Abschluss des 3. Ökumenischen Kirchentages

Schwerpunktthema: Rede

Frankfurt am Main, , 16. Mai 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 16. Mai vor dem Abschlussgottesdienst des 3. Ökumenischen Kirchentages in Frankfurt am Main eine Rede gehalten: "Wir müssen wieder Brücken bauen zwischen Menschen und Gruppen, die die Pandemie verfeindet hat. Wir müssen nicht alle einer Meinung sein – aber wir brauchen einander. Denn wenn wir eines aus Corona gelernt haben, dann doch das: Wir sind aufeinander angewiesen!"

Bundespräsident Steinmeier hält eine Rede zum Abschluss des 3. Ökumenischen Kirchentages an der Weseler Werft in Frankfurt am Main

Liebe Brüder und Schwestern, Ihr ahnt gar nicht, was für ein wunderbarer Anblick das von hier vorn ist, nach so vielen Monaten der Pandemie! Besseres Wetter hätten wir verdient! Aber Regenwolken stören hier keinen.

Ich sehe hunderte fröhliche Gesichter von Menschen, die hier zusammenkommen und gemeinsam Gottesdienst feiern. Ich sehe Katholiken und Protestanten, Orthodoxe und Angehörige von Freikirchen, von anderen Religionen, Junge und Alte, Laien und Geistliche, Kinder und Jugendliche, Eltern und Großeltern. Ich sehe Zuversicht und Tatkraft, ich sehe Rücksichtnahme aufeinander, ich sehe Glauben und ich spüre Hoffnung. Schaut hin, das war das Leitwort für diesen Ökumenischen Kirchentag.

Wenn einer hinschaut, schaut er einen anderen an. Hinschauen ist mehr als sehen. Hinschauen ist erfahren, entdecken, spüren. Wir haben einander erfahren, in der Ökumene, haben erfahren, wie viel mehr uns als Christen verbindet als uns trennt.

Wenn jemand hinausschaut, schaut ein anderer hinein. Wir Christen stellen uns dem Blick der Welt und ihren Fragen. Das ist nicht immer angenehm, viele schwere Themen treiben uns um. Aber die Welt sieht auch, dass Glaube nicht nur Vergangenes bewahrt, sondern sich der Zukunft zuwendet, ihre Herausforderungen annimmt. Und: Die Welt sieht Menschen, die sich berühren lassen von der Not anderer, die sich einmischen, die sich engagieren.

Wenn eine hinschaut, sieht sie nicht nur das Nahe, sondern auch das Ferne und das Tiefe. Wir wollen eine gute Zukunft, die Schöpfung bewahren, den Frieden auch am anderen Ende der Welt.

Wir sehen mit Schrecken in diesen Tagen den neuerlichen Ausbruch der Gewalt im Nahen Osten. Wir sehen unschuldige Opfer auf beiden Seiten. Wir hoffen auf Bemühungen, die der Gewalt ein Ende setzen.

Wir sehen auch den antisemitischen Hass auf unseren Straßen. Nichts rechtfertigt die Bedrohung von Juden in Deutschland oder Angriffe auf Synagogen in unseren Städten. Lasst uns diesem Hass gemeinsam entgegentreten!

Ehrlich hinschauen, einander vertrauen und gemeinsam handeln, das war die Formel für diesen Kirchentag. Das bleibt Auftrag weit über den Kirchentag hinaus.

Noch ächzen wir unter Maßnahmen, die die gesundheitliche Dimension der Pandemie verlangt. Vergessen wir darüber aber nicht die soziale Dimension der Krise. Vergessen wir nicht diejenigen, die kein Grün ums Haus haben und nur wenig Raum zum Wohnen.

Vergessen wir nicht diejenigen, die kein Homeoffice machen können, sondern an vorderster Front für uns alle schuften – im Krankenhaus und in der Pflege, im Einzelhandel, in Kitas und Schulen, in Bus und Bahn. Vergessen wir nicht diejenigen, die einsam und allein sind, die Schaden an der Seele nehmen, und auch nicht die, die in der Familie Gewalt erfahren.

Lasst uns genau hinschauen – aber beim Schauen und Abwarten darf es nicht bleiben. Denn die sozialen Folgen des Virus werden nicht einfach so verschwinden, mit der letzten Impfung, der letzten Maßnahme.

Wie gern hätten wir diesen Ökumenischen Kirchentag als großes Fest am Ende dieses Albtraums gefeiert. So weit sind wir leider noch nicht.

Dennoch haben wir Grund zur Freude. Vernunft, Geduld und verantwortliches Verhalten der allermeisten, das Wunder der Impfstoffe, die in Rekordzeit entwickelt wurden – all das bringt uns dem rettenden Ufer immer näher. Wir sehnen uns nach Normalität und wir wissen gleichzeitig: Nicht alles wird so sein wie vor der Pandemie. Aber Familie und Freunde wieder zu treffen, einander wieder die Hände zu reichen, einander wieder zu umarmen, auch wieder Gottesdienste und Kirchentage zu feiern, wie wir sie kannten – all das wünschen wir uns sehnlichst zurück.

Mein Wunsch heute ist einfach: Schauen wir auch nach Corona genau hin! Und wir werden hinschauen, weil uns die Welt nicht kaltlässt, weil wir die Welt zu einem besseren Ort machen wollen, weil noch so viel zu tun ist.

Bei uns heißt das auch: Wir müssen die Wunden heilen, die Corona in unserer Gesellschaft geschlagen hat. Wir haben erbittert gestritten – über Virus und Maskenpflicht, über Beschränkung und Lockerung, über Kita und Schule, über Impfstoffe und Impfreihenfolge. Bei vielen ist die Geduld erschöpft, die Nerven liegen blank. Freundschaften sind zerbrochen, Familien entzweit worden, tiefe Risse gehen durch unsere Gesellschaft.

Heilung dieser Wunden bedeutet Wiederannäherung, wo wir uns fremd geworden sind. Diesen Ökumenischen Kirchentag hat geprägt, mehr Wert auf das zu legen, was uns verbindet, als auf das, was uns trennt. Das gilt auch für die Gesellschaft als Ganze.

Natürlich muss aufgearbeitet werden. Aber wir sollten uns nicht in der ehrgeizigen, schnellen Suche nach Fehlern und Schuldigen erschöpfen. Der Prozess der gesellschaftlichen Versöhnung wird länger dauern als die fünfzehn Monate, die hinter uns liegen.

Die Zukunft gewinnen wir nicht im unversöhnlichen Streit miteinander, nicht mit Abschottung, Rechthaberei und Gesprächslosigkeit. Wir müssen wieder Brücken bauen zwischen Menschen und Gruppen, die die Pandemie verfeindet hat. Wir müssen nicht alle einer Meinung sein – aber wir brauchen einander.

Denn wenn wir eines aus Corona gelernt haben, dann doch das: Wir sind aufeinander angewiesen!

Beherzigen wir das, liebe Brüder und Schwestern, mehr als in der Vergangenheit – und was immer kommt: Geben wir acht aufeinander!