Verleihung des Ludwig-Börne-Preises 2020 an Christoph Ransmayr

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 8. August 2021

Der Bundespräsident hat am 8. August bei der – pandemiebedingt verschobenen – Verleihung des Ludwig-Börne-Preises an Christoph Ransmayr die Laudatio in Schloss Bellevue gehalten: "Vergangenheit und Zukunft werden in Ihrem Schreiben Gegenwart – und damit werfen Sie ein besonderes Licht auf unsere tatsächliche Gegenwart, auf unsere gegenwärtige Lebenszeit."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Laudatio auf Christoph Ransmayr zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises im Großen Saal von Schloss Bellevue

Wir sind spät dran, sehr spät sogar, mehr als ein Jahr! Es ist tatsächlich die Verleihung des Ludwig-Börne-Preises 2020, die wir heute vornehmen. Nicht gerade zeitnah, wie man auf Neudeutsch sagt. Aber irgendwie, dachte ich heute Morgen, passt das auch gar nicht so schlecht zum Preisträger, der auf seine besondere Weise eben auch ein Unzeitgemäßer ist.

Ihre Literatur, lieber Herr Ransmayr, spielt ja zumeist nicht in der Gegenwart – sie schafft aber jeweils neu Gegenwart. Ihre literarische Phantasie geht mühelos durch die Zeiten. Vergangenheit und Zukunft werden in Ihrem Schreiben Gegenwart – und damit werfen Sie ein besonderes Licht auf unsere tatsächliche Gegenwart, auf unsere gegenwärtige Lebenszeit, die sich durch unsere Lesezeit verwandelt, erhellt und auf bis dahin unerhörte, neue Weise anschaubar und verstehbar wird. Über das Rätsel der Zeit, das uns so geheimnisvoll und fern ist wie das beinahe mythische China der Kaiserzeit, haben Sie selber eines wie ich finde Ihrer schönsten Bücher geschrieben, Cox oder Der Lauf der Zeit. Und dass Gegenwart immer die eigene, subjektive Gegenwart ist, haben Sie an anderer Stelle so gefasst: Denn wirklicher als im Bewusstsein eines Menschen, der ihn durchlebt hat, kann ein Tag nicht sein.

Wenn wir Leser mit Ihren Büchern Zeit verlieren, wenn wir uns damit an andere und in anderen Zeiten verlieren, dann gewinnen wir neue Zeit, neue Gegenwart, dann gewinnen wir Aufklärung über uns selbst, unsere Zustände, unser Leben. Wir verlieren uns in anderen Identitäten, indem wir uns auf Ihre Suche nach Identität einlassen, indem wir mit Ihnen mitgehen in andere Zeiten und in fremde Welten; und wir können uns so über unsere eigene Identität neu verständigen – gerade indem sie uns zur Frage wird.

Sie entsichern unsere Gegenwart, unseren Alltag, unsere festen Vorstellungen von der Welt. Sie entsichern uns und nehmen uns auf Abenteuer mit, ob in Ihren Reportagen oder in Ihren Romanen, und wir merken: Es ist vieles ganz anders als gedacht, es ist vieles zu entdecken in anderen Zeiten und Welten – und so können auch wir ganz anders denken, ganz anders fühlen, ganz anders sein. Wir sehen, es gibt immer noch eine andere Möglichkeit, und das erzeugt ein kritisches, reflektiertes Verhältnis zu uns selbst. Das ist Abenteuerliteratur im besten Sinne, das ist Zeit-Ansage im Gewand des Unzeitgemäßen.

Was ist nur aus unseren Abenteuern geworden? So fragen Sie ganz zu Anfang Ihres frühen Romans Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Was ist nur aus unseren Abenteuern geworden, die uns über vereiste Pässe, über Dünen und so oft die Highways entlanggeführt haben? Durch Mangrovenwälder hat man uns ziehen sehen, durch Grasland, windige Einöden und über die Gletscher, Ozeane und dann auch Wolkenbänke hinweg, zu immer noch entlegeneren, inneren und äußeren Zielen.

Diese Anfangszeilen, die fast wie ein Bruce-Springsteen-Song klingen, enden mit der Warnung, dass Abenteuer nicht leicht zu haben sind: Unsere Fluglinien haben uns schließlich nur die Reisezeiten in einem geradezu absurden Ausmaß verkürzt, nicht aber die Entfernungen, die nach wie vor ungeheuerlich sind. Vergessen wir nicht, dass eine Luftlinie eben nur eine Linie und kein Weg ist und: dass wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind.

In diesem Buch erzählen Sie die faszinierende Geschichte der k. u. k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition, die 1872 aufgebrochen war und dann, unter unendlichen Strapazen und der ständigen Bedrohung der menschenfeindlichen Natur, immerzu von den Schrecken des Eises und der Finsternis umgeben, schließlich ein unbekanntes Archipel entdeckt und ihm den Namen Kaiser-Franz-Joseph-Land gibt. Und gleichzeitig erzählen Sie die Geschichte eines abenteuerverrückten Italieners, der hundert Jahre später dieser Expedition nachzugehen versucht, der sich mit allen Dokumenten und Zeugnissen der Expedition vertraut gemacht hat und der schließlich im Eis verloren geht, ein spurlos verwehtes Abenteuer – gegenwärtig gemacht und dem Vergessen entrissen durch Ihre Erzählung davon.

Mir erscheint dieser frühe Roman wie eine Programmschrift Ihrer Literatur. Fremde Welten, ferne Zeiten, ein Abenteuer, das literarisch und dokumentarisch dargestellt wird; und ein Nachfolger ist unterwegs, ja ein buchstäblicher Nach-Geher, der mit eigenen Augen sehen will, was dieses Abenteuer damals bedeutet hat – und was es heute für ihn bedeutet. Auf diese Weise gelingen Ihnen auch Ihre Reportagen, auf deren Fakten wir uns verlassen können, in denen Sie aber immer selber in die Dinge, in das, was Sie mit eigenen Augen sehen, verwickelt werden.

Später einmal, im Jahre 2003, haben Sie in einer Rede zu Ernst Toller eine entsprechende Selbstauskunft gegeben, was bei Ihnen selten ist: Wenn es zu den vornehmsten Wirkungen der Literatur gehört, die Vorstellungskraft ihrer Leser zu fördern […] vom Glück und vom Leiden, vom Leben und Sterben des einzelnen, und so beizutragen zu einer immerhin möglichen Immunität gegen ideologisch, rassistisch oder religiös begründete Unmenschlichkeit, die ja an der Wirklichkeit immer nur die eigenen Dogmen und Klischees zu erkennen vermag, dann, sagen Sie, ist es möglicherweise von größerem Nutzen […] zu lesen, was ein Erzähler von sich selber, von Szenen und Augenblicken seines Lebens […] zu berichten hat.

Das bedeutet: Sie beschreiben die Welt, auch fremde Welten und Zeiten, aber Sie beschreiben sie eben nicht vermeintlich objektiv. Auf der Suche nach der Welt, nach den Überraschungen und den Abenteuern, die sie bereithält, sind Sie immer auch auf der Suche nach sich selber, auf der Suche nach neuen Seh- und Seins-Möglichkeiten. Und gerade indem Sie sich selber in Ihre Geschichten verstricken, verstricken Sie uns, Ihre Leser mit.

Sie nehmen uns gefangen – und entlassen uns dann als neu und anders Sehende. Auf alle Fälle, das hat einst Péter Esterházy über Ihren Roman Die letzte Welt gesagt, auf alle Fälle sollten wir dieses Buch vorsichtig lesen, es könnte leicht geschehen, dass wir uns sonst in Romanhelden verwandeln.

Jeder wird bei der Lektüre Ihrer Bücher ein bisschen mehr er selber – genau wie Sie es von den Teilnehmern der Nordpolexpedition schreiben, von denen viele Tagebuch führen: Jeder berichtete aus einem anderen Eis.

Expeditionen ins nördliche Eis sind kein ungewöhnliches Sujet in der Literatur. Ich erinnere nur an die wunderbare Entdeckung der Langsamkeit Ihres Kollegen Sten Nadolny über die Entdeckungsreisen John Franklins. Es ist aber wohl kein Zufall, dass Sie als Sujet Ihres ersten Romans ausgerechnet eine k. u. k. österreichisch-ungarische Expedition gewählt haben. Jene Expedition, die das letzte damals unbekannte Stück Erde entdeckte, dort die Insignien des Kaiserreiches hinterließ, seine entlegensten Winkel mit so klingenden Namen wie Tyroler Fjord, Cap Wien, Hall-Insel oder Hohenlohe-Insel taufte. Im eisigen menschenfeindlichen Norden eine Inselgruppe, benannt nach dem habsburgischen Kaiser eines erodierenden Reiches.

Der Kommandant zu Lande dieser Expedition, Julius Payer, stirbt im August 1915, als, wie Sie schreiben, die Felder Galiziens schon die Buckel der Massengräber tragen, die Wiesen Flanderns auch – und an den Masurischen Seen Preußens, in Elsaß-Lothringen, in der Champagne, in Serbien, im Kaukasus oder am Isonzo überall schon Erschlagene liegen.

An meine Völker hatte Kaiser Franz-Joseph 1914 das Manifest seiner Kriegserklärung adressiert. Sie zitieren das – und werden Ihre Melancholie darüber nicht bestreiten, dass es diese Völker als zusammengehörige seit diesem Krieg nicht mehr gibt. Der Untergang des Alten Europa hat die Schriftsteller Österreichs wohl weitaus stärker geprägt als andere, weil er eben auch den Untergang der K.-u.-k.-Monarchie bedeutet hat, den Untergang des Vielvölkerstaates.

Dieses multikulturelle geistige Erbe trägt wohl jemand wie Christoph Ransmayr mit sich, wenn er als Österreicher schreibt. In ihm ist offenbar eine Utopie des Übernationalen lebendig, eine Sehnsucht nach Einheit unter sehr Verschiedenen. So akzeptiert er wohl auch deshalb kaum Grenzen, weil einmal das Haus Österreich so viele verschiedene Wohnungen kannte.

In einer Ihrer frühen Reportagen, Auszug aus dem Hause Österreich, beschreiben Sie 1985 eine seltsame Wallfahrt von etwas verschrobenen Monarchisten zur noch lebenden Kaiserin Zita in ihrem Liechtensteiner Exil. Natürlich nehmen Sie an dieser Fahrt teil. Die letzte Kaiserin Europas, so schreiben Sie dann, offenbar nicht ohne innere Bewegung, war Herrin über 53 Millionen Untertanen – Deutsche, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Italiener, Polen, Ukrainer, Kroaten, Slowenen, Serben, Bosnier, Rumänen, auch Türken, Huzulen, Griechen, Albaner und natürlich Juden – die Gemahlin des Königs von Jerusalem und des Herzogs von Auschwitz! Wahnsinn.

Niemand hat die Melancholie nach dem Ende des alten Österreich so sprachmächtig in Worte gefasst wie der heilige Trinker Joseph Roth, der, wie Sie, sowohl ein begnadeter Reporter wie auch ein wunderbarer Romancier war. Aus seinem Roman Die Kapuzinergruft setzen Sie ein Zitat an den Anfang Ihrer Reportage: Österreich ist kein Staat, keine Heimat, keine Nation […] Die Klerikalen und klerikalen Trottel, die jetzt regieren, schrieb Joseph Roth 1938, machen eine sogenannte Nation aus uns; aus uns, die wir eine Übernation sind, die einzige Übernation, die in der Welt existiert hat.

Dass man in einer von Vielfalt geprägten Welt überall zu Hause sein kann, wenn man sieht, was Menschen zu Menschen macht und wie sie ihr eigenes Leben leben und sich um willkürliche Grenzen nicht kümmern, das ist das Vermächtnis des Hauses Österreich, wie es Joseph Roth vermittelt – und das dürfte auch noch für Ihre Wanderungen durch die ganze Welt ein entscheidender Impuls sein. Man kann es auch noch einmal anders, nämlich mit den Worten Ernst Tollers sagen, die Sie selber wohl nicht zufällig zitieren:

Wenn mich einer fragte, wohin ich gehöre, ich würde antworten: Eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa hat mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die Welt mein Vaterland.

Sie haben, lieber Herr Ransmayr, diese Worte auf eine eindrückliche Weise eingelöst, für mich vielleicht am besten in den bunten und so vielfältigen Geschichten Ihres Bandes Atlas eines ängstlichen Mannes. Hier hat man wirklich den Eindruck: Die Welt ist Ihr Zuhause, Ihr Vaterland. Hier wird nicht über Multikulturalität schwadroniert, hier wird nicht abstrakt philosophiert über ein transnationales Wesen des Menschen oder andere aufgedonnerte Vokabeln.

Hier werden einfach Geschichten erzählt, Geschichten vom Alltäglichen, das man aber als das Besondere, als das Buchenswerte, wie Thomas Mann gesagt hätte, sehen können muss. Er war ganz Aufmerksamkeit, heißt es über den Nordpolarforscher Weyprecht in Ihrem frühen Buch. Hier gilt das in eminenter Weise für Sie als Autor: Er war ganz Aufmerksamkeit. Ob diese Geschichten einen höheren Sinn ergeben, ob sie das Abenteuer im Alltäglichen darstellen oder eine Episode, die vergeht wie eine Zeichnung im Sand unter der nächsten Welle: das zu entscheiden, das für uns zu entscheiden, ist Sache von uns Lesern. Sie blättern uns eine Welt auf, und wir dürfen glücklich jede neue Seite erwarten.

Sie erhalten einen Preis, das nun zum Schluss, im Namen Ludwig Börnes. Der konnte noch unbefangener an die Aufklärung und ihr segensreiches Wirken glauben, als es uns heute vergönnt ist. Die großen Kriege, die von Deutschland aus das Alte Europa zerstört und die Welt mit Terror und Vernichtung überzogen haben, haben uns Illusionen genommen. Aber die Hoffnung konnten sie uns nicht nehmen, die Hoffnung, dass in all den Untergängen, in dem Scheitern und in den verzweifelten Anstrengungen, die Sie beschreiben, die Möglichkeit aufstrahlt, dass Leben gelingen kann, ja, dass es sich lohnt, zu leben – und zu sehen, was die Welt bereithält.

Ortega y Gasset, dem spanischen Philosophen, würden Sie wahrscheinlich zustimmen: Alles in der Welt ist merkwürdig und wunderbar für ein paar wohlgeöffnete Augen.

In dem Atlas eines ängstlichen Mannes beginnt jede Ihrer Geschichten mit einem kleinen Ich sah…. Das klingt biblisch, so beginnen die Visionen vom Ende der Welt in der Apokalypse des Johannes. Deutet das die Trauer darüber an, dass das, was man gerade noch gesehen hat, schon bald dem Verschwinden und Vergessen anheimgegeben ist? Vielleicht. Aber nicht notwendig.

Dieses Ich sah… könnte, ganz im Gegenteil, nicht etwa auf das Ende verweisen, sondern auf den Anfang. Vielleicht gehe ich jetzt etwas zu weit, wenn ich an die Schöpfungsgeschichte erinnere: Sechs Schöpfungstage lang wird über unsere neu geschaffene Welt immer wieder gesagt: Und Gott sah, dass es gut war. Diese Welt fängt immer neu an, wenn wir die Augen aufmachen und sehen.

Bin ich damit zu weit gegangen? Aber dann hätte ich das von Ihnen gelernt: Es lohnt sich, immer ein bisschen weiter, immer ein bisschen zu weit zu gehen – wer weiß, was es da zu sehen gibt?