Vorstellung des Forschungsprojekts "Das Bundespräsidialamt und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus 1949–1994"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 13. September 2021

Der Bundespräsident hat die Vorstellung des Forschungsprojekts "Das Bundespräsidialamt und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus 1949–1994" am 13. September in Schloss Bellevue mit einer Ansprache eröffnet: "Sie wird viele Fragen beantworten, aber vermutlich mindestens ebenso viele aufwerfen, auf die wir dann Antworten finden müssen. Aber auch dies ist eine Folge dieser deutschen Vergangenheit: Es gibt kein Ende des Erinnerns, es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede zur Vorstellung des Forschungsprojekts "Das Bundespräsidialamt und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus 1949–1994" in Schloss Bellevue

Als ich im März 2017 mein Amt als Bundespräsident antrat, war mir Hugo Heymann völlig unbekannt; inzwischen fühle ich mich diesem Mann auf eine ganz besondere Art und Weise verbunden, und das hat einen guten Grund: Meine Frau und ich wohnen für die Dauer meiner Amtszeit in dem Haus, in dem einst Hugo Heymann und seine Frau Maria lebten.

Im Jahr 1926 hatte der Unternehmer die Villa im Berliner Ortsteil Dahlem gekauft. Dort wollte er gemeinsam mit seiner Frau alt werden. Aber Hugo Heymann wurde nicht alt, denn Hugo Heymann war Jude. 1938, im Alter von nur 56 Jahren starb er, seines Vermögens beraubt, nach Haft und Misshandlung durch die Gestapo. Die Villa in der Pücklerstraße hatte er, nur wenige Tage nach der Machtergreifung schon, unter dem Eindruck zunehmender Repression in Deutschland verkauft – verkaufen müssen; zuletzt hatte er in einem Hotel gelebt.

Seit 1962 gehört das Haus in der Pücklerstraße der Bundesrepublik Deutschland, seit 2004 ist es dienstlicher Wohnsitz der amtierenden Bundespräsidenten, davor über Jahrzehnte Gästehaus der deutschen Bundesregierung. Trotzdem war die Geschichte des Hauses, das Schicksal von Hugo Heymann zu lange Zeit kein Thema für den deutschen Staat. Erst kritische Historiker haben uns in den letzten Jahren darauf aufmerksam gemacht, und das mit Nachdruck. Und vollkommen zu Recht, wie ich finde.

Meine Frau und ich haben deshalb das Haus erst bezogen, nachdem die Geschichte des Hauses und seiner Eigentümer aufgeklärt war und wir uns über ein angemessenes Gedenken an Hugo Heymann, sein Leben und Sterben verständigt hatten. Die Forschungen über Hugo Heymann und die Dienstvilla, die das Bundespräsidialamt in Auftrag gegeben hat, sind mittlerweile als Broschüre veröffentlicht. Und vor dem Haus erinnert inzwischen auch eine Gedenkstele an Hugo Heymann und sein Schicksal. Jede und jeder, der uns besucht oder aber auch nur vorbeigeht, liest, hält vielleicht inne.

Warum erzähle ich Ihnen dies? Weil am Beispiel der Dienstvilla des Bundespräsidenten und von Hugo Heymann dreierlei deutlich wird: Die Geschichten der Opfer der NS-Verbrechen, Geschichten von zerstörten Leben, können wir buchstäblich fast hinter jeder Fassade entdecken; und doch, trotz Jahrzehnten wissenschaftlicher Forschung und historischer Aufarbeitung, sind längst nicht alle diese Geschichten erzählt, alle Verbrechen bekannt, wird längst nicht aller Opfer angemessen gedacht; als Bundespräsident empfinde ich eine besondere Verantwortung, der Geschichte meines eigenen Amtes nicht auszuweichen, sondern sich ihr offen und selbstkritisch zu stellen.

Viele Ministerien und Institutionen haben in den vergangenen Jahren ihre Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten lassen, haben ihre Rolle im Nationalsozialismus und vor allem den Umgang in der jungen Bundesrepublik historisch untersuchen lassen. Denn auch hinter den Fassaden des Staates liegt vieles noch im Dunkeln. Vieles ist noch nicht ausreichend ausgeleuchtet und nicht erzählt. Zu den obersten Verfassungsorganen des Bundes liegen noch keine Studien vor, aber auch das Bundeskanzleramt und das Bundesverfassungsgericht wollen sich der Aufarbeitung der Geschichte ihrer Institutionen widmen. Ganz unabhängig davon meine ich: Gerade das Amt des Staatsoberhaupts darf hier nicht fehlen.

Mein Amtsvorgänger Richard von Weizsäcker hat in seiner berühmten Rede den 8. Mai 1945 einen Tag der Befreiung genannt. 1945 war diese Befreiung von außen gekommen. Sie musste von außen kommen – weil dieses Land so tief in sein eigenes Unheil, in seine Schuld verstrickt war. Mir ist aber auch ein anderer Aspekt wichtig: Wenn wir auf die deutsche Geschichte seit dem 8. Mai 1945 schauen, auf das Dreivierteljahrhundert seit dem Ende des Krieges, dann haben auch wir Deutschen selbst Anteil an der Befreiung. Und das ist die innere Befreiung. Sie geschah nicht am 8. Mai 1945 und nicht an einem einzigen Tag. Sondern sie war ein langer, oft genug schmerzhafter Weg: Aufarbeitung und Aufklärung über Mitwisserschaft und Mittäterschaft, quälende Fragen in den Familien und zwischen den Generationen, der Kampf gegen das Verschweigen und Verdrängen. Viele Deutsche meiner Generation haben nur dank dieser Aufarbeitung ihren Frieden mit dem eigenen Land machen können.

Durch ihre Amtsführung haben alle meine Vorgänger auch den gesellschaftlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit geprägt; alle haben sie an diesem Prozess der inneren Befreiung – in der einen oder anderen Form – teilgehabt.

Ein Forschungsprojekt zum Bundespräsidialamt und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wird sich vorrangig den personellen Kontinuitäten, um Karriere vor und nach 1945 widmen müssen, daneben aber auch anderen Fragen öffnen: Wie sind die Bundespräsidenten in ihrem öffentlichen und internen Handeln – vorbereitet und unterstützt durch das Bundespräsidialamt und dessen Mitarbeiter – mit dem Thema Nationalsozialismus umgegangen? Mit Tätern, Opfern, Mitläufern? In Reden, bei Staatsbesuchen, in Briefen und Gesprächen, bei Ordensverleihungen und Begnadigungen?

Über all das erhoffen wir uns Aufschluss. Deshalb ist mir dieses Forschungsprojekt so wichtig, und deshalb haben wir uns von Beginn an um höchste Qualität, größtmögliche Transparenz und völlige wissenschaftliche Unabhängigkeit bemüht.

Wir haben dieses Projekt öffentlich ausgeschrieben, wir haben ein zweistufiges Auswahlverfahren durchgeführt, und wir haben uns von exzellenten Sachkennerinnen und -kennern fachkundig beraten lassen; einige davon sind heute unter uns. Ich freue mich sehr, dass wir schließlich mit Herrn Professor Norbert Frei von der Friedrich-Schiller-Universität Jena einen herausragenden Experten der deutschen Nachkriegsgeschichte für dieses Vorhaben gewinnen konnten.

Mit seinem Buch zur Vergangenheitspolitik hat Norbert Frei nicht nur einen Begriff geprägt, sondern den Umgang der jungen Bundesrepublik mit der NS-Vergangenheit eindrucksvoll vermessen. Herr Professor Frei hat bedeutende Forschungsprojekte zur NS-Vergangenheit von Ministerien und Wirtschaftsunternehmen geleitet und ist ein Kenner der Werdegänge von einstigen NS-Eliten in der Bundesrepublik.

Im letzten Jahr schon hat Professor Frei mit seinem Team die Arbeit aufgenommen. Ich weiß, dass die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen auch dieses Projekt behindert haben. Trotzdem geben Sie, lieber Herr Professor Frei, uns heute einen Einblick in Ihre Forschungsarbeit, die Sie – so ist es geplant – im kommenden Jahr abschließen wollen.

Auf diesen Einblick bin ich wirklich gespannt, und ich bin sehr dankbar dafür, dass Sie bereit sind, uns diesen heute zu gewähren. Ich freue mich aber auch darüber, dass wir nach Ihrem Vortrag auch noch Gelegenheit zu einem vertiefenden Gespräch haben werden mit Frau Professorin Sybille Steinbacher, der Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts, sowie mit dem Publizisten Robert Leicht: Wir haben zwei Gesprächspartner bei uns, die von ganz unterschiedlicher Warte aus – wissenschaftlich analysierend, journalistisch beobachtend – auf die Bundespräsidenten und ihr Amt blicken. Auch Ihnen beiden meinen herzlichen Dank für Ihr Kommen.

Mit der Aufarbeitung der Geschichte der Dienstvilla des Bundespräsidenten und des Schicksals von Hugo Heymann haben wir den Anfang gemacht. Sie steht exemplarisch für den Anspruch, unserer Geschichte und dem Umgang damit selbstkritisch ins Auge zu blicken und dabei auch das höchste Staatsamt und dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht auszulassen. Das neue Forschungsprojekt ist ein weiterer Schritt, mit dem wir diesem Anspruch versuchen gerecht zu werden. Ihre Forschung, Herr Professor Frei, wird hoffentlich Licht in manches Dunkel werfen. Sie wird viele Fragen beantworten, aber vermutlich mindestens ebenso viele aufwerfen, auf die wir dann Antworten finden müssen. Auch dies ist eine Folge deutscher Vergangenheit: Es gibt kein Ende des Erinnerns, es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte.

Vielen Dank Ihnen allen, dass Sie heute hier sind; ich bin gespannt zunächst auf Ihren Vortrag und dann auf unser gemeinsames Gespräch. Herzlich Willkommen Ihnen allen.