Gedenkveranstaltung des Internationalen Auschwitz Komitees für Roman Kent

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 30. August 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Gedenkfeier des Internationalen Auschwitz Komitees für dessen im Mai verstorbenen Präsidenten Roman Kent am 30. August in Berlin eine Ansprache gehalten: "Ich denke mit tiefer Wehmut und großer Dankbarkeit zurück an Roman Kent. Deutschland wird sein Andenken bewahren. Sein Vermächtnis ist uns eine Verpflichtung, Antisemitismus und Rassismus jeder Art Widerstand zu leisten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei einer Veranstaltung des Internationalen Auschwitz Komitees zum Gedenken an Roman Kent auf einer Bühne in der Landesvertretung Niedersachsen

Wir haben in vielen Sprachen an vielen Orten der Welt vom Tod Roman Kents gehört und gelesen. In der deutschen Jüdischen Allgemeinen las ich den Satz, die Überlebenden der Shoah verabschiedeten sich mit tiefer Wehmut vom Präsidenten des Internationalen Auschwitz Komitees.

Wehmut ist ein Wort, das selten geworden ist in der deutschen Sprache. Es ist ein Solitär, wie Roman Kent es war. Es gibt kein Synonym, kein Äquivalent für das Wort Wehmut. Kein deutsches Wörterbuch kennt eine Entsprechung. Man kann sich seiner Bedeutung nur annähern, weil in ihm vieles zugleich anklingt. Die Wehmut ist ein Akkord aus Trauer, Schmerz, aber auch Sehnsucht und Melancholie. Vielleicht kommt man der Wehmut am nächsten, wenn man sie als liebende Erinnerung an etwas Unwiederbringliches versteht.

Liebende Erinnerung an etwas Unwiederbringliches – so fühle ich, wenn ich an Roman Kent denke. So fühle ich, wenn ich an den kleinen Jungen denke, der er war, als man ihn und seine Familie aus ihrem Haus vertrieb und ins Ghetto von Lodz zwang. Das Ghetto von Lodz, in dem auf engstem Raum fast eine Viertelmillion jüdischer Frauen, Männer und Kinder zusammengepfercht war – die Juden von Lodz, die nicht rechtzeitig vor den heranrückenden deutschen Truppen fliehen konnten.

Roman ist zehn Jahre alt. Sein Vater wird im Ghetto an Hunger sterben, die Familie wird nach Auschwitz deportiert und auseinandergerissen, die Mutter ermordet. Roman, sein Bruder Leon und seine beiden Schwestern überleben Auschwitz. Die Brüder überleben noch drei weitere Lager, bis sie auf dem Todesmarsch von Flossenbürg nach Dachau von amerikanischen Soldaten befreit werden. Eine Schwester, Dasza, stirbt nur kurze Zeit nach der Befreiung an Auszehrung.

Es sind die Stationen einer Kindheit. Wir waren alle sehr glücklich, sagte Roman Kent über das Kind, das er war, über die Familie, in die er geboren wurde. Als er im Januar 1945 befreit wird, ist diese Familie zerstört, seine Kindheit vorbei.

Niemand vermag sich die Verlassenheit eines Kindes in Auschwitz vorzustellen. Und niemand vermag sich vorzustellen, wie ein sechzehnjähriger Überlebender dieses Infernos in ein neues Leben zurückfindet.

Roman Kents Sohn Jeffrey wird später über das Schicksal seines Vaters sagen: Alle Überlebenden sind durch die Hölle gegangen, und niemand ist davon unberührt geblieben. Was nicht gesehen, gehört, gefühlt oder getan werden konnte, existiert in jedem von ihnen weiter. Es trennt sie von uns, die wir keine Überlebenden sind.

Es ist eine Erfahrung, die wir von vielen Überlebenden der Shoah gehört oder gelesen haben: dass die Erfahrung der Todeslager, der Einschnitt im Leben der Überlebenden nicht nur eine Beschädigung der Biographie ist, wie sie der frühe Tod eines Elternteils oder der Verlust von Heimat und Besitz bedeuten würden.

Der tiefe Einschnitt ins Leben derer, die Auschwitz überlebten, ist die Grenzerfahrung der Todeslager, die Erfahrung, der Bestie im Menschen begegnet zu sein. Erkannt zu haben, dass in Auschwitz nicht das Monströse in Menschengestalt auftrat, sondern dass die Bestie in uns allen lauert.

Es ist diese Erfahrung, die Primo Levi sagen lässt: Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Davor zu warnen, zu erzählen, was in Auschwitz geschehen war, hatte sich Roman Kent ebenso wie Primo Levi zur Aufgabe, zur Lebensaufgabe gemacht.

Roman Kent gelang es, ins Leben zurückzukehren. In ein neues Leben in einer anderen Welt. In ihm aber blieb Auschwitz unauslöschlich. Kein Überlebender musste sich je an Auschwitz erinnern; es ist ihnen eingeprägt. Wir, die Nachgeborenen, wir müssen erinnert werden an das, was geschah. Roman Kent tat es. Er erinnerte uns an Auschwitz. Und er tat es als Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees auf so eindringliche Weise wie kaum ein anderer. Roman Kent legte Wert darauf, seine Worte nicht zu verbrämen, wenn er über Auschwitz sprach. Menschen hatten dort nicht ihr Leben verloren, sie waren auch nicht gestorben, sie waren brutal ermordet worden.

Vor einigen Jahren traf ich Roman Kent das erste Mal als Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees. Es war ein intensives und sehr eindrückliches Gespräch.

Er wusste um die Abgründe des Menschen. Er hatte sie gesehen und am eigenen Leibe erfahren. Aber er war auch ein pragmatischer, durchsetzungsfähiger Kämpfer für die Rechte und die Anliegen der Überlebenden. Ihnen wollte er helfen, ihr Leid wollte er lindern, sie wollte er unterstützen. Und er kämpfte für die finanzielle Entschädigung der Überlebenden lange Jahre als Schatzmeister der Jewish Claims Conference. Die Überlebenden verdanken Roman Kent unendlich viel. Wir alle verdanken ihm viel.

Mut sei seine einzige Option gewesen, die einzige Möglichkeit, zu überleben und die Kraft zu finden zu erinnern. Das war das Resümee Roman Kents und zugleich der Titel seiner Autobiographie.

Doch wir verdanken Roman Kent und seine Geschichte auch seiner neuen Heimat, den Vereinigten Staaten von Amerika. Sie haben ihn und seinen Bruder wie so viele elternlose Kinder aufgenommen, die der Shoah entkommen waren. Sie gaben den Überlebenden eine Heimat und boten ihnen eine Chance auf ein neues Leben. Sie waren ihnen Home of the brave, eine Heimat der Tapferen.

Mut, so hoffe ich, werden auch wir aufbringen und in diesem Sinne das Vermächtnis Roman Kents weitertragen. Würden wir vergessen, was geschehen ist, sagte er zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, würden wir das Gewissen der Menschheit neben den Opfern begraben. Es ist ein Vermächtnis, eine Aufgabe, die er allen Regierenden überall auf der Welt aufgab: dass sie Angst, Vorurteile und Hass nicht schüren und ihre Kinder Verständnis und Toleranz lehren sollten.

Roman Kent setzte seine Hoffnungen in junge Menschen, wie so viele seiner Mitstreiter, wie auch Esther Bejarano, die nur wenige Wochen nach ihm starb. Wir erinnern an Auschwitz, sagte sie einmal, um die Welt zu verändern. Beide hatten dasselbe Ziel: dass die Welt durch die nachwachsenden Generationen zu einer besseren werden sollte. Ich wünsche mir, dass diese Hoffnungen sich erfüllen.

Denn wir alle müssten verstehen, dass Hass niemals richtig und Liebe niemals falsch ist, wie Roman Kent sagte.

Ich denke mit tiefer Wehmut und großer Dankbarkeit zurück an Roman Kent. Deutschland, unser Land wird sein Andenken bewahren. Sein Vermächtnis ist uns Verpflichtung: Antisemitismus und Rassismus jeder Art müssen wir widerstehen.

Wir wollen es verstehen, wie Roman Kent es uns aufgetragen und wie Marian Turski es so eindringlich, so nachdrücklich im letzten Jahr in Auschwitz formuliert hat, als ein elftes Gebot: Du sollst nie, niemals gleichgültig sein.