Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Roland Jahn

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 24. August 2021

Der Bundespräsident hat am 24. August bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern an den letzten Leiter der Stasiunterlagenbehörde, Roland Jahn, in Schloss Bellevue eine Rede gehalten: "Unser Land braucht Menschen wie Sie. Menschen, die ungeheuren Mut beweisen, wenn es darauf ankommt. Menschen, die eine Haltung, einen inneren Kompass haben. Menschen, die sich tagtäglich einsetzen für Toleranz, Freiheit, Menschenrechte – für unsere Demokratie."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Roland Jahn in Schloss Bellevue

Das Wichtigste war das Verlieren der Angst.

Wer weiß um die Bedeutung dieses Satzes besser als Sie. Dieser Satz, er stammt von einem, der Ihnen ein Freund war, ein Vorbild, der Sie und viele andere junge Menschen inspiriert hat mit seinem Mut, mit seinem literarischen Werk, mit seiner genauen Analyse der alltäglichen Repression in der DDR. Sie selbst, lieber Roland Jahn, gehörten zum Freundeskreis von Jürgen Fuchs. Die Staatssicherheit nannte ihn, diesen Freundeskreis, die Fuchs-Bande. Sie verfolgte ihn auch im Westen mit aller Härte.

Sie selbst haben früh, sehr früh erfahren, was es heißt, sich mit der Stasi anzulegen. Dass Sie, der bespitzelt, verfolgt, eingesperrt und schließlich gegen seinen Willen aus dem Land geworfen wurde, dass Sie einmal der Chef einer Behörde werden würden, die im wiedervereinigten Deutschland die Unterlagen der Staatssicherheit im Interesse ihrer Opfer verwaltet, das hätten Sie sich wohl niemals träumen lassen.

Lieber Roland Jahn, ich erinnere mich sehr gern an unsere Begegnungen in den vergangenen Jahren. Einmal sogar zufällig beim Wandern in Südtirol. Zuletzt war ich bei Ihnen in der ehemaligen Stasizentrale in Berlin zu Gast, am 30. Jahrestag ihrer friedlichen Erstürmung. Dieser Besuch hat mich beeindruckt und auch das Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern. An diesem 15. Januar vergangenen Jahres haben Sie zu mir gesagt, und das hat sich mir eingeprägt: Hier hat früher Erich Mielke Honecker begrüßt. Heute begrüßt ein ehemaliger Häftling den Bundespräsidenten.

Heute darf dieser Bundespräsident den ehemaligen Häftling begrüßen und auszeichnen. Das ist mir eine große Ehre und eine ganz besondere Freude. Seien Sie herzlich willkommen im Schloss Bellevue.

Die Angst verlieren. Das sagt sich leicht im Rückblick. Das sagt sich auch leicht, wenn man wie ich das Glück hatte, in Freiheit aufzuwachsen und nicht mit der Angst.

Angst zu schüren, das gehörte zu den Methoden des SED-Regimes. Das Gefühl der Angst, so haben Sie es beschrieben, lauerte im Unbewussten und bestimmte das Denken und Handeln der Menschen. Angst, ins Visier der Staatssicherheit zu geraten, seine Zukunft zu gefährden, nicht studieren zu können, nur weil man seine Meinung sagte – oder einfach, weil man lange Haare hatte, die falschen Kleider trug, die falsche Musik hörte und selbstbestimmt leben wollte, wie Sie als junger Mensch. Angst vor Repression, Verfolgung, Ausbürgerung. Angst, und das war besonders perfide, Angst vor den Folgen des eigenen Handelns für die Familie, für die Freunde. Sie, die hier im Saal sitzen, Sie wissen sehr genau, was das bedeutet.

Lieber Roland Jahn, Sie haben das selbst erlebt und erlitten, in Ihrer geliebten Heimatstadt Jena, die damals, in den 1970er und 1980er Jahren, junge Leute aus der ganzen DDR anzog, in der eine höchst rebellische Jugendkultur entstand – Keimzelle für eine starke Opposition. Dort, in Jena, sind Sie aufgewachsen, zur Schule gegangen, haben Sie begonnen Wirtschaftswissenschaften zu studieren.

Der Wendepunkt war das Jahr 1976, für Sie und viele andere. Der Wendepunkt war die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Sie waren darüber empört, kritisierten das Regime, noch moderat. Es schlug zurück, zunächst mit der Exmatrikulation. Aber Sie politisierten sich immer mehr, sympathisierten mit der Solidarność in Polen, ließen sich nicht das Wort verbieten – ich darf Sie zitieren: Meine Feigheit hatte ein Ende, als mein Freund Matthias Domaschk aus Jena im April 1981 in einem Verhör in der Stasi-Haft zu Tode kam. Bis heute sind die Umstände seines Todes nicht geklärt.

Für Sie, lieber Roland Jahn, gab es nur eine Antwort: Widerstand. Mit Gleichgesinnten gründeten Sie die Friedensgemeinschaft Jena. Sie wurden verhaftet, verhört, eingesperrt. Das Regime versuchte Sie zu brechen. In Isolationshaft unterschrieben Sie einen Ausreiseantrag, dabei wollten Sie das Land gar nicht verlassen. Sie wollten es verändern. Die Machthaber der SED lösten das Problem auf ihre Weise und ließen Sie im Juni 1983 bei Nacht, in Ketten, in einem Interzonenzug in den Westen abschieben. Ein Akt brutaler Willkür.

Alles hatte das Regime Ihnen genommen, die Ausbildung, die Freunde, die Familie, die Heimat. Nur zum Schweigen brachte es Sie nicht. Im damaligen Westberlin begannen Sie als Journalist zu arbeiten. Ihr Lebensthema, das Unrecht in der DDR, es ließ Sie nie wieder los. Sie wollten denen eine Stimme geben, die sonst niemand gehört hätte. Unbeirrbar berichteten Sie über die Zustände hinter der Mauer, über das Ausmaß der Repression und über den Mut der Oppositionsgruppen. Sie ließen über Ihre weit verzweigten Kontakte Flugblätter, Bücher, Kameras in die DDR bringen und erhielten von dort Manuskripte und Filmaufnahmen. So gelangten auch die Bilder der Montagsdemonstrationen in Leipzig ins Westfernsehen – auch die von der so entscheidenden Demonstration am 9. Oktober 1989, die der damalige Spiegel-Korrespondent Ulrich Schwarz heimlich nach Westberlin brachte.

Sie, lieber Roland Jahn, hatten die Angst verloren. Und das galt für immer mehr Menschen. Die Friedliche Revolution war nicht mehr aufzuhalten. Am 9. November 1989 brachten die mutigen Bürgerinnen und Bürger der DDR die Mauer zu Fall. Und noch ein paar Wochen später retteten mutige Bürgerinnen und Bürger die Akten der Staatssicherheit vor der Vernichtung. Sie, lieber Roland Jahn, waren dabei. Sie wussten nun, dass Sie und sogar Ihre kleine Tochter auch im Westen jahrelang überwacht worden waren.

Sie alle haben damals Geschichte geschrieben. Sie haben Demokratiegeschichte geschrieben. Wir Deutsche verdanken Ihnen unendlich viel!

Lieber Roland Jahn: Welch ein Lebensweg! Nur wer sich ändert, bleibt sich treu, hat Wolf Biermann gesungen. Noch so ein Satz, der sich leicht sagt. Aber wie viel Mut erforderte das! Welch hohen persönlichen Preis haben Sie und viele, viele andere dafür bezahlt. Ich habe großen Respekt vor diesem Mut.

Sie wissen, wie wichtig es war und ist, dass die Opfer der Staatssicherheit ihre Akten einsehen können. Sie bekamen damit ein Stück Selbstbestimmung in ihrem Leben zurück, einem Leben zwischen Anpassung und Widerspruch – so haben Sie es in Ihrem Buch beschrieben. Sie schildern darin sehr ehrlich, wie schwer es ist, in einer Diktatur zu entscheiden, was falsch und was richtig ist. Sie schildern auch, wie sehr Sie selbst mit sich gerungen haben. Mitmachen oder verweigern, anpassen oder widersprechen. Das sind die Fragen, vor denen viele von uns in der DDR fast täglich standen, so haben Sie es an anderer Stelle formuliert.

Und genau deshalb wissen Sie, wie wichtig es ist, sich mit den Mechanismen einer Diktatur zu beschäftigen – um zu verstehen, wie verführbar fast jeder Mensch ist; um daraus zu lernen, für die Gegenwart und für die Zukunft. Es ist dieses Credo, das auch Ihre beiden Amtszeiten als Chef der Stasiunterlagenbehörde geprägt hat: Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.

Noch etwas hat Ihre Arbeit, Ihr Leben geprägt: Im Mittelpunkt müssen die Opfer stehen und ihr Leid. Ihnen muss Gerechtigkeit zuteilwerden. Immer ging es Ihnen darum, zu verstehen, wie Menschen leben und überleben in einer Diktatur – nicht darum, über sie zu richten. Sie wollten Aufklärung und Versöhnung.

Lieber Roland Jahn, die Stasiunterlagenbehörde, die Sie zehn Jahre lang mit so viel Energie und so viel Einsatz geleitet haben, diese Behörde ist seit dem 17. Juni dieses Jahres Geschichte. Und Sie sind einer der nicht gerade zahlreichen Behördenchefs in Deutschland, der mit aller Kraft darauf hingearbeitet hat, sich selbst abzuschaffen – nicht nur, weil das von Anfang an so geplant war. Sie sind überzeugt, dass die Eingliederung der Stasiakten ins Bundesarchiv mehr als dreißig Jahre nach Friedlicher Revolution, Mauerfall und Deutscher Einheit der Weg in die Zukunft ist. Eine Zukunft, in der es stärker darum gehen muss, sich mit dem SED-Regime insgesamt und nicht nur mit der Stasi zu beschäftigen.

Ja, um diese Entscheidung wurde politisch hart gerungen und manche Opfer befürchten, dass dieses dunkle Kapitel jetzt ein für alle Mal geschlossen wird. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Die Stasiakten sind ein einzigartiges Vermächtnis. Ihre Rettung und ihre damals so umstrittene Öffnung haben dazu geführt, dass wir – und zwar alle Deutsche – wertvolle, oft auch schmerzhafte Einblicke in die Wirkmächtigkeit der SED-Diktatur gewinnen konnten. Für diesen Einblick können wir nicht dankbar genug sein.

Als Bundespräsident halte ich es für sehr wichtig, dass die Akten jetzt ein Teil unseres Erbes, eines gesamtdeutschen Erbes sind. Die Aufarbeitung unserer jüngeren Geschichte, und damit meine ich unsere gemeinsame Geschichte, sie bleibt Aufgabe für die nächsten Generationen. Nicht nur für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern für uns alle, für die gesamte Gesellschaft. Deshalb müssen diese Zeugnisse des Unrechts auch künftig zur Einsicht zugänglich bleiben.

Geschichte ist nie einfach vergangen. Sie wirkt fort. Sie prägt Menschen über Generationen hinweg. Gerade in einer Zeit, in der die liberalen Demokratien, in der auch unsere Demokratie stärker angefochten wird, in der das Autoritäre neue Verführungskraft entfaltet, in einer solchen Zeit ist es umso wichtiger, Lehren aus den beiden deutschen Diktaturen zu ziehen. Das können wir nur, wenn wir wissen, was geschehen ist und warum es geschehen ist.

Ja, dieses Wissen ist oft schmerzhaft. Wer wüsste das besser als Sie. Aber wir brauchen dieses Wissen, um wachsam zu bleiben, um unsere Demokratie zu schützen und zu verteidigen.

Und: Wir müssen dieses Wissen weitergeben an die nächsten Generationen und dafür neue Formen der Vermittlung finden. Deshalb ist es wichtig, dass die einstige MfS-Zentrale als Campus der Demokratie erhalten bleibt und junge Leute, hoffentlich bald wieder aus der ganzen Welt, an diesem Ort der Aufklärung erfahren, welch kostbares Gut eine Demokratie ist.

Neue Generationen stellen neue Fragen. Das Interesse an der eigenen Familiengeschichte, an den Stasiakten von Familienmitgliedern ist in den vergangenen Jahren größer geworden, und das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Das Gespräch mit jungen Leuten ist Ihnen, lieber Roland Jahn, ein Herzensanliegen – auch in der eigenen Familie.

Ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken, und ich weiß, dass ich damit für viele andere spreche. Wir danken Ihnen – für Ihren Mut, Ihr Engagement, für Ihre Menschlichkeit! Sie haben Herausragendes geleistet für unser Land und sich um die Aufarbeitung des SED-Unrechts und um die Bewahrung unseres historischen Erbes verdient gemacht. Sie haben eine zentrale Rolle gespielt bei der Verständigung zwischen Ost und West. Menschen wie Ihnen verdanken wir, dass wir heute ein geeintes Land sind.

Es ist mir eine Ehre und eine große Freude, Sie heute mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland auszuzeichnen. Unser Land braucht Menschen wie Sie. Menschen, die ungeheuren Mut beweisen, wenn es darauf ankommt. Menschen, die eine Haltung, einen inneren Kompass haben. Menschen, die sich tagtäglich einsetzen für Toleranz, Freiheit, Menschenrechte – für unsere Demokratie.

Roland Jahn als Rentner – das ist schwer vorstellbar. Ich bin sicher, dass Sie auch in Zukunft von Ihrem Lebensthema nicht lassen werden und dass wir noch viel von Ihnen hören werden.

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Auszeichnung und meine allerbesten Wünsche für einen fröhlichen Unruhestand!