Diskussionsveranstaltung "Zukunft der Demokratie und Zusammenhalt der Gesellschaft"

Schwerpunktthema: Rede

Bratislava/Slowakei, , 2. September 2021

Der Bundespräsident hat am 2. September bei einer Diskussionsveranstaltung zum Thema "Zukunft der Demokratie und Zusammenhalt der Gesellschaft" eine Rede in Bratislava gehalten: "Die Art und Weise, wie unsere Staaten den selbst gesetzten Ansprüchen gerecht werden, prägt die Glaubwürdigkeit unserer Ordnung, und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diese Ordnung, in die Demokratie, ihre Vertreter, Institutionen und Verfahren. Kurz gesagt: Das Vertrauen der Bürger hat Voraussetzungen!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Diskussionsveranstaltung zum Thema "Zukunft der Demokratie und Zusammenhalt der Gesellschaft" während einer Reise in die Slowakische Republik

Demokratie und Zusammenhalt: Wo in Europa steht die Frage nicht oben auf der Tagesordnung? Bei uns in Deutschland jedenfalls genauso wie bei Ihnen in der Slowakei. Ich hoffe, Sie erwarten von mir keine abschließenden Antworten auf diese herausfordernden Fragen; es werden deutsche Antworten sein – und sie erzählen etwas von den Debatten, die wir bei uns im eigenen Land führen. Ich glaube, es geht nur so, indem wir uns gegenseitig unsere Erfahrungen berichten.

Die eine Zauberformel für die eine gelingende Demokratie gibt es nicht. Zu groß sind unsere unterschiedlichen Prägungen durch Geographie und Demographie, durch politische Kultur und politische Konjunktur, durch Geschichte und Gesellschaft, durch wirtschaftliche Entwicklung und soziale Bewegungen.

All diese Eigenheiten prägen das demokratische Leben unserer Länder, stellen jede Demokratie vor ganz eigene, ganz besondere Fragen. Und doch sitzen wir als Demokraten alle in einem Boot. Zum einen eint uns die Überzeugung, dass die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaften der beste Weg ist, um die vielfältigen Hoffnungen, Erwartungen und Fähigkeiten unserer Bürger friedlich zur größtmöglichen Entfaltung zu bringen. Zum anderen ringen wir in unseren beiden Ländern mit grundlegenden Veränderungen, die unsere Demokratien, so wie wir sie kennen, herausfordern:

Wie können Repräsentation und Debatte auch in Zukunft gelingen, wenn Parteien an Bindungskraft verlieren, Milieus diffundieren und der öffentliche Diskursraum, gerade im Internet, sich rasant verändert?

Was setzen wir der Tendenz zur Polarisierung und Zuspitzung entgegen, die die für das Gelingen der Demokratie so wichtige Denkfigur des Kompromisses diskreditiert und verächtlich macht?

Wie kann die Demokratie die großen Herausforderungen bewältigen, die weit über eine einzelne Legislaturperiode hinausweisen und langfristiges Denken ebenso erfordern wie entschiedenes Handeln im Hier und Jetzt – etwa im Kampf gegen den Klimawandel oder in der menschenwürdigen Steuerung der Digitalisierung?

Und welche Verantwortung tragen die Demokratien in der Auseinandersetzung mit anderen Systemen für die universelle Geltung ihrer eigenen Maßstäbe – eine Frage, die uns in diesen Tagen angesichts der Bilder aus Kabul besonders umtreiben muss?

Ich erwarte nicht, dass wir auf diese schwierigen Fragen hier und heute in unserem Kreis eine abschließende Antwort finden. Aber ich will die Fragen nennen, weil die Suche nach Antworten auf diese Fragen im Zentrum meines Redens und Handelns als Bundespräsident steht. Ich stelle sie Ihnen auch, um klar zu machen, dass es für mich in der Debatte um die Zukunft der Demokratie um mehr gehen muss als um eine weitgehend statische Verteidigung dessen, was wir einst als richtig erkannt haben.

Es geht vielmehr darum, dass wir gemeinsam eine überzeugende Idee von der Demokratie der Zukunft entwickeln. Wir dürfen diese Veränderung nicht nur defensiv betrachten, sondern müssen auch die Idee der Demokratie selbst als dynamische Entwicklung verstehen. Dann aber gilt erst recht, ob in Amerika oder Australien, in Berlin oder Bratislava: Wir alle suchen nach den überzeugendsten Antworten, nach dem besten Weg. Und ich bin überzeugt, wir können viel voneinander lernen, wenn wir uns gemeinsam auf die Suche machen, im Gespräch unter Demokraten, im Dialog der Demokratien. Warum? Weil uns das Demokratiesein mehr verbindet als alles andere.

Wenn ich eine fundamentale Voraussetzung aller funktionierenden Demokratien nennen müsste, dann ist es: Vertrauen. Nur mit Vertrauen – in uns selbst, als souveräne Wähler, ineinander, als Bürgerinnen und Bürger, in unsere öffentlichen Debatten, aber auch in unsere Verfahren und Institutionen – nur mit Vertrauen kann Demokratie gelingen.

Vertrauen beruht in einer Demokratie zuallererst auf dieser immer fragilen Übereinkunft zwischen den Bürgern und ihrem Staat: Du, Staat, tust deinen Teil; ich Bürger tue meinen. Gerade die vergangenen Monate haben uns gezeigt, wie kostbar, aber auch wie zerbrechlich dieses Vertrauen sein kann – etwa im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen.

Die Art und Weise, wie unsere Staaten den selbst gesetzten Ansprüchen gerecht werden, prägt die Glaubwürdigkeit unserer Ordnung und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diese Ordnung, in die Demokratie, ihre Vertreter, Institutionen und Verfahren. Kurz gesagt: Das Vertrauen der Bürger hat Voraussetzungen! Dass Amtsträger sich als Anwalt des gesamten Volkes verstehen, dass die Mehrheit die berechtigten Interessen der Minderheiten nicht ignoriert, dass die staatlichen Institutionen funktionieren, nichtdemokratischer Einfluss ausgeschlossen und Korruption bekämpft wird, dass Rechtsstaatlichkeit gewahrt ist.

Die periodische Wiederkehr von Wahlen allein sichert noch keine Demokratie. Das missverstehen oder missachten bewusst die, die neuerdings die illiberale Demokratie nur als Ausprägung ein- und derselben Verfassungstradition sehen wollen. Meine Überzeugung bleibt, die Demokratie ist entweder liberal – oder sie ist nicht.

Diese innere Festigkeit unserer Demokratien wird derzeit auf die Probe gestellt. Zu den Anfechtungen von außen durch autoritäre Gegenmodelle, deren Faszination tief in unsere eigenen Gesellschaften hineindringt, treten Angriffe aus dem Inneren, die uns nicht kalt lassen dürfen. Angriffe auf unsere demokratischen öffentlichen Räume. Laute Minderheiten nutzen auch bei uns die Werkzeuge digitaler Manipulation, um die Demokratie verächtlich zu machen. Was in den Newsfeeds und Kommentarspalten der sozialen Medien an Polarisierung, an Verrohung der Sprache, an stiller aber wirkungsvoller Manipulation unserer öffentlichen Debatten stattfindet, das sollten wir nicht kleinreden – und das dürfen wir nicht hinnehmen!

Wenn der Brückenschlag über Parteigrenzen hinweg, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit politischen Konkurrenten, der Kompromiss als Verrat diffamiert werden, dann ist das ein Problem für die Demokratie. Wenn der Respekt vor der Haltung anderer, die prinzipielle Einsicht, dass auch andere recht haben könnten, untergehen im Schrei nach Eindeutigkeit, dann ist auch das ein Problem für die Demokratie. Wenn Bürgermeister zurücktreten, weil sie die Attacken im Internet nicht mehr ertragen, wenn der deutsche Bundespräsident ein Hilfe-Netzwerk für bedrohte Kommunalpolitiker ins Leben rufen muss, wenn gar aus sprachlicher Gewalt im Netz im Handumdrehen physische Gewalt auf der Straße wird, dann zeigt sich, wie ungebremste Polarisierung zur Belastung der Demokratie wird oder werden kann.

Umso dringender brauchen wir daneben starke, vertrauenswürdige, unabhängige Medien, die informieren, aufklären, einordnen. Deren Funktionieren nicht darauf angelegt ist, die tägliche Empörungsspirale immer noch eine Umdrehung weiterzudrehen.

Überall in Europa sollten wir in ein paar grundlegenden Dingen einig sein: Wer Journalisten angreift und freien Medien den Mund verbietet, wer Universitäten drangsaliert und aus Ministerien und Parteizentralen heraus die öffentliche Meinung diktieren will, der legt die Axt an das Vertrauen in unsere demokratische Öffentlichkeit und untergräbt die Demokratie – und mit ihr die Werte, die wir uns in der Europäischen Union zur gemeinsamen Grundlage gemacht haben.

Wenn ich zum Vertrauen in demokratische Institutionen und dem Vertrauen in den öffentlichen Debattenraum zum Schluss noch einen dritten Aspekt für unsere Diskussion hinzufügen dürfte, dann wäre es – ganz schlicht – unser Vertrauen zueinander als Bürgerinnen und Bürger.

Dieses Vertrauen ineinander drückt sich in einer Demokratie auf viele Arten aus – vor allem anderen aber in der Einsicht in die Notwendigkeit von Beschränkungen der eigenen Freiheit, um die Freiheit des anderen überhaupt erst zu ermöglichen. So haben wir es gerade in den härtesten Monaten der Pandemie neu erfahren.

Es macht mir Sorge, wenn dieses Grundvertrauen in vielen demokratischen Gesellschaften heute schwindet, wenn Polarisierung um sich greift, wenn der politische Gegner zunehmend als Feind stigmatisiert wird. Das vergiftet nicht nur den politischen Diskurs. Sondern damit geht auch die Einsicht in den fundamentalen Wert des friedlichen Machtwechsels verloren. Demokratie aber ist Herrschaft auf Zeit.

Dieses Grundvertrauen kann kein Parlament verordnen und keine Zeitung herbeischreiben, wir können es uns nicht zurechtwünschen und nicht voneinander einklagen. Wir müssen es leben. Und wir müssen eine politische Kultur pflegen, die den demokratischen Wettbewerb sucht, aber die innerstaatliche Feindeserklärung unter Demokraten vermeidet. Das gilt in Berlin ebenso wie in Bratislava.

Auf die heutige Debatte freue ich mich außerordentlich. Herzlichen Dank fürs Zuhören.