hat, wir wissen es, auch zutiefst tragische Folgen gehabt. Die Spaltung der Christenheit hat zu schrecklichen Auseinandersetzungen, zu Kriegen, zu Terror und zu unversöhnlichen Feindschaften geführt. Und das Reich, das der Kaiser schützen wollte, zerfiel.

Es hat unendlich lang gedauert, bis in den Konfessionen endlich nach gebliebenen und neuen Gemeinsamkeiten gesucht wurde. Auch hier sind Einzelne zunächst ihrem theologischen Gewissen gefolgt, haben Denkwege geöffnet und schließlich auch neue Lebenswege des Gemeinsamen ermöglicht. Wenn heute Katholiken und Protestanten gemeinsam sich an die Ursprünge der Reformation erinnern, dann verdanken wir das auch überzeugten Vorkämpfern für die Ökumene, wie dem gerade verstorbenen Theologen Hans Küng. Ihm und allen ähnlich Engagierten sollten wir dankbar sein.

Die Erinnerung an Worms sagt uns schließlich: Es gibt eine Stunde des Gewissens, in der ein Mensch ganz allein mit sich selbst ist, in der es ganz allein auf seinen Mut, auf seinen Willen und seine Standfestigkeit ankommt. Luther hat eine solche Stunde des Gewissens exemplarisch erlebt und bestanden – er hat sie bestanden, weil er bereit war, dafür auch Freiheit und Leben aufs Spiel zu setzen. Luthers Rückreise mit ihren beständigen Bedrohungen und die Flucht in das Versteck auf der Wartburg gehören zu den Ereignissen in Worms dazu.

Kein Zweifel: das sind besondere, außerordentliche Situationen. Wir sollten deshalb – auch aus Achtung vor wirklich schwerwiegenden Gewissensfragen – nicht jede unserer Auseinandersetzungen, nicht jeden Streit um richtige Wege zu Fragen der Wahrheit und des Gewissens machen.

Im geduldigen Zuhören, im wahrhaftigen Austausch miteinander, in der Erkenntnis, dass die alleinige Wahrheit meist nie auf einer Seite ist, lassen sich sehr viele Fragen zivilisiert und verletzungsfrei klären. Man muss nicht seinen persönlichen Positionen oder Überzeugungen untreu werden, um das Denken in Feindbildern zu überwinden. Selbstbewusstsein ist nicht mit Selbstbehauptung um jeden Preis zu verwechseln. Der Selbstbewusste kann Fragen zulassen und sich auf neue Sichtweisen einlassen.

Wir erinnern heute an eine Stunde des Gewissens. Und wir setzen uns dafür ein, dass solche Stunden möglichst selten nötig sind.