Jahrestagung des Deutschen Landkreistages

Schwerpunktthema: Rede

Timmendorfer Strand, , 9. Juli 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Jahrestagung des Deutschen Landkreistages am 9. Juli in Timmendorfer Strand eine Rede vor 294 Landrätinnen und Landräten gehalten. Darin sagte er mit Blick auf die Kreise und Gemeinden: "Ich verspreche, das Land nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn die zukunftsweisenden Debatten beginnen. Und ich verspreche Ihnen, wo es nötig ist, Ihre Stimmen aufzunehmen und zu verstärken."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache zur "Entwicklung ländlicher Räume" bei der Jahrestagung des Deutschen Landkreistags am Timmendorfer Strand.

Der Unterschied, oder sollte ich sagen: der Gegensatz zwischen Stadt und Land ist wahrhaftig nicht neu. Er gehört seit unvordenklichen Zeiten zu den prägenden Mustern unserer Selbstwahrnehmung, und das können Sie politisch oder kulturell verstehen.

Stadt und Land: Bis heute gibt es für die Unterschiede feste Vorstellungen, wobei nicht immer klar ist, wo hier echte Erfahrungen vorliegen und wo wir bei der Unterscheidung mehr von Klischees geprägt sind.

Schon in den ganz alten Kulturen wird darüber reflektiert. Jedes Kind kennt die Fabel von der Stadtmaus und der Landmaus, die uns zuerst beim griechischen Fabeldichter Äsop begegnet, und, ob Sie’s glauben oder nicht, das schon vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren. Die Geschichte der beiden Mäuse, deren Leben so unterschiedlich geprägt sind – heute würde man sagen, die Geschichte einer Lifestyle-Konkurrenz –, diese Geschichte zeigt uns: Was das Leben der Stadtmaus an Genuss und Kurzweil zu bieten hat, wiegt die Sicherheit und Vertrautheit im Leben einer Landmaus nicht auf.

Alle Vorstellungsmuster und auch Klischees über Stadt und Land sind hier in dieser Geschichte schon beisammen, doch die eigentliche Pointe, die bleibt auch bis heute wahr: Jeder soll leben können, wo und wie es ihm am besten gefällt, und er soll dort finden können, was er zum Leben braucht.

Wenn wir also zu Recht davon sprechen, wie notwendig es ist, gleichwertige Lebensverhältnisse in unserem Land herzustellen, dann werden wir dabei immer auch akzeptieren müssen, dass der Unterschied oder jedenfalls nicht jeder Unterschied zwischen Stadt und Land, aufzuheben ist. Wir müssen akzeptieren, dass das eine nicht der Maßstab des anderen und auch nicht das Glück des anderen sein kann.

Auf dem Land wird es beispielsweise nie drei Opernhäuser auf wenigen Quadratkilometern geben wie in Berlin oder im Ruhrgebiet. Und in der Stadt wird es nie jene Ruhe oder Naturverbundenheit geben wie auf dem Land und wie sie neuerdings auch immer wieder in höchst erfolgreichen Büchern dargestellt wird, etwa von Dörte Hansen, die ja auch gleich zu Ihnen sprechen wird.

Vorne raus die Ostsee, hinterm Haus die Friedrichstraße, und vom Badezimmer aus die Zugspitze sehen: So sieht, frei nach Tucholsky, das Ideal des modernen Menschen aus – aber es gibt eben in der Regel nicht alles zugleich.

Das eine nicht mit dem Maßstab des anderen zu messen – das fällt schwer, wenn unsere Medien in den Städten zu Hause sind, wenn die entscheidende Politik in den Städten gemacht wird, wenn der Blick aufs Land und aufs Landleben von pseudoidyllischen Zeitschriften für Städter geprägt wird. Kurzum, wenn immer mehr Stadtideale aufs Land projiziert werden.

Das Land, wie es wirklich ist; das Land mit seinen wirklichen Bedürfnissen, mit seinen wirklichen Qualitäten, mit seiner echten Not, aber auch mit seinen echten Möglichkeiten, das gerät dabei oft genug aus dem Blick; oder wenn es im Blick bleibt, wird es nicht genügend ernst genommen. Dann fühlt sich, wer dort lebt, nicht nur ökonomisch und in der Infrastruktur abgehängt, sondern auch abgehängt im allgemeinen Bewusstsein. Vielen auf dem Land kommt es so vor, als sei ihnen der Blick auf das Eigene, auf die Heimat und vor allem auf das Leben, das sie führen und führen möchten, enteignet worden.

Wir alle sollten wieder einen Blick aufs Land lernen und wahrnehmen, wie ihn diejenigen haben, die selbst dort leben. Wenn ich meiner besonderen Reisetour durch ländliche Regionen in den vergangenen Jahren den Titel Land in Sicht gegeben habe, dann auch aus diesem Grund: Ich wollte sehen, welche Schwierigkeiten es gibt, welche Probleme erfolgreich angepackt werden, vor allem, was für unerkannte Möglichkeiten dort längst ergriffen worden sind. Und ich wollte sehen und hören, wie die Bürgerinnen und Bürger dort sich selbst sehen.

Für mich bedeutet das in erster Linie eine Blickveränderung, einen Versuch, sich auf die Sichtweise derer einzulassen, die auf dem Land leben, die das Zusammenleben dort gestalten und organisieren. Und ganz nebenbei geht es auch darum, die Tatsache wieder einmal in den Blick zu nehmen, dass wir nicht über Minderheiten reden, sondern uns erinnern, dass die Mehrheit der Deutschen auf dem Land wohnt und dort für die eigene Zukunft arbeitet.

Ihnen, den 294 deutschen Landrätinnen und Landräten, brauche ich das nicht eigens zu sagen. Sie sind zu Recht stolz und selbstbewusst genug, um zu wissen, dass Sie eine Mehrheit repräsentieren. Sie sind auch stolz und selbstbewusst genug, um zu wissen, mit welchem Engagement auf dem Land für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gearbeitet wird, wie dort demokratisches Bewusstsein lebendig ist – und welcher Beitrag dort geleistet wird zum Ganzen unseres Gemeinwesens. Und Sie verkörpern auch das tiefe Wissen darum, dass letzten Endes das Land vielleicht ohne die Stadt denkbar ist, die Stadt aber nicht ohne das Land.

Für diese Veranstaltung haben Sie sich ebenfalls den Titel Land in Sicht gewählt – mit der bezeichnenden Variation: Wieder Land in Sicht - trotz(t) Corona. Jetzt, da hoffentlich der Hauptteil der Pandemie einem Ende entgegengeht, da kommen wir uns alle ein wenig vor wie Seeleute auf hoher See, wenn vom Ausguck die Stimme ruft: Land in Sicht! Endlich wieder, fügen wir mit Recht hinzu.

Aber das Land, das da in Sicht kommt, wird nicht einfach das alte Land von gestern sein. Das Land, das da langsam wieder in Sicht kommt, das werden wir neu sehen und das werden wir vor allem auch neu gestalten müssen. Wir alle haben in der Pandemie gelernt, welche unserer staatlichen Instrumente und Institutionen geeignet sind, welche in einer solch extremen und unbekannten Situation funktionieren – und welche dringend verbessert, welche vielleicht sogar abgeschafft gehören und welche wir dringend neu brauchen. Das Wieder im Motto Wieder Land in Sicht müssen wir ganz sicher einer genauen Prüfung unterziehen.

Eines vorneweg: Wenn wir das tun, wenn wir Lehren ziehen wollen aus dieser Pandemie, dann darf es nicht darum gehen, Schuldige zu identifizieren und hochentrüstet mit großer Empörungsgeste an den Pranger zu stellen. Wenn ich ehrlich sein darf: Von dieser allzu deutschen Neigung haben wir in der Vergangenheit schon reichlich und genug erlebt. Nein, es muss vielmehr ein gemeinsamer Blick nach vorne sein, der dem gemeinsamen Wohl und einer gemeinsamen guten Zukunft verpflichtet ist. Ein Blick nach vorn, damit unser Staat moderner, digitaler, insgesamt intelligenter wird.

Dazu müssen alle Stimmen gehört werden, alle, die dazu etwas zu sagen haben. Und dabei denke ich, nicht nur weil wir heute gemeinsam hier versammelt sind, ganz besonders an Sie, die Verantwortlichen in unseren Landkreisen. Hier hat Corona besondere Verwundbarkeiten und Problemfelder kenntlich gemacht. Hier hat die Pandemie aber auch Probleme, die Sie schon seit Langem adressieren, noch einmal in ihrer ganzen Dringlichkeit gezeigt.

Ich möchte nur zwei Dinge benennen, die Sie selber ja auch schon gelegentlich deutlich gemacht haben und die Sie sicher in die Pandemiebilanz, die geschrieben wird, klar und bestimmt einbringen werden.

Zum ersten: Wie kann oder muss die Zuordnung der Verantwortlichkeiten, die Zuordnung der Rechte und Pflichten der unterschiedlichen staatlichen Ebenen so justiert werden, dass gerecht, angemessen und transparent entschieden und gehandelt werden kann? Wie ist das Verhältnis von Solidarität und Subsidiarität angemessen zu gestalten?

Wie kann und muss die größere Einheit, Bund und Land, ihr Handeln und Entscheiden so ausrichten, dass Landkreise und Kommunen einerseits nicht reine Befehlsempfänger sind, sich bevormundet vorkommen und als die, die Entscheidungen, die sie nicht oder kaum beeinflussen können, ausbaden müssen? Wie groß muss darum die finanzielle und entscheidungsrelevante Selbständigkeit von Landkreisen und Kommunen sein? Und wie groß kann sie sein?

Wie muss andererseits die Hilfe aussehen, die die größere Einheit anbieten kann, so dass die Entscheidungsträger, die am nächsten an den Menschen und ihren Problemen dran sind, noch genügend Freiheit und Verwaltungskompetenz haben, um angemessen, gerecht und situationsbedingt zu agieren?

Wie kriegen wir es besser hin, eine Balance zu finden zwischen Regelung und Entscheidung vor Ort? Wie entgehen wir unserem allzu deutschen Hang zum Alles-regeln-Wollen, bei dem am Ende jeder Pragmatismus, jede mutige, beherzte Lösung als Normabweichung verschrien wird?

Keine Frage: Wir brauchen im Grundsätzlichen klare, bundeseinheitliche Regelungen der Pandemiebekämpfung, zum Beispiel in der Frage, welche Inzidenzwerte welche Konsequenzen haben müssen. Wir brauchen Regeln darüber, was Menschen mit Immunisierung dürfen. Wir brauchen genug Impfstoff, und wir brauchen sichere Impfnachweise. All das brauchen wir bundeseinheitlich in ganz Deutschland. Aber diesseits dessen muss es vor Ort Freiheit geben für Kreativität und fürs Anpacken. Und wenn wir das wollen, dann braucht es auch die Bereitschaft der Deutschen, nicht kleine Unterschiede im Detail sofort als große Ungerechtigkeiten zu skandalisieren.

Ich weiß, dass Sie alle diese und ähnliche Fragen umtreiben. Und ich weiß, dass Sie alle mit sehr konkreten Forderungen und Erwartungen schon längst an die Öffentlichkeit gegangen sind. Aber ich möchte Ihnen heute deutlich sagen: Die Öffentlichkeit und die anderen staatlichen Ebenen sollten noch genauer hinhören! Sie haben Anspruch darauf, Sie miteinander haben Anspruch darauf, ernst genommen zu werden!

Denn die Kommunen bilden eine eigene, tragende Ebene dieses Staates, mit einer eigenen demokratischen Legitimation durch Wahlen – und daraus leitet sich am Ende nicht nur Legitimation, sondern auch berechtigtes Selbstbewusstsein ab. Und mehr noch: Wie schon bei der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 zeigt sich auch in der Pandemie wieder: Die kommunale Ebene ist entscheidend wichtig in der Krisenbewältigung – Gesundheitsämter, Kitas, Schulen, Gewerbeaufsicht, kulturelles Leben und vieles, was Sie aus Ihrem Alltag kennen und wissen. Und jetzt sind es wieder die Vertreter von Städten, Gemeinden und Kreisen, die uns warnen: Bereitet die Schulen auf den ersten Schultag vor! Plant die Fortsetzung der Impfkampagne im Herbst! Behaltet die Kommunalfinanzen im Auge! Das alles ist wichtig.

Ich verspreche, das Land nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn die zukunftsweisenden Debatten beginnen. Und ich verspreche Ihnen, wo es nötig ist, Ihre Stimmen aufzunehmen und zu verstärken. Gerade wenn es darum geht, alle Vorbereitungen zu treffen, damit Kinder im Präsenzunterricht der Schule nicht nur lernen, sondern leben.

Dazu will ich heute ganz besonders all diejenigen aufrufen, die in Bund, Ländern und Kommunen Verantwortung tragen: Tun Sie jetzt – in diesen Tagen, in diesen Sommerwochen –, tun Sie jetzt alles Menschenmögliche an Vorbereitung und Absicherung, damit alle Kinder in Deutschland nach den großen Ferien sicher in die Schule gehen können, und zwar jeden Schultag und trotz Corona!

Das zweite, das ich heute besonders herausheben möchte, sind unsere strukturellen Defizite. Aufs Land ziehen, aufs Land zurückkehren, auf dem Land bleiben, das werden die Menschen nur tun – und auf die Dauer nur tun können –, wenn sie kommunikativ und verkehrsmäßig nicht abgeschnitten sind. Verkehrs- und Dateninfrastruktur sind in meinen Augen das oberste Gebot der Stunde. Jeder Monat, der hier ungenutzt ins Land streicht, um im Bild zu bleiben, ist verlorene Zeit.

Erlauben Sie mir eine kurze Abschweifung dazu. Im Jahre 1779 sind dem Weimarer Post-Bericht die fast täglichen Fernverbindungen nach Berlin, Hamburg, Nürnberg, nach Westfalen und so weiter zu entnehmen. Und auch, dass an jedem Sonntagmittag Briefe nach Russland abgingen, Montags früh nach Dänemark und abends nach Österreich, Ungarn, in die Schweiz, nach Italien, oder am Dienstagmorgen nach Frankreich, Holland und England usf.

Kommunikative Infrastruktur also, damals auf der Höhe der Zeit. Diese erlaubte es Johann Wolfgang Goethe, der nicht nur als großer Schriftsteller, sondern auch als effektiver Verwaltungsbeamter nicht nur Kind seiner Zeit, sondern auch auf der Höhe der Zeit war, dass er aus dem kleinen Weimar mit der ganzen Welt in schneller und effektiver Verbindung war. 24.000 Briefe hat er bekommen, etwa 20.000 geschrieben.

Wenn Goethe damals über Weimar sagen konnte: Es gehen von dort die Tore und Straßen nach allen Enden der Welt, dann sollte es heute doch heute eigentlich möglich sein, von unseren ländlichen Räumen aus und auf der technischen Höhe unserer Zeit die bestmöglichen Verbindungen nach allen Enden der Welt hinzubekommen. Und deshalb ist hier keine Zeit mehr zu verlieren!

Gerade bei der Digitalisierung hat die Pandemie unsere Schwachstellen schonungslos offengelegt. Die Notwendigkeit, Abstand zu halten in der Pandemie, war der große Testfall für den Einsatz digitaler Technik in der Verwaltung und eben auch in den Schulen. Man muss schonungslos sagen, dass Deutschland diesen Test nicht bestanden hat. Zu langsam, zu umständlich meistens, und im internationalen Vergleich zu weit zurück – dieses Urteil müssen wir uns gefallen lassen.

Mir ist klar, dass viele Menschen inzwischen keine Lust mehr haben, über Corona und die Folgen nachzudenken. Viele möchten jetzt vor allem eins: zurück in die Normalität, den Sommer genießen und in den Urlaub fahren. Aber dort können wir nicht stehenbleiben, insbesondere nicht die Politik. Es wäre fatal, wenn die Pandemie nur im Kurzzeitgedächtnis des politischen Handelns abgespeichert wird. Wir haben den Digitalisierungstest nicht bestanden – also heißt es jetzt Konsequenzen ziehen, investieren, aufbessern, nachlegen! Wir müssen besser werden, und wir müssen vor allen Dingen bei der nächsten Krise besser vorbereitet sein.

Natürlich gehört neben der funktionierenden Verwaltung und Selbstbestimmung und neben der Kommunikation auch vieles andere dazu, um das Leben auf dem Land weiterhin und noch mehr attraktiv zu machen. Sie alle wissen das besser als ich.

Aber auch meine eigenen Wurzeln liegen auf dem Land, im Ostwestfälischen, genauer gesagt im Kreis Lippe, und immer, wenn ich dorthin zurückkehre, zur Familie, spüre ich, wie viel das ist, was das Leben hier lebenswert macht. Wie viel das ist, wie viel aber auch der Pflege und der Mühe bedarf: lebendige Vereine, Ehrenamt lebendige Ortskerne, erreichbare Schulen, Solidarität, Traditionsbewusstsein, Heimatliebe, Natur, umweltfreundliche Landwirtschaft und Energie – zu jedem einzelnen Kapitel könnte man jetzt eine eigene längere Rede halten. Oder aber – und ich will zum Schluss kommen – man kann es auch ganz kurz sagen: Unser Land braucht Zukunft – und unsere Zukunft braucht das Land!