Besuch des kommunalen Beteiligungsprojekts "Jugend entscheidet" der Hertie-Stiftung

Schwerpunktthema: Rede

Ballenstedt, , 6. September 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat beim Besuch des kommunalen Beteiligungsprojekts "Jugend entscheidet" der Hertie-Stiftung am 6. September in Ballenstedt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einer Ansprache begrüßt: "Es geht darum, dass Jugend und Politik miteinander ins Gespräch kommen. Das klingt vielleicht profan, ist aber alles andere als das."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit zwei Jugendlichen im Rahmen des Projektes "Jugend entscheidet" in Ballenstedt

Als die Hertie-Stiftung mich einlud, das Programm Jugend entscheidet aus der Nähe anzusehen, hatten wir die vorsichtige Hoffnung, dass Anfang September eine Phase der Erleichterung sein könnte. Weil der Anteil der Geimpften schon so hoch wäre. Weil man sich in der Sommerpause erholen und neue Zuversicht entwickeln würde. Weil nach dieser langen Krise ein Aufschwung spürbar wäre. Ehrlicherweise ist die Stimmung in unserem Land heute eher durchwachsen. Die Delta-Variante macht uns Sorgen. Ganze Regionen sind nach einem Jahrhunderthochwasser noch im Schockzustand, in Trauer. Und die Nachrichten, die wir aus Afghanistan erhalten, erschüttern uns seit Wochen.

Wenn ich in die jüngsten Gesichter hier vor mir schaue, zwölf, fünfzehn Jahre alt, dann würde ich diese Härten der Realität am liebsten von Euch fernhalten und Euch einfach einen unbeschwerten Start ins neue Schuljahr wünschen. Aber das wäre genau das Falsche. Junge Menschen ernst zu nehmen, bedeutet, sie auf die Welt vorzubereiten so wie sie ist. Ohne den Satz: Das verstehst Du noch nicht. Ohne rosarote Brille. Auch ohne den Verdruss, den Erwachsene zuweilen umhertragen.

Jugend entscheidet schafft Raum für Begegnungen, in denen alle Altersgruppen etwas lernen können. Dieser Ansatz gefällt mir besonders, denn zu Beginn sind es ja nicht die Schülerinnen und Schüler, die sich um eine Teilnahme bewerben, sondern die Kommunen.

Lieber Herr Dr. Knoppik, Sie haben nach dreizehn Jahren im Bürgermeisteramt nicht den Ruf, in Ballenstedt eine ganze Generation zu vernachlässigen; trotzdem haben Sie sich für dieses Programm entschieden, noch dazu in einer Phase, als das Rathaus schon wegen Corona viele Überstunden schrieb. Gerade jetzt, war Ihre Devise, und da stimme ich Ihnen voll zu. Gerade jetzt, nachdem junge Menschen so viele Monate lang wegen der Pandemie zurückgesteckt und verzichtet haben und so viel Rücksicht nehmen mussten, sollten wir ihnen umso mehr Aufmerksamkeit schenken. Im Oktober werde ich aus diesem Grund 16- bis 24-Jährige zu einem Takeover Bellevue ins Schloss einladen, sozusagen für eine freundliche Übernahme. Betrachten Sie mich also gern als Verbündeten.

Der Kern unserer Projekte ist der gleiche: Es geht darum, dass Jugend und Politik miteinander ins Gespräch kommen. Das klingt vielleicht profan, ist aber alles andere als das. Zum einen, weil es weder die Politik noch die Jugend gibt. Zum anderen, weil wir uns als Gesellschaft gerade schwertun, den Wert von Gesprächen zu erkennen. Oder ihn wirklich auszuschöpfen. Ich meine echte Gespräche von Angesicht zu Angesicht, nicht das Raushauen schnell getippter Zeilen, die möglichst viele Likes, möglichst viel Zustimmung einbringen. Echte Gespräche brauchen Zeit. Sie brauchen Geduld, um dem Gegenüber zuzuhören. Und manchmal die Einsicht, dass man mit der eigenen Auffassung falsch lag. Das Zugeständnis, dass sogar der andere auch einmal Recht haben könnte.

Echte Gespräche sind die Voraussetzung für Kompromisse, eines der wichtigsten Handwerkszeuge unserer Demokratie. Wir müssen deshalb widersprechen, wenn Kompromisse gedankenlos als Schwäche abgetan werden. Das Gegenteil ist der Fall. Nur wer geistige Stärke und Ausdauer beweist, ist überhaupt fähig zu Kompromissen. Und wer die deutsche Geschichte nach 1945 anschaut, der erkennt: Die großen gesellschaftlichen Konflikte haben wir dank unserer Kompromissfähigkeit gelöst. Sie gehört für mich zu den kostbarsten Fähigkeiten, die wir als Nation haben. Aber sie ist kein Selbstläufer. Jeder Jahrgang muss sie für sich entdecken, erleben, ja: regelrecht einüben.

Ich kann Ihnen, liebe Frau Niejahr, deshalb nur von Herzen danken, dass Sie Jugend entscheidet erfunden haben und intensiv um Mitstreiter werben. Politische Bildung braucht solche Innovationen. Für Jugendliche heute in Ballenstedt sind andere Dinge von Bedeutung als beispielsweise für mich Ende der 1960er Jahre in Brakelsiek, Nordrhein-Westfalen. Aber ganz egal, ob ein Ort im Osten oder Westen Deutschlands liegt, ob er klein oder groß ist: Alle Heranwachsenden sollen sich gesehen und gehört fühlen, sollen die Möglichkeit haben, sich einzubringen.

Seit Jahrzehnten denken Fachleute darüber nach, wie das funktionieren könnte: Kinderbüros, Jugendgemeinderäte, lokale Bündnisse oder offizielle Beauftragte. Manches davon wird gut angenommen. Anderes versandet, weil die jungen Menschen für Ausbildung und Studium ihre Heimatorte verlassen und ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger immer weniger Lust auf formale Gremien, lange Sitzungen oder feste Mitgliedschaften haben. Diese Altersgruppe für unpolitisch zu halten, wäre jedoch ein Trugschluss. Das ist den meisten Erwachsenen spätestens mit Fridays for Future klar geworden.

Umweltschutz rangiert auch hier Ballenstedt unter den Topthemen der Jugendlichen, wie mir erzählt wurde. Da hat übrigens Euer Bürgermeister Kompromissbereitschaft bewiesen. In welchem Umfang die von Euch vorgeschlagene Begrünungsaktion stattfinden kann, ist zwar im Stadtrat noch nicht ausverhandelt, aber dass wir einen symbolischen Baum – sagen wir: den ersten von vielen – heute gemeinsam pflanzen dürfen, das hat er schon mal bestätigt. Offenbar gilt: Jugend entscheidet nicht nur, Jugend beschleunigt. Ich freue mich auf die Stunden mit Euch.