Sehr verehrter Präsident, lieber Andrzej, herzlichen Dank nicht nur für Deine Einladung, sondern auch für Deine Worte eben, die mich sehr berührt haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste, ich begrüße, wenn ich das so sagen darf, die alten Hasen, die schon lange im deutsch-polnischen Verhältnis aktiv sind, sich dafür engagieren und Verantwortung tragen. Aber Sie verzeihen es mir auch, wenn ich ganz besonders die Jüngeren begrüße hier im Saal. Diejenigen, die mit Hoffnungen und Erwartungen auf dieses deutsch-polnische Verhältnis schauen, weil es ihre eigene Zukunft in einem großen Maße bestimmen wird. Herzlich willkommen deshalb vor allen den Jüngeren hier im Saal aus Deutschland und aus Polen.
Ich freue mich, lieber Andrzej, dass wir an diesem so besonderen und so bedeutenden Tag hier in Warschau zusammenkommen. Besonders, da wir heute den dreißigsten Jahrestag des deutsch-polnischen Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit feiern. Ein Vertrag, der das Fundament der engen und stetig wachsenden Beziehungen bildet, die sich seit der friedlichen Revolution in Polen, dann in Deutschland zwischen unseren Ländern entwickelt haben. Bedeutend ist dieser Tag, da diese engen Beziehungen, diese gute Nachbarschaft der letzten Jahrzehnte vor dem schwierigen Hintergrund unserer Geschichte ein wirkliches Geschenk ist. Ein Geschenk, für das wir dankbar sind. Aber auch ein Geschenk, das wir gemeinsam pflegen müssen.
Die Geschichte wiegt schwer in den deutsch-polnischen Beziehungen. 2018 haben wir gemeinsam in Berlin zunächst des hundertsten Jahrestages der Wiedergewinnung der polnischen Unabhängigkeit, der Gründung der Zweiten Polnischen Republik gedacht. Ein Jahr später durfte ich auf Deine Einladung und an Deiner Seite in Wieluń sein. Dort, wo achtzig Jahre zuvor der furchtbare deutsche Überfall auf Polen begann. Im Januar 2020 haben wir gemeinsam mit vielen anderen der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz gedacht.
Noch einmal: Die Geschichte wiegt schwer in den deutsch-polnischen Beziehungen. Wenn wir gemeinsam weiter an sie erinnern, dann tun wir das nicht nur der Vergangenheit wegen, sondern wir tun das, um unseren festen Willen zu einer besseren Zukunft, zu einer besseren Nachbarschaft zu bekräftigen. Bei weitem nicht alle Hoffnungen von 1989 haben sich erfüllt. Der erhoffte Siegeszug von Demokratie und freiheitlicher Ordnung ist vielfach neuen Konflikten und Konfrontationen gewichen, leider auch in Europa. Die Welt ist insgesamt mindestens unübersichtlicher geworden. Aber ohne Zweifel gehört die deutsch-polnische Nachbarschaft auf Grundlage des Vertrages, den wir heute feiern, zu den wirklich großen Erfolgsgeschichten der letzten dreißig Jahre in Europa. Eine Erfolgsgeschichte, die alles andere als selbstverständlich war und die wir auch nie für selbstverständlich halten.
Unsere Partnerschaft – wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich und kulturell – ist in den vergangenen dreißig Jahren wirklich aufgeblüht. Wir haben in starken Bündnissen, in der Europäischen Union, in der NATO, eine völlig neue Dimension unserer Zusammenarbeit erschlossen, in der noch so viel Potenzial für eine gemeinsame Zukunft zwischen Deutschland und Polen steckt. Polen ist heute einer der wichtigsten Handelspartner für Deutschland. Die deutsch-polnischen Institutionen, die unser Länderbündnis ins Leben gerufen hat oder die später in dessen Folge entstanden sind – das Deutsch-Polnische Jugendwerk, die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, die Regierungskommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit –, all diese Institutionen haben über die letzten dreißig Jahre viel gegenseitiges Verständnis und Vertrauen geschaffen. Über 50.000 Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte haben an Schulaustauschprogrammen teilgenommen. Eine große Zahl. Die beiden Präsidenten hätten nichts dagegen, wenn diese große Zahl in den nächsten Jahren noch größer wird.
Gute Nachbarschaft braucht aufmerksame Nachbarn mit einem wachen Blick und einem offenen Ohr füreinander. Noch gibt es Punkte des Vertrages, die wir nicht auf beiden Seiten zufriedenstellend haben regeln können; das stimmt. Aber wir arbeiten daran und werden auch für die offenen Fragen Lösungen finden.
Und auch die Vergangenheit vergeht nicht. Sie soll uns vielmehr an unsere Verantwortung heute erinnern. Deshalb ist es gut, dass auf der Grundlage der Entschließung des Deutschen Bundestages jetzt intensiv und in engem deutsch-polnischen Austausch an der Gestaltung eines Ortes der Erinnerung an die polnischen Opfer des Nationalsozialismus in Berlin gearbeitet wird. Und nicht irgendwo in Berlin, sondern im Herzen von Berlin, sichtbar für die Berliner; ein Ort, der zu finden ist, für polnische Besucher und für Besucher aus der ganzen Welt. Ein Ort, der den Deutschen heutiger Generationen das Ausmaß des Leids und der unfassbaren Zerstörung begreiflich macht, die Polen erleiden musste. Ein Ort, der historisch und zukunftsgewandt zugleich sein sollte, deutsch-polnisch und europäisch. Ein Denkmal, aber auch ein Ort der Begegnung.
Deutschland und Polen haben den Nachbarschaftsvertrag geschlossen im Bewusstsein ihrer gemeinsamen Interessen, ihrer gemeinsamen Verantwortung für den Aufbau eines neuen durch Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vereinten und freien Europas
. Dieses geeinte Europa ist der feste Rahmen, in dem sich unsere Nachbarschaft so dynamisch entwickelt hat, erst recht nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahre 2004.
Aus dem Erfolg dieser Partnerschaft erwächst jetzt natürlich auch eine gemeinsame Verantwortung. Das NextGenerationEU-Paket der Europäischen Union zum Beispiel ist nicht nur eine Antwort auf die Corona-Krise; es ist nicht nur ein Aufbau-Plan, sondern es sollte auch ein Aufbruch-Plan sein. Der Fonds ist ein kräftiger Impuls für alle Länder der Europäischen Union, auch Deutschland und Polen, auf dem Weg zu einem nachhaltigeren, digitalen, vor allem aber einem gestärkten Europa. Einem Europa, das im Innern fest zusammenhält. Und das wird nur gehen in enger deutsch-polnischer Zusammenarbeit. Ohne diese Zusammenarbeit ist für mich ein starkes Europa nicht vorstellbar.
Deutsche und Polen arbeiten mit diesem Europa, arbeiten für dieses Europa. Die jungen Menschen haben Hoffnungen und Erwartungen an dieses Europa und an uns, die hierfür arbeiten. Das gilt ausweislich aller Meinungsumfragen ganz besonders für die Jüngeren. Und ich freue mich deshalb auf die Beiträge, auf den Austausch, den wir heute mit unseren jungen Gästen haben werden. Ich möchte jedenfalls mehr darüber erfahren, was junge Menschen beschäftigt, deutsche wie polnische. Welche Vorstellungen verbinden sie mit dem Nachbarn jenseits dieser so durchlässig gewordenen Grenze? Was hat sich ihnen aus ihren Austauscherfahrungen und Begegnungen am meisten eingeprägt, was hat sie am meisten erstaunt? Hat der Nachbar vielleicht sogar etwas mit ihren ganz persönlichen oder beruflichen Perspektiven und Chancen zu tun? Und wie stehen eigentlich Jugendliche in Polen und Deutschland zu den großen Herausforderungen, mit denen wir jetzt und in Zukunft noch stärker zu kämpfen haben, besonders im Kampf gegen den Klimawandel? Wie stehen sie, und welche Antworten der Politik erwarten sie?
Ich bin gespannt auf Ihre Antworten. Und lassen Sie mich sagen: Wenn wir Antworten geben wollen, die verstanden werden und die auch von jüngeren Menschen als ein Schritt nach vorne begriffen werden, dann ist das wichtigste Gut zwischen Deutschland und Polen einerseits Vertrauen – ich glaube: Vertrauen haben wir aufgebaut in den letzten Jahren – und andererseits Neugier. Wichtig ist, dass wir die Neugier aneinander nie verlieren, dass wir immer wieder hinhören und ein offenes Ohr haben. Warum ist mir die Neugier so wichtig? Weil nur wer neugierig bleibt, den ständigen Versuch macht, den anderen zu verstehen. Das brauchen wir. Wir sind Nachbarn, aber deshalb sind wir nicht dieselben. Wir haben einen unterschiedlichen Blick auf die eigene Vergangenheit und Zukunft. Und um uns gegenseitig Verständnis zu zeigen, brauchen wir Neugierde aufeinander.
Es hilft, wenn man sich begegnet, wenn man miteinander lacht, miteinander feiert. Auch das ist, Gott sei Dank, nach der Pandemie wieder möglich – wir haben es lange vermisst; nach einer Pandemie, die uns alle – nicht nur Politiker, sondern vor allem die jungen Menschen – lange, viel zu lange zur Distanz gezwungen hat. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns wieder näherkommen. Und deshalb ist ein solcher Tag der Begegnung ein guter Tag der Annäherung.