Videogrußwort zum 150. Jahrestag des Deutschen Anwaltvereins

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 7. Juni 2021

Der Bundespräsident hat am 10. Juni beim 72. Deutschen Anwaltstag mit einer Videobotschaft den Deutschen Anwaltverein zum 150-jährigen Bestehen gewürdigt: "Ohne eine fachkundige Rechtsanwaltschaft bliebe der Rechtsstaat für viele Bürger unerreichbar, viele Bürgerinnen könnten ihre rechtlichen Interessen kaum selbst verfolgen. Sicher wäre ein einfacheres, für alle leicht verständliches Recht wünschens- und erstrebenswert. Aber wir wissen nur zu gut: Das Leben ist so vielfältig, dass Regelungen zwangsläufig abstrakt bleiben müssen."


Zu Ihrem diesjährigen Anwaltstag – dem 72. – übermittele ich Ihnen meine herzlichen Grüße in alle Teile unseres Landes – nach Apolda und Essen, nach Frankfurt und Zwickau, überall dahin, wo Sie vor Ihren Bildschirmen sitzen. Wir sehen uns bedauerlicherweise nicht hier in Berlin, wie es eigentlich vorgesehen war. Sehr gerne hätte ich einen Festvortrag gehalten und wäre Ihnen persönlich begegnet, um die Gelegenheit zu nutzen, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Noch immer ist alles anders als in der Zeit vor der Pandemie – selbst wenn wir uns an Videokonferenzen und digitale Formate bei Tagungen und Kongressen mittlerweile gewöhnt haben. An manchen dieser Kongresse nehmen sogar mehr Menschen teil als an Präsenzveranstaltungen. Vielleicht ist das auch heute ein positiver Effekt. Trotzdem werden uns allen das persönliche Gespräch in den Kaffeepausen, der Gedankenaustausch oder auch nur ein fröhliches Zusammensein nach der Diskussion fehlen.

Aber wir dürfen zuversichtlich sein, dass all das bald wieder möglich sein wird.

Die Pandemie und die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus haben Ihren Berufsalltag komplett verändert. Der Kanzleibetrieb musste angepasst werden. Das Beratungsgespräch mit der Mandantschaft findet oft als Telefon- oder Videokonferenz statt, die Gerichte arbeiten zum Teil nur sehr eingeschränkt und unter strengen Hygienevorschriften. Ich kann gut nachvollziehen, dass Sie, liebe Rechtsanwältinnen und -anwälte, vor besonderen Herausforderungen standen und vor allen Dingen immer noch stehen. Dass Sie diese Herausforderungen gemeistert haben, dass Sie unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie die Funktionsfähigkeit der anwaltlichen Rechtspflege aufrechterhalten haben – dafür möchte ich Ihnen heute danken. An vielen Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Pandemiemaßnahmen waren Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte beteiligt, haben dazu beigetragen, dass selbst im Rahmen einer solchen Katastrophe die notwendigen Bekämpfungsmaßnahmen einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden – und diese Kontrolle deutlich macht, dass unser Rechtsstaat funktioniert.

Die Anwaltschaft ist das Rückgrat des Rechtsstaates. Wenn wir vom Rechtsstaat sprechen, dann denken Bürgerinnen und Bürger meist zu allererst an den Rechtsschutz durch die Gerichte, an den Anspruch auf rechtliches Gehör, an Berufung, Revision oder gar Verfassungsbeschwerde. Vor Gericht und auf hoher See sind wir allein in Gottes Hand, lautet eine römische Juristenweisheit. Sie besagt nichts anderes, als dass das Recht meist für den Laien so komplex und so unübersichtlich ist, dass man ohne besondere Fachkenntnisse eine Rechtslage oft nicht richtig beurteilen kann. Ohne eine fachkundige Rechtsanwaltschaft bliebe der Rechtsstaat für viele Bürger unerreichbar, viele Bürgerinnen könnten ihre rechtlichen Interessen kaum selbst verfolgen. Sicher wäre ein einfacheres, für alle leicht verständliches Recht wünschens- und erstrebenswert. Aber wir wissen nur zu gut: Das Leben ist so vielfältig, dass Regelungen zwangsläufig abstrakt bleiben müssen. Und dass diese Abstraktion wiederum Auslegungen und Subsumption erfordert. So schnell werden Ihr Beruf und ihre Dienstleistung also nicht überflüssig werden. In einem Positionspapier hat der Deutsche Anwaltverein gemeinsam mit dem Deutschen Richterbund Gemeinsame Empfehlungen für einen starken Rechtsstaat veröffentlicht und den Zugang zum Recht zutreffend als Teil der Daseinsvorsorge eingeordnet.

Die Corona-Pandemie hat uns allen, auch Ihnen drastisch vor Augen geführt, dass wir mit der Digitalisierung nicht auf der Höhe der Zeit sind. Sie plädieren dafür, einen Digitalpakt Rechtspflege zu schließen, um die Digitalisierung voranzutreiben. Denn die Digitalisierung wird auch den Anwaltsberuf verändern. Unser Recht basiert auf konditionalen Verknüpfungen – auf Tatbestand und Rechtsfolge, auf einem wenn – dann. Diese Logik kommt der Digitalisierung mit Algorithmen und KI-Systemen entgegen. Schon heute gibt es Rechtsbereiche, in denen mit Hilfe von Legal Tech viele anwaltliche Dienstleistungen erledigt werden.

Dass Sie diese Herausforderung nicht nur erkannt haben, sondern auch mit Elan angehen, kann man an dem Programm des diesjährigen Anwaltstages sehen. Er findet nicht nur digital statt: Viele Ihrer achtzig Online-Fachveranstaltungen befassen sich selbst mit der Digitalisierung. Das reicht von einem Online-Seminar mit dem Titel Der Anwaltsberuf im Lichte der Digitalisierung über Europa und Legal Tech bis zu Künstliche Intelligenz in zivilrechtlicher Verantwortung. Spannende Themen, und auf der Höhe der Zeit.

Besonders erwähnen möchte ich aber auch, dass Sie sich nicht nur mit den Themen der Gegenwart befassen, sondern angesichts Ihrer langen Tradition und Geschichte auch mit wichtigen historischen Fragen: Opfer, Mitläufer, Täter? – Die Rolle von DAV-Anwälten im Nationalsozialismus und bei dessen rechtsstaatlicher Aufarbeitung bis heute – eine Veranstaltung, an der ich gerne teilgenommen hätte. Das gilt auch für das aktuelle Thema Equal Rights – Frauen in der Anwaltschaft und beim DAV.

Aus einer Vielfalt von Veranstaltungen sind das nur einige Themen, die nach meinem Eindruck die gesamte Spannbreite heutiger anwaltlicher Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, aber auch die öffentliche Hand abdecken und nichts zu wünschen übriglassen.

Für all das wünsche ich Ihnen von Herzen interessante Vorträge, angeregte Diskussionen, spannende Einblicke, neue Erkenntnisse und vielfältige Einsichten. Vor allen Dingen: Bleiben Sie gesund!