Niemand von Ihnen, das weiß ich natürlich, tut seine Arbeit, um eines Tages dafür einen Preis zu bekommen. Im Gegenteil glaube ich, dass gerade diejenigen Stücke, die für den Theodor-Wolff-Preis vorgeschlagen und dann letztlich ausgezeichnet werden, gerade aus einem selbstverständlichen journalistischen Ethos heraus geschrieben werden.
Wer so arbeitet wie diejenigen, die in den vergangenen Jahren mit diesem Preis ausgezeichnet wurden, und die, die heute Kandidaten sind, der hat nicht zuerst sich selbst oder sein Ansehen bei Kolleginnen und Kollegen im Kopf, sondern ist leidenschaftlich an der Sache interessiert, an der Wahrheit und an der Relevanz einer Sache, auch an der öffentlichen Diskussion darüber – und vor allem und jeden Tag neu an den Leserinnen und Lesern.
Ich danke heute, noch bevor gleich Lob und Preis Einzelne von Ihnen ereilt, ganz bewusst allen Journalistinnen und Journalisten in unserem Land – allen, die mit dieser ethischen Einstellung und mit dieser Leidenschaft und auch Lust an der Sache ihrer Arbeit nachgehen.
Der Theodor-Wolff-Preis wird von der gesamten Branche vergeben, und man kann ihn nur einmal bekommen. Der Preis erinnert an einen der besten deutschen Journalisten, einen begnadeten Redakteur und einen entschiedenen Republikaner und Demokraten. Einer, der die oft beengenden Zustände im Kaiserreich noch gut kennengelernt hatte und der im Ersten Weltkrieg schon früh und mutig für einen Verständigungsfrieden mit Frankreich eingetreten ist. Und der dann mit aller Kraft dafür arbeitete, dass die junge deutsche Republik mit ihren demokratischen Freiheiten in einer europäischen Friedensordnung von ihren Bürgerinnen und Bürgern auch angenommen und geschätzt werden konnte. Hätte man ihm, der dann von den Nazis vertrieben und ausgebürgert wurde, vorgeworfen, für eine sogenannte Systempresse zu arbeiten, so wäre ihm das nicht als unrühmlich, sondern vermutlich eher als Ehrentitel erschienen. Denn dieses sogenannte System: es sind Freiheit, Recht, Demokratie, Menschlichkeit. Theodor Wolff und sein Werk verpflichten uns.
Das Wichtigste, das der kritische Qualitätsjournalismus erhalten und stärken muss, ist Vertrauen der Leserinnen und Leser; ist Vertrauen in die Wahrheit des Geschriebenen, ist Vertrauen in die Integrität und die Unbestechlichkeit der Schreibenden, ist Vertrauen in die unparteiische Vollständigkeit des Berichteten und Vertrauen in die gewissenhafte, kritische Prüfung der Sachverhalte.
Und vielleicht auch das Vertrauen darauf, dass es sich bei den Berichtsgegenständen nicht um zufällige Lieblingsthemen des Autors oder einen momentanen Hype handelt. Dass es vielmehr um Geschichten, Personen, Prozesse geht, die für das politische und gesellschaftliche Zusammenleben oder für das persönliche Leben der Leserinnen und Leser wichtig sind.
Das gilt besonders für den Lokaljournalismus. Das möglicherweise eher kleinteilige Puzzle von schwierig zu bekommenden Informationen in Stadtteil und Kommune, erst recht während des Lockdowns und der Kontaktbeschränkungen, ist per se keine leichtere Aufgabe als der analytische Blick des Korrespondenten auf die große Geopolitik in Washington oder Peking – keine leichtere Aufgabe und vor allem keine unwichtigere! Und dazu kommt: In der Unmittelbarkeit des Lokaljournalismus ist es für die Leser selbst viel leichter, zwischen wahr und falsch, zwischen genau und ungenau zu unterscheiden.
Guter Journalismus gibt Orientierung. Oder richtiger: Er schafft die Voraussetzungen dafür, dass der Einzelne und die Gesellschaft sich orientieren können. Dazu braucht es nicht in erster Linie entschiedene Meinungen. Meinungen bilden sich die Menschen gerne selber – auch wenn sie gelegentlich gerne wissen möchten, wie erfahrene Beobachter dieses oder jenes einschätzen und bewerten. Die besondere Verantwortung, die mit solchen Meinungsstücken verbunden ist, von denen ganz zu Recht auch ein herausragendes Beispiel heute ausgezeichnet wird, versteht sich von selbst.
Meistens aber wollen die Menschen in erster Linie kritisch geprüfte, verständlich dargestellte Tatsachen: Transparenz im Unübersichtlichen, Entdeckung von verborgenen Zusammenhängen. Und dazu brauchen Sie, die Journalistinnen und Journalisten, einen möglichst gerechten, möglichst erfahrenen und dennoch immer neugierigen Blick auf die Wirklichkeit. Auf die Wirklichkeit, wie sie die Mehrheit erlebt, und auf die Wirklichkeit, wie sie von Minderheiten erlebt wird.
Wenn der alte Spruch wahr ist, dass die Themen auf der Straße liegen, dann müssen Journalistinnen und Journalisten auch tatsächlich auf die Straße gehen, um die Themen dort zu finden. Twitter & Co. sind keine Straßen des echten Lebens. Sie sind eher die Highways der Empörung.
Um nur ein Beispiel aus diesem aufgerauten Pandemiejahr zu nennen: In der Debatte um #Allesdichtmachen, deren Beiträge ich hier im Einzelnen weder politisch noch ästhetisch kommentieren will, hatte ich den Eindruck, die Wellen aus Empörung und Gegenempörung schwappten sehr viel schneller und lautstärker durch die Republik, als dass eine nüchterne Antwort auf die doch naheliegende Frage gesucht wurde: Wer hat da eigentlich was genau und warum gesagt? Erst Berichterstattung, dann Meinung – diese Reihenfolge in Erinnerung zu bringen, dafür wäre ich nicht nur als Präsident, sondern auch als Leser sehr dankbar.
Mehr als noch vor wenigen Jahren sind wir, das erleben Sie alle sehr viel stärker als viele im Lande, nicht nur einer Überfülle von Informationen ausgesetzt, sondern immer stärker ganz bewussten Fehlinformationen, gezielt gestreuten Lügen und Falschmeldungen. So können Einzelne manipuliert und inzwischen ganze Gemeinwesen destabilisiert werden. Wir haben es in der jüngeren Vergangenheit erlebt – etwa bei dem gezielten Versuch, bestimmte Impfstoffe schlechtzureden oder Ängste in einem Publikum zu wecken, das selber keine Überprüfungsmöglichkeit hat –, und wir sind von den Sicherheitsbehörden gewarnt vor dem, was etwa im Zusammenhang mit der kommenden Bundestagswahl an gezielten Versuchen zur Beeinflussung auf uns zukommen kann. Wenn ausländische Geheimdienste mit gefälschter Identität und brutalen Lügen immer wieder versuchen, anderswo einen Onlinewahlkampf zu führen, müssen wir offenkundig auf der Hut sein.
Wir brauchen größtmögliche Transparenz: Wer steckt hinter einem Post? Ein automatisierter Bot, eine gekaufte Influencer-Meinung oder eine unabhängige Bürgerstimme?
Natürlich tragen die digitalen Plattformen in dieser Frage eine entscheidend große Verantwortung. Eine Verantwortung, der sie bis jetzt noch nicht wirklich gerecht werden. Doch auch jede Kontrolle, Filterung, Regulierung funktioniert nicht ohne das einzig wirkliche Gegenmittel: die kritisch geprüfte Darstellung der Wirklichkeit und von Informationen, von denen die Menschen wissen, dass sie ihnen vertrauen können.
Vertrauen – das wissen Verlegerinnen und Verleger – ist schwer zu gewinnen, aber leicht zu verspielen. Umso mehr in einer Pandemie, in der das, was als wahr gilt, niemals unumstößlich feststeht, sondern um das Woche für Woche immer wieder neu gerungen wird – durch wissenschaftliche Diskussion, durch Hypothesen und Gegenhypothesen, durch Testreihen und Praxiserfahrungen. Auch die
Wissenschaft kann – zur Enttäuschung vieler – die Sehnsucht nach Eindeutigkeit auch in der Krise nicht erfüllen. Und ich danke allen Journalistinnen und Journalisten, die dieser Sehnsucht nach Eindeutigkeit nicht nachgeben, so viele Klicks das auch bringen würde.
Am Ende geht es für die Menschen immer um die gleiche Frage: Können wir dem, was uns gesagt wird, glauben? Das ist die große Verantwortung, in der jede seriöse journalistische Arbeit steht, und ich bin froh um die vielen von Ihnen, die Journalistinnen und Journalisten, Verlegerinnen und Verleger, die sich dieser Verantwortung mit Stolz und Ehrgeiz stellen.
Ein letzter Gedanke: Buchstaben sind gefährlich, Wörter können verletzen, können vernichten.
Der Filmklassiker All the President‘s Men
über die Aufdeckung von Watergate beginnt mit dem Tippen auf einer Schreibmaschine. Die Buchstaben sieht und hört man förmlich wie Schüsse aufs Papier knallen.
Diese erste Einstellung des Films erinnert daran, vielleicht etwas martialisch, wie gefährlich aufklärender, gut recherchierter Journalismus für diejenigen werden kann, die verantwortlich sind für größtes Unrecht und das verbergen, auch für diejenigen an allerhöchster Stelle. Heute aber erfahren wir eine andere Seite der Gefahr: Journalisten sind selber gefährdet. Und zwar nicht nur in Diktaturen oder autoritären Systemen, sondern auch in liberalen, demokratischen Gesellschaften. Ein Artikel, eine Sendung, ein Podcast kann nicht nur einen bösen, ja vernichtenden Shitstorm nach sich ziehen, er kann bis zur konkreten persönlichen Verfolgung und Bedrohung, einschließlich der Familie, führen. Ein Vor-Ort-Bericht bei einer sogenannten Querdenker-Demonstration kann für den Berichtenden, auch das ist geschehen, im Krankenhaus enden. Das sind unerträgliche, durch nichts zu rechtfertigende Zustände in einer Demokratie!
Ich bin mir jedenfalls sehr bewusst, welchem Risiko sich viele von Ihnen aussetzen, und ich will mich, auch im Namen der Leserinnen und Leser, der Hörer und Zuschauer, bei Ihnen allen bedanken. Bei Ihnen, die das aufbringen, was man in einer freiheitlichen Demokratie für korrekte journalistische Arbeit eigentlich gar nicht aufbringen müssen sollte: Mut und Unerschrockenheit, die Wahrheit herauszufinden und bei der Wahrheit zu bleiben.
Aber Sie alle haben dafür nicht nur Dank verdient, sondern einen Staat, der Ihre Arbeit schützt, und eine Gesellschaft, die Ihre Arbeit schätzt.
Und nicht zuletzt haben Sie alle Chefredakteure, Herausgeberinnen und Verleger verdient, die zu Ihnen stehen. Die dann, im Ernstfall, zu Ihnen das sagen, was Ben Bradlee von der Washington Post im Fall von Woodward und Bernstein damals ganz knapp auf einen Zettel schrieb: We stand by our story
, Wir stehen zu unserer Geschichte
.
Weil man Ihnen vertrauen kann. Vielen Dank.