Mittagessen mit den Staatsoberhäuptern der Republik Estland, der Republik Lettland und der Republik Litauen

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 16. September 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei einem Mittagessen mit der Präsidentin der Republik Estland, Kersti Kaljulaid, und den Präsidenten der Republiken Lettland, Egils Levits, und Litauen, Gitanas Nausėda, am 16. September in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Wenn wir über die Zukunft Europas sprechen, dann wollen wir auch die Stimmen der baltischen Staaten und ihrer Bürgerinnen und Bürger hören. Ihre Länder gehören zum Herz Europas. Ihr Beitrag zur Zukunft Europas ist wertvoll und unverzichtbar."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Mittagessen mit der Präsidentin der Republik Estland, Kersti Kaljulaid, und den Präsidenten der Republik Lettland, Egils Levits und der Republik Litauen, Gitanas Nausėda, in Schloss Bellevue

Epistula non erubescit. Ein Brief errötet nicht, so heißt es bei Cicero. Auf Deutsch sagen wir heute dazu: Papier ist geduldig. Auf Cellulose lässt sich bisweilen viel niederschreiben, ohne dass es notwendigerweise direkte Konsequenzen haben müsste.

Bei Ihrer Ankunft wurde uns in den Vitrinen das Gegenteil vor Augen geführt. Papier kann ungeduldig sein, bedeutungsschwer, weltverändernd. Dafür stehen die Exponate aus dem politischen Archiv des Auswärtigen Amts, die die wechselvolle Geschichte der Beziehungen unserer Länder nachzeichnen. Es sind Dokumente, die Weltgeschichte schrieben, wie das Vorläufige Abkommen über die Wiederaufnahme normaler Beziehungen zwischen Deutschland und Lettland vom 15. Juli 1920, die Antwortschreiben Ihrer damaligen Außenminister zum Notenwechsel über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Deutschland vom 28. August 1991 und, last but certainly not least, die Anfrage des Freundeskreises der Norderstedter Puppenbühne zu Veranstaltungsmöglichkeiten in Estland. Ja, auch die Kultur gehört untrennbar zu unseren bilateralen Beziehungen dazu.

Für mich schließt sich heute ein Kreis: Früh in meiner Amtszeit, im Sommer 2017, habe ich eine längere Reise durch Ihre Staaten unternommen. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag im August, diesen schicksalhaften 23. August. In Tallinn, liebe Kersti Kaljulaid, habe ich in der Akademie der Wissenschaften versucht nachzuzeichnen, wie sich in diesem 23. August die wechselvolle Geschichte unserer Länder kristallisiert, von den dunkelsten Stunden, von der Unterschrift 1939 unter dem Hitler-Stalin-Pakt, bis zu den freudigsten Momenten, dem Baltischen Weg 1989, dieser Menschenkette der Freiheit, die auch die Mutigen im Osten meines eigenen Landes inspiriert hat. Ich habe darüber gesprochen, wie unsere gemeinsame Geschichte bis heute nachwirkt und unsere Verantwortung heute prägt. Und auch darüber, dass Geschichte niemals als Waffe missbraucht werden darf, sondern uns als Lehre und Verpflichtung dienen sollte für eine bessere Zukunft.

Ich durfte in Riga, lieber Egils Levits, mit Ihrem Amtsvorgänger das Okkupationsmuseum besuchen und mit jungen Menschen über die digitale Zukunft diskutieren. Und in Litauen, lieber Gitanas Nausėda, besuchte ich mit Ihrer Amtsvorgängerin das Bundeswehrkontingent in Rukla, das dort als ganz konkreter Ausdruck unserer Bündnissolidarität stationiert ist, und gedachte in Paneriai der Opfer des Holocaust.

Das Gestern wie das Heute, beides gehört zu den Beziehungen unserer Länder. Und gerade weil wir der Vergangenheit ins Auge sehen, können wir in der Gegenwart an einem besseren Morgen arbeiten.

Bei Ihren früheren Besuchen sind wir gemeinsam durch den Schlosspark spaziert. Oder wie es bei Schiller heißt, endlich entflohn des Zimmers Gefängnis / Und dem engen Gespräch freudig sich rettet zu dir. Nach Monaten des Lockdowns, der abgesagten Auslandsreisen, des fehlenden persönlichen Austauschs: Was für eine Rettung, der Enge des Arbeitszimmers zu entkommen. Was für eine Freude, Sie wieder zu sehen, vertieft in ein persönliches Gespräch.

Und auch heute freue ich mich sehr über Ihren Besuch, weil ich weiß, wie stark Sie meinem Land verbunden sind, auch über Ihre persönlichen Biographien.

Sie, liebe Kersti, haben Ihr Amt immer wieder genutzt, um auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen, und waren dafür sogar auf Expedition in der Antarktis. Vergangenen Sommer waren Sie mein erster offizieller Gast nach Ausbruch der Pandemie. Ich denke gerne an die Feierstunde anlässlich des 100. Geburtstags der estnischen Botschaft zurück und an unser gemeinsames Abendessen. Und Ihr Gastgeschenk, ein flottes E-Bike, war ein voller Erfolg. Ich versichere, bis heute wird das Fahrrad jeden Tag hier im Schlosspark gefahren, und zwar von mir und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Falls Sie es bei diesem Besuch einmal ausleihen möchten: jederzeit gern – Berlin ist eine super Fahrradstadt!

Uns beide, lieber Egils Levits, verbindet der akademische Werdegang, das Jurastudium. Es gibt meines Wissens kein anderes ausländisches Staatsoberhaupt, das zwei deutsche Staatsexamen in der Tasche hat und an einem Oberlandesgericht tätig war. Meine Büroleiterin stöhnte jedenfalls nach unserem letzten Gespräch: Da haben sich ja zwei gefunden! Ich finde, es gibt kein schöneres Kompliment für eine inhaltsreiche Diskussion. Herzlich willkommen, lieber Egils.

Lieber Gitanas Nausėda, auch Sie haben in Deutschland studiert, kennen Land und Leute, haben gar als junger Mann ein Praktikum im Deutschen Bundestag absolviert. Im Europäischen Rat haben Sie mitgeholfen, den EU-Wiederaufbaufonds aus der Taufe zu heben, und Sie treten für ein starkes Europa ein, das auch in der Außenpolitik eine Stimme hat. Ich freue mich, dass wir uns nach Ihrem Antrittsbesuch hier in Berlin und der kurzen Begegnung in Sofia heute erneut austauschen können. Herzlich willkommen, lieber Gitanas.

Der heutige Anlass ist ein doppelter und ein besonders freudiger dazu: Wir feiern den hundertsten Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen unseren Ländern und damit die Erringung ihrer Staatlichkeit, und wir feiern die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, Ihre wiedergewonnene Unabhängigkeit vor dreißig Jahren.

Heute sind wir als Partner in der Europäischen Union so eng verflochten – wirtschaftlich und politisch – wie noch nie zuvor. Der Austausch unserer Unternehmen und Universitäten, unserer Kulturstätten und Forschungseinrichtungen hat sich so dynamisch entwickelt, wie wir es kaum hoffen konnten. Unsere politischen Kontakte sind eng und vertrauensvoll.

Ja, es stimmt: In Deutschland schauen wir instinktiv oft nach Westen. Jahrzehnte des Eisernen Vorhangs wirken auch nach Jahrzehnten noch nach. Und es bleibt richtig, dass die deutsch-französische Freundschaft für ein geeintes Europa konstitutiv ist. Aber: Gute Europapolitik kann nur gelingen, wenn mein Land eng mit allen Mitgliedstaaten zusammenarbeitet, im Süden und Norden, in der Mitte Europas und im Nordosten.

Wenn wir über die Zukunft Europas sprechen – gerade läuft die große Konferenz, in der alle Bürger dieser Union eine Stimme haben –, dann wollen wir auch die Stimmen der baltischen Staaten und ihrer Bürgerinnen und Bürger hören. Ihre Länder gehören zum Herz Europas. Ihr Beitrag zur Zukunft Europas ist wertvoll und unverzichtbar. Das sehen wir doch gerade in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik.

Gerade weil Ihre Länder an der EU-Außengrenze liegen, haben Sie unsere vollste Solidarität, wenn es darum geht, diese Grenze zu schützen, auch gegen die zynischen Attacken des Regimes in Belarus.

Wenn wir über die EU-Außengrenzen hinausschauen, dann denken wir in diesen Tagen natürlich an die Lage in Afghanistan. Auch estnische, lettische und litauische Soldaten haben in den vergangenen zwanzig Jahren große Opfer gebracht. Das Scheitern des transatlantischen Bündnisses in Afghanistan bedarf gemeinsamer Aufarbeitung. Zwei nur scheinbar widersprüchliche Lehren zeichnen sich für mich schon jetzt ab: Es kann keine europäische Sicherheit ohne die USA geben; und wir müssen für europäische Sicherheit auch mehr europäische Verantwortung übernehmen! Nicht außerhalb der NATO, nicht indem wir Strukturen in der EU verdoppeln, sondern als starke, selbstbewusste Europäer in der NATO.

Wie sehr wir die NATO als starkes Bündnis brauchen, das sehen wir täglich im Ostseeraum. Mich beunruhigt, dass die militärischen Spannungen an Ihren Grenzen, an den Grenzen der EU, wieder zunehmen. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass russische Militärflugzeuge über der Ostsee aufsteigen; immer öfter verletzten Kampfjets dabei auch den Luftraum Ihrer Länder. Die Bedrohungslage und das Risiko von Zwischenfällen ist seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und des Donbass, seit dem Truppenaufmarsch an der Grenze der Ukraine so ernst wie seit Langem nicht.

Meine Botschaft heute ist: Sie sind in dieser Lage nicht allein. Wer die baltischen Staaten bedroht, der bedroht das gesamte NATO-Bündnis, der bedroht Deutschland. Deswegen führt die Bundeswehr einen NATO-Verband in Litauen, deswegen schützt die deutsche Luftwaffe, im Wechsel mit anderen NATO-Partnern, den Luftraum über der Ostsee. So zeigen wir klar und deutlich: Die territoriale Integrität und Unabhängigkeit der NATO-Staaten sind nicht verhandelbar!

Wenn überhaupt, dann gibt es nur wenige Länder, die ich während meiner Amtszeiten als Bundesaußenminister und in den vergangenen fast fünf Jahren als Bundespräsident öfter besucht habe als die Ihren.

Abseits des diplomatischen Protokolls und der politischen Termine war es für mich persönlich übrigens immer eine immense Bereicherung, mit Künstlerinnen und Intellektuellen Ihrer Länder ins Gespräch zu kommen. Ich denke etwa an eine bewegende Begegnung mit Tomas Venclova, dem großen litauischen Lyriker, oder an ein berauschendes Konzert der lettischen Organistin Iveta Apkalna in der Hamburger Elbphilharmonie, an die Begegnung mit Arvo Pärt in Tallinn. Der kulturelle Reichtum Ihrer Heimat, dieser drei nur vermeintlich kleinen Staaten, und ihre vielfache, vielschichtige Verbundenheit mit Deutschland ist und bleibt für mich – auch nach dutzenden Besuchen – faszinierend.

Uns verbindet viel. Erheben wir also unser Glas auf die Freundschaft unserer Länder und Völker! Auf unsere gemeinsame Zukunft, geeint in Freiheit und in Frieden!