Besuch des Schwedischen Reichstages

Schwerpunktthema: Rede

Stockholm/Schweden, , 7. September 2021

Bundespräsident Steinmeier hat während des Staatsbesuchs in Schweden am 7. September in Stockholm eine Rede vor dem Schwedischen Reichstag gehalten: "Was Schweden und Deutsche über viele Jahrzehnte ausgezeichnet hat, ist der Glaube an den Fortschritt; die Zuversicht, durch Innovation und Erfindergeist das Leben der Menschen besser zu machen – und zwar nicht nur für wenige, privilegierte, sondern für möglichst alle."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Ansprache vor dem Schwedischen Reichstag während des Staatsbesuchs in Schweden

Vielen Dank für den freundlichen Empfang in diesem hohen Haus, Herr Präsident, in der Herzkammer der schwedischen Demokratie, meine Damen und Herren Abgeordneten.

Meine Frau und ich freuen uns sehr darüber, heute der Einladung seiner Majestät zum Staatsbesuch im Königreich Schweden folgen zu können, und wir sind ganz begeistert von der herzlichen Gastfreundschaft, die wir in diesen Tagen erleben dürfen.

Schweden zählt zu den wichtigsten und engsten Partnern der Bundesrepublik Deutschland. Die Ursprünge unserer Verbindung reichen weit zurück, bis in die Zeit der Hanse. Der Turm der deutschen Kirche zeichnet unsere gemeinsame Geschichte seit über 400 Jahren in die Skyline der Stockholmer Altstadt. Er ist das Monument, das Wahrzeichen unserer langen und wechselvollen gemeinsamen Geschichte.

Ich danke Ihnen für die besondere Ehre, heute im Schwedischen Reichstag zu Ihnen sprechen zu dürfen – ein Ort, der uns Gästen aus Deutschland Gelegenheit gibt, die Einzigartigkeit und Eigenart der schwedischen Demokratie aus nächster Nähe zu erleben. So habe ich zum Beispiel gelernt, dass die Damen und Herren Abgeordneten des Reichstags hier im Plenum nicht nach Fraktionen, sondern nach Wahlkreisen gesetzt werden. Man hat also nicht den Parteifreund, sondern den Nachbarn neben sich. Auch in Deutschland ist, wie Sie wissen, die regionale Identität nach wie vor bedeutsam – aber auf diese Idee sind wir noch nicht gekommen.

Ob es auf die eine oder auf die andere Art friedvoller zugeht, sei dahingestellt; es ist jedenfalls ein schönes Beispiel dafür, wie unterschiedlich unsere Demokratien sind – bei aller Einigkeit im Grundsätzlichen – und wie viel wir voneinander lernen können. Schon lange bewundern viele Deutsche das schwedische Sozialmodell, die großen Errungenschaften bei der Gleichstellung der Geschlechter, die fortschrittliche Familienpolitik und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Wir bestaunen die Fähigkeit der schwedischen Politik, inmitten des gesellschaftlichen Wandels und der fortschreitenden Fragmentierung im Parteiensystem immer wieder stabile Koalitionen und handlungsfähige Regierungen auf die Beine zu stellen. Wenn ich auf die anstehenden Bundestagswahlen in Deutschland schaue, dann wird man in Berlin womöglich schon bald von dieser Fähigkeit lernen müssen.

Großen Respekt genießt in Deutschland auch die schwedische Außenpolitik, die wie kaum eine andere die unveräußerlichen Menschenrechte und den humanitären Imperativ in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt. Sie ist uns Deutschen häufig Inspiration und Herausforderung zugleich. In diesen weltpolitisch rauer werdenden Zeiten ist es gut, sich auch hierzu vertrauensvoll auszutauschen. Wie können, wie sollen wir mit der Welt umgehen, wie sie ist, ohne dabei das Ziel einer besseren Welt aus den Augen zu verlieren? Wie finden wir als Demokratien die richtige Balance zwischen dem, was für uns nicht verhandelbar ist, und dem, was wir mit jenen verhandeln müssen, die unsere Ziele und Werte nicht teilen?

Sie merken, wir sind gespannt auf den Besuch in Ihrem Land, und ich kann für unsere gesamte Delegation sprechen, wenn ich sage: Für uns Deutsche ist Schweden – nicht nur touristisch, sondern gerade auch gesellschaftlich und politisch – ein faszinierendes Land, ein viel bewundertes Land. Von Schweden gibt es viel zu lernen.

Wir treffen einander in aufgewühlten Zeiten. Das gilt nicht nur für die internationale Politik. Unsere freiheitliche, sozialstaatliche Demokratie wird von außen wie von innen in Frage gestellt. Die Welt dreht sich längst nicht mehr um die europäische Sonne. Unsere Art zu leben ist nicht mehr der selbstverständliche Maßstab und Zielpunkt menschlicher Sehnsucht und gesellschaftlicher Entwicklung – wenn sie es überhaupt jemals war. Nicht nur unsere Wirtschaft, nein, auch unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung steht im scharfen internationalen Wettbewerb. Länder wie China oder Russland wollen den Beweis antreten, dass Sicherheit und Wohlstand auch ohne Demokratie und Freiheit gelingen können. Und laute Minderheiten bei uns zuhause gehen mit autoritären und identitären Reflexen auf Stimmenfang und tun so, als gäbe es auch eine illiberale Form der Demokratie; ich finde, ein Widerspruch in sich. Die Demokratie ist entweder liberal – oder sie ist nicht!

Der Wettbewerb der politischen Systeme spiegelt sich im Wettbewerb der Wirtschaftsräume. Rund um den Globus entstehen große Unternehmen, deren Zentralen weder in den USA noch in der Europäischen Union liegen, und große naturwissenschaftliche Forschungsinstitute, deren Arbeitssprache nicht unbedingt Englisch ist. Mit den wachsenden, selbstbewussten Mittelschichten in Asien, Afrika und Lateinamerika wächst eine unfassbar starke Nachfrage heran und entsprechende Angebote gleich mit. Die reichen Demokratien rund um den Atlantik sind nicht die einzigen, die Spitzenforschung betreiben und neue Technologien entwickeln können – im Gegenteil: Bei kritischen Zukunftstechnologien wie Halbleitern oder Batteriezellen sind andere weiter. Wir Europäer haben Innovation längst nicht mehr für uns gepachtet.

Dieser scharfe Wettbewerb hat Folgen für Europa, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und politisch. Unser Wohlstand und unsere Wettbewerbsfähigkeit bilden die materielle Grundlage für den starken gesellschaftlichen Zusammenhalt, auf den unsere Länder zu Recht stolz sind. Der Sozialstaat ist eine der wichtigsten Errungenschaften Europas; er sorgt für Ausgleich in unseren Gesellschaften, wenn sie das Gleichgewicht zu verlieren drohen. Und ebendiese Balance gerät unter Druck, in unseren beiden Staaten und in ganz Europa: Überall verändern sich soziale Milieus immer rascher, überall gibt es Migration und demographischen Wandel, überall stellen Digitalisierung und industrieller Wandel die Arbeitswelt auf den Kopf. In meinen Augen bilden insbesondere Migration und die Integration von Zugewanderten aktuell die soziale Frage, vielleicht sogar die soziale Frage für Europas Zukunft. Und sie ist nicht nur eine Herausforderung und ein politisches Minenfeld, sondern sie ist auch eine große Chance. Ich bin jedenfalls überzeugt: Für ein selbstbewusstes, starkes, global wettbewerbsfähiges Europa ist Abschottung keine Lösung.

Kurzum: Unsere Demokratie steht im Wettbewerb, und sie muss liefern, sie muss sich beweisen. Wenn ich auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte blicke, auf die große Transformation, die vor uns liegt, dann sehe ich ein Dreieck der Herausforderungen: den konsequenteren Schutz von Klima und Umwelt, den gleichzeitigen Erhalt unserer Wirtschaftskraft durch Innovation und den notwendigen sozialen Ausgleich, ohne den die Umbrüche der nächsten Jahre den gesellschaftlichen Frieden gefährden werden. In diesem Zieldreieck misst sich der Erfolg unserer Ambitionen. In diesem Dreieck wird sich auch die Zukunftsfähigkeit der liberalen Demokratie beweisen.

Unsere Länder, Deutschland und Schweden, sind – in dieser dreifachen Perspektive – so gleichgesinnt wie nur wenige andere Staaten auf der Welt und zugleich so gut positioniert wie kaum zwei andere: Klima- und Umweltbewusstsein sind in unseren Gesellschaften stark ausgeprägt, unsere Industrie ist weltweit führend und unsere Wissenschaft erstklassig, und unser Sozialstaat ist tief verwurzelt.

All das macht Schweden und Deutschland zu natürlichen Partnern, um überzeugende Antworten auf die große Herausforderung unserer Generation zu entwickeln. Und mit diesem Selbstbewusstsein können und sollten wir auch unsere Partner in der Europäischen Union begeistern: Wir haben der Welt etwas zu bieten! Diesen Anspruch, diese Leidenschaft für neue Ideen und den unbändigen Willen, die Welt von morgen mitzugestalten – das brauchen wir in diesem krisengeschüttelten Europa der letzten Jahre! Nur wenn Europa Innovation und Transformation als Stärke versteht und nicht als lästige Strafarbeit, nur dann werden wir im globalen Wettbewerb die Nase vorn behalten.

Was Schweden und Deutsche über viele Jahrzehnte ausgezeichnet hat, ist der Glaube an den Fortschritt; die Zuversicht, durch Innovation und Erfindergeist das Leben der Menschen besser zu machen – und zwar nicht nur für wenige, privilegierte, sondern für möglichst alle. Diese Zuversicht, diese Lust auf Zukunft müssen wir bewahren – und mit ihr können wir Europa anstecken.

Wenn Europa ein Kontinent der Ideen sein soll, dann müssten wir eigentlich schon heute unsere Landkarten neu zeichnen. Denn wenn es um Innovationskraft geht, liegt Schweden nicht am nördlichen Rand, sondern im Herzen Europas. Der schwedische Erfindergeist hat die ganze Welt verändert, die schwedische Wissenschaft ist weltweit vernetzt, und das nicht erst seit gestern. Schon in der Renaissance, in den frühesten Anfängen europäischer Aufklärung saßen schwedische und deutsche Reformatoren in Wittenberg beieinander und diskutierten Martin Luthers Thesen. Die Universitäten unserer beiden Länder sind seit Jahrhunderten miteinander verbunden, und bis heute kommen deutsche Studierende gern nach Schweden, deutsche Wissenschaftler gern an die Institute Ihres Landes. Die Nobelpreise sorgen auf der ganzen Welt für gespannte Neugier, wie auch die schwedische Luft- und Raumfahrtindustrie – übermorgen besuchen wir die European Space and Sounding Rocket Range im Norden Ihres Landes. Wer ein Smartphone in der Tasche trägt, nutzt schwedische Technologie, bis hin zur Bluetooth-Funkverbindung maßgeblich in Schweden entwickelt. Alltagsgegenstände wie das Tetrapak oder die Rohrzange: schwedische Erfindungen, wie wir schon lange wissen. Intelligent verpackte Möbel zum Selbstzusammenschrauben auch. Als Deutscher blicke ich natürlich besonders neugierig auf die starke schwedische Automobilindustrie, sowohl auf die bestehenden Kooperationen – morgen sind wir bei Scania zu Gast – als auch auf den erfrischenden Wettbewerb. Schweden ist ein Land der Erfinder – eines der attraktivsten Länder für Investitionen weltweit – und investiert selbst dreieinhalb Prozent seiner Wirtschaftskraft in Forschung und Entwicklung.

Besonders eng ist unsere Innovationspartnerschaft bei einem Thema, das unsere Zukunft bestimmt wie kein zweites: dem Klimawandel. Ich bin froh darüber, wie intensiv unsere beiden Länder in dieser Frage kooperieren, sei es bei der Zielsetzung für die CO2-Einsparungen in Europa oder bei der klimapolitischen Ausrichtung des Corona-Wiederaufbaufonds.

Doch die Anstrengungen unserer Länder, einen fairen Beitrag zur Begrenzung der Erderwärmung zu leisten, gehen weit darüber hinaus. Unsere Unternehmen arbeiten an der Elektromobilität der Zukunft und an erneuerbarer Energiegewinnung aus Wasser- und Windkraft. Schweden baut den größten Windpark Europas und will die grünste Batterie der Welt herstellen. Und auch das sollten wir nicht vergessen: Tausende Jugendliche in Schweden und Deutschland fordern auf unseren Straßen und Plätzen mehr Ambition und mehr Engagement beim Klimaschutz – und jedenfalls im Kern haben sie recht!

Nicht nur mit der Forderung, dass wir umfassender und schneller handeln müssen, sondern auch was unsere Zukunft im globalen Wettbewerb angeht. Ist es nicht so, dass in der Bekämpfung des Klimawandels eine große Chance für Europa liegt? Sind unsere Ideen, unsere Innovationskraft, unser Kapital nicht im Bereich der erneuerbaren Energien, der nachhaltigen Industrie, der klimaneutralen Mobilität, der umweltschonenden Lebensweise am besten investiert? Milliarden Menschen weltweit streben nach Teilhabe und Wohlstand – was könnte Europa im Wettbewerb der Wirtschaftsräume besser positionieren, was könnte ein sinnvollerer Beitrag zur Zukunft dieser Welt sein, als all diesen Menschen ein Angebot zu machen, wie sie in Wohlstand leben können, ohne dabei ihre natürlichen Lebensgrundlagen zugrunde zu richten?

Ich glaube, tief im Herzen ahnen viele Menschen in Europa, dass ein solcher Weg ein guter Weg in unsere Zukunft sein kann – mit qualifizierten Jobs, einer starken Industrie und führenden Forschungseinrichtungen. Es kann uns gelingen, als Europäer ein wettbewerbsfähiges Angebot für die Zukunft zu entwickeln und damit der großen gemeinsamen Transformationsaufgabe gerecht zu werden. Viele unserer politischen Initiativen zielen bereits in diese Richtung, und viele unserer Unternehmen planen schon in diese Richtung. Es ist nun an unseren Regierungen und Parlamenten, diese Transformation mit Nachdruck zu unterstützen und zugleich sozialpolitisch zu ermöglichen. Ich freue mich, dass die Europäische Kommission mit dem European Green Deal ein ambitioniertes Programm vorgelegt hat – und eines ist klar: Die Menschen in Europa erwarten, dass die Mitgliedstaaten – mit Ländern wie Schweden und Deutschland ganz vorneweg – diese große Aufgabe jetzt mit konkreten und substanziellen Schritten angehen. Denn am Erfolg, nicht an den Ankündigungen werden uns künftige Generationen messen.

Wenn ich auf die jüngere Vergangenheit schaue, habe ich keinen Zweifel, dass uns dieser Wurf gelingen kann. Die Corona-Pandemie hat uns gefordert wie kaum eine Krise der letzten Jahrzehnte. Sie hat uns tief getroffen, als Gesellschaften und als Menschen. Doch eines möchte ich heute schon festhalten: Wir können froh und stolz sein, wie weit uns die Solidarität in Europa getragen hat, trotz aller Startschwierigkeiten. Zum Glück haben wir rechtzeitig gemerkt, dass weder Deutschland noch Schweden noch irgendein anderes Land stark und gesund aus der Krise kommen kann, wenn unsere Nachbarn nicht auch stark und gesund werden. Die Solidarität bei der Beschaffung der Impfstoffe und der starke europäische Wiederaufbaufonds waren dringend notwendig – ich glaube sogar, sie haben das vereinte Europa am Leben gehalten.

Unsere Wege durch die Pandemie waren unterschiedlich, wir haben intensiv in unseren eigenen Ländern um die richtige Strategie gerungen, und wir Deutsche haben immer mit großem Interesse und lebhaften Debatten auf den schwedischen Weg geblickt. Aber bei allen Unterschieden in unserer Corona-Strategie, eine Grundüberzeugung haben wir seit dem ersten Tag der Pandemie geteilt: Der einzige dauerhaft erfolgreiche Weg aus der Pandemie ist der Weg, den Wissenschaft und Medizin uns weisen. Ich glaube nicht, dass es reiner Zufall ist, wenn zwei der ersten verfügbaren Impfstoffe maßgeblich von Firmen aus Deutschland und Schweden mit entwickelt und produziert wurden. Nein, diese Innovationskraft ist kein Sonderfall in der Corona-Pandemie. Sondern sie ist schon lange unser Erfolgsfaktor, und sie ist der Grund für unsere Zuversicht: Wir haben der Welt etwas zu bieten!

Wenn wir das immer wieder neu unter Beweis stellen, wenn wir damit in Europa vorangehen und andere begeistern, dann sichern wir nicht nur unseren Wohlstand, sondern dann zeigen wir der Welt, dass unsere freiheitliche und soziale Demokratie lebt und Strahlkraft hat. An welchem Ort ließe sich das besser illustrieren als in diesem ehrwürdigen Parlament: Demokratie hat in Europa eine lange Tradition – und sie hat Zukunft!