Verleihung des Verdienstkreuzes 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Brigadegeneral Jens Arlt

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 17. September 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 17. September bei der Verleihung des Verdienstkreuzes 1. Klasse an Brigadegeneral Jens Arlt eine Rede in Schloss Bellevue gehalten: "Deutschland verdient eine Sicherheitspolitik, die Lehren aus zwanzig Jahren Afghanistan zieht. Das ist eine Aufgabe, die über den heutigen Tag hinausreicht – auch für eine neue Bundesregierung und für einen neuen Bundestag, der sich der Aufarbeitung dieses fast 20-jährigen Engagements in Afghanistan annehmen wird."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache vor der Verleihung des Verdienstkreuzes 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Brigadegeneral Jens Arlt im Großen Saal

Herzlich willkommen im Schloss Bellevue. Heute ist ein besonderer Tag, weil wir heute einen besonderen Einsatz würdigen. Einen Evakuierungseinsatz, wie es ihn in der Geschichte der Bundeswehr, in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben hat. Einen Einsatz, dessen Beginn, Intensität und Dauer jenseits unserer Erwartungen lagen. Wir würdigen einen Einsatz, der den Beteiligten viel abverlangt hat, mehr als sich die meisten Menschen vorstellen können. Es war ein Einsatz, dessen Wohl und Wehe unser ganzes Land für zwei Wochen in Atem hielt.

Dieser Einsatz war notwendig. Er hat Menschenleben gerettet. Gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern, zuvorderst den USA, konnten mehr als 120.000 schutzbedürftige Menschen ausgeflogen werden. Die deutsche Evakuierungsoperation in Kabul und Taschkent hat unter schwierigsten Bedingungen mehr als 5.300 Menschen aus 45 Ländern in Sicherheit gebracht. Kinder, Frauen, Männer; Afghanen, Deutsche und Verbündete. Menschen, deren Leben unter der Herrschaft der Taliban akut bedroht war, weil sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten für deutsche Stellen gearbeitet haben – oder weil sie die demokratischen Freiheitsrechte der afghanischen Verfassung für sich in Anspruch genommen haben und deshalb auf Todeslisten standen.

Mehr als 5.300 Menschen sind jetzt in Sicherheit – das ist das große Verdienst dieses besonderen Einsatzes und aller Menschen, die an ihm mitgewirkt haben!

Einen dieser Menschen wollen wir heute herausragend ehren, weil er sich auf herausragende Weise verdient gemacht hat. Er steht stellvertretend und zugleich wie kein anderer für diesen gelungenen Einsatz und für die fast 500 Soldatinnen und Soldaten des Evakuierungsverbandes.

Wir wären mit ihm in die Hölle gegangen und hätten den Teufel herausgeholt – und wir hätten das auch geschafft! – das sagt einer der Menschen, die mit Brigadegeneral Jens Arlt in Kabul waren. Mit einigen anderen habe ich heute Morgen gesprochen. Ich bin dankbar, dass sie heute hier bei uns sind, aus den unterschiedlichsten Truppenteilen und allen Dienstgradgruppen der Bundeswehr: vom Oberstabsgefreiten bis zum Brigadegeneral. Ich grüße alle Kameradinnen und Kameraden des Evakuierungsverbandes, die uns im Livestream zusehen.

Wir wären mit ihm in die Hölle gegangen, Herr General: Mehr Lob und Anerkennung kann sich kein militärischer Führer von seiner Truppe wünschen – und mehr Verantwortung auch nicht! Ihre klare und verbindliche Art, durch Auftrag und Vertrauen zu führen, als Vorbild und Beispiel selbst an vorderster Front zu stehen, sich selbst am wenigsten zu schonen – diese Art hat Ihnen bei den Ihnen Anvertrauten und bei Ihren Vorgesetzten allerhöchsten Respekt eingetragen. Sie kennen Ihre Frauen und Männer, Sie wissen, wann jemand eine klare Ansage braucht, wann ein tröstendes Wort. Sie haben hunderte Soldatinnen und Soldaten durch zwei extrem harte Wochen geführt – und Sie haben alle unversehrt wieder nach Hause gebracht, trotz aller Gefahren. Sie können mir glauben: Uns allen ist ein großer Stein vom Herzen gefallen, als die letzten Flugzeuge wieder sicher in Wunstorf gelandet waren.

Diejenigen, die mit Ihnen, Herr General, in Kabul am Flughafen waren – in welcher Funktion auch immer –, haben nicht nur Großes geleistet, sie haben auch Schreckliches erlebt. Die Bilder von jungen Männern, die in ihrer Verzweiflung auf startende Flugzeuge springen und dann in den Tod stürzen; die Berichte von Leichenteilen in den Fahrwerken; das Schreien der Mütter, die ihre Kinder auf der anderen Seite des Tores verloren hatten; das Weinen der Jungen und Mädchen, die ohne Eltern auf das Flughafengelände kamen; die Familiengruppen, die es auf das Gelände schafften, dann aber getrennt werden mussten, weil nicht alle auf den Ausreiselisten standen; die Feuergefechte mit Angreifern, in all dem Chaos – und am Schluss ein verheerender Terroranschlag, der hunderte Menschen getötet und verstümmelt hat, dem dreizehn tapfere Soldatinnen und Soldaten der USA, Ihre Kameradinnen und Kameraden, zum Opfer fielen.

Wer am Flughafen von Kabul war, der wird noch lange damit kämpfen – ganz egal, wie einsatzerfahren, ganz egal, wie leidgeprüft durch vorherige Verwendungen. Und Sie wissen, liebe Soldatinnen und Soldaten, wir alle wissen, dass bei weitem nicht alle Menschen, die auf den Listen standen, die rettenden Flüge erreicht haben. Viele Deutsche sorgen sich um diese Menschen – und sie erwarten zu Recht, dass unser Land weiter nach Wegen und Möglichkeiten sucht, um seiner Schutzverpflichtung auch diesen Menschen gegenüber gerecht zu werden.

Wenn wir Sie heute auszeichnen, lieber Jens Arlt, wenn wir heute allen Angehörigen Ihres Evakuierungsverbandes danken, dann schließe ich in diesen Dank auch ausdrücklich die mutigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, der Krisenunterstützungsteams, der Bundespolizei, der Kräfte des Bundesnachrichtendienstes, unserer Partner und Verbündeten und aller anderen beteiligten Stellen mit ein. Sie alle haben diese Evakuierungsoperation gemeinsam zum Erfolg getragen – und Ihnen allen gebührt unser Dank und unsere Anerkennung.

Deutschland betreibt Krisenvorsorge, unterhält spezialisierte und Spezialkräfte, um Geiselbefreiungen und Evakuierungen durchführen zu können, und diese Einsätze sind immer kurzfristig und immer gefährlich. Sie fliegen immer ins Ungewisse, oft an weit entfernte Orte, die wir kaum kennen. Sie alle wissen, dass der entscheidende Anruf mitten in der Nacht, mitten im Familienurlaub kommen kann. Ihr Beruf, liebe Soldatinnen und Soldaten, ist ein besonderer Beruf, denn am Ende steht immer auch das eigene Leben auf dem Spiel. Ihr Beruf erfordert auch die Bereitschaft, im Ernstfall tödliche Gewalt anzuwenden.

Gefecht und Tapferkeit, Verwundung und Trauma, Tod und Krieg, deutsche Soldaten mit Waffen, im Kampf, in anderen Ländern – das verdrängen wir gern. Wir sprechen nur selten darüber, und wenn, dann meistens kritisch. Das macht es Ihnen, den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, nicht leicht. In dieser Sprachlosigkeit liegt die Gefahr einer gegenseitigen Verständnislosigkeit zwischen Soldat und Gesellschaft, die in den vergangenen Jahren eher größer als kleiner geworden ist.

Vielleicht aber blickt die deutsche Gesellschaft, die in den vergangenen Monaten die Ereignisse in Afghanistan so aufmerksam mitverfolgt hat wie selten zuvor, vielleicht blickt sie seit dieser Evakuierungsoperation mit wacheren Augen auf die Bundeswehr – auf eine Armee, die einmal mehr in kürzester Zeit gezeigt hat, dass sie kann, was von ihr verlangt wird.

Wir – liebe Frau Ministerin, Sie und ich – sind froh und stolz, heute sagen zu können, dass allen Soldatinnen und Soldaten des Evakuierungseinsatzes die Einsatzmedaille der Bundeswehr verliehen wird. Dieser Anregung aus Ihrem Hause sind wir gern gefolgt. Denn die Anerkennung der Gesellschaft für die große Leistung des Evakuierungsverbandes gebührt nicht einem allein, sondern sie gebührt Ihnen allen, liebe Soldatinnen und Soldaten!

Herr General Arlt, wenn ich Sie heute mit dem Verdienstorden auszeichne, dann geht es um Ihre besonderen Verdienste, die über das Erwartete und das Erwartbare hinausgehen.

Sie haben die militärische Evakuierung unter außergewöhnlicher Gefahr auf vorbildliche Weise geführt. Sie haben diese Leistung unter ständiger Bedrohung, in einem unübersichtlichen Umfeld, physischen wie psychischen Extrembedingungen und nicht zuletzt unter intensiver Beobachtung durch Medien, Politik und Bevölkerung erbracht.

Herr General, Sie stehen für das Beste der Bundeswehr – und unser Land ist Ihnen zu Dank verpflichtet. Ich freue mich darauf, Ihnen in wenigen Minuten den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verleihen zu dürfen.

Mehr als 150.000 Angehörige der Bundeswehr haben über die vergangenen zwanzig Jahre in Afghanistan gedient. Viele Mitglieder des Evakuierungsverbandes waren bereits vorher am Hindukusch im Einsatz. Mit einigen von ihnen haben meine Frau und ich heute Morgen gesprochen.

Oberstabsfeldwebel Holger Janßen ist heute bei uns. Er war vor elf Jahren zum ersten Mal in Afghanistan. Damals, im Sommer 2010, waren gerade drei seiner Fallschirmjägerkameraden beim Karfreitagsgefecht gefallen. Er musste erleben, wie ein weiterer Kamerad bei einem Selbstmordattentat ums Leben kam und zahleiche Angehörige seines Bataillons in Kunduz verwundet wurden, die er bis heute zu Hause in Seedorf trifft. Und im August 2021, mehr als ein Jahrzehnt später, war Holger Janßen als erfahrener Kompaniefeldwebel wieder in Afghanistan, in der Truppe von Brigadegeneral Arlt, und hat dabei mitgeholfen, tausende Menschen in Sicherheit zu bringen.

Jeder und jede von Ihnen hat seine eigene Geschichte dieses Evakuierungseinsatzes – und viele Tausend andere Bundeswehrangehörige, Entwicklungshelfer, Polizistinnen, Diplomaten und andere zivile Kräfte haben ihre eigene Geschichte aus zwanzig Jahren Einsatz und Kampf, Mühe und Entbehrung, Erfolgen und Misserfolgen, Glücksmomenten und Enttäuschungen. Aber Sie alle haben nicht nur ihre Geschichten aus dem Afghanistan-Einsatz. Sie haben auch Fragen über den Afghanistan-Einsatz.

Und diese Fragen richten sich an die politische Führung, an das Parlament und die Regierungen, die diesen Einsatz beschlossen haben:

Warum ist es uns bei all den persönlichen Anstrengungen und all den eingesetzten Ressourcen nicht gelungen, in Afghanistan eine stabile, selbsttragende politische und gesellschaftliche Ordnung aufzubauen? Eine neue Ordnung, die die ganz unterschiedlichen Gruppen aus Afghanistan auf dem Bonner Petersberg vor zwanzig Jahren so dringend eingefordert hatten?

Warum zerfielen die afghanische Staatsführung und die Streitkräfte, in die wir über so viele Jahre so viel investiert haben, in so kurzer Zeit?

War der Abzug der internationalen Truppen, so wie er stattfand, die richtige Entscheidung? Hat es Alternativen gegeben, die den militärischen Evakuierungseinsatz, den wir heute würdigen, vermeiden geholfen hätten?

Sind nun das Leid, unsere Mühen, alle Verwundungen an Körper und Seele, alle verlorenen Menschenleben der vergangenen zwanzig Jahre umsonst gewesen?

Und vor allen Dingen: Was lernen wir aus dieser bitteren Erfahrung für unser Handeln an anderen Einsatzorten, in anderen Ländern dieser Welt, von denen Risiken für unsere eigene Sicherheit ausgehen?

Es sind schwierige und es sind bittere Fragen. Es fällt mir nicht leicht, sie auszusprechen, und ich habe keine einfachen, schnellen Antworten. Eines ist klar: Wir haben mit dem Fall von Kabul eine menschliche Tragödie erlebt, für die wir Mitverantwortung tragen. Diese Wochen markieren eine politische Zäsur, die uns dazu zwingt, über unsere eigene Rolle, unsere Möglichkeiten, ihre Grenzen, aber auch unsere Verantwortung in der Welt neu und auch selbstkritisch nachzudenken.

Heute sind wir hier, um die herausragenden Leistungen während des Evakuierungseinsatzes zu würdigen und anzuerkennen. Ich danke Ihnen – Ihr Land verneigt sich vor Ihnen.

Aber damit ist unsere Schuldigkeit nicht getan. So sehr Sie den Dank und Respekt Ihres Landes verdienen, so sehr verdienen gerade Sie – verdienen alle Menschen, die in Afghanistan gedient haben – Antworten auf die schwierigen Fragen.

Viele glauben heute schon genau zu wissen, dass es immer so kommen musste. Zu denen gehöre ich ausdrücklich nicht! Fest steht für mich: Die Erfahrung aus Afghanistan wird dem Westen, wird uns Deutschen, wird der deutschen Politik und der Bundeswehr noch lange Jahre in den Kleidern hängen.

Wir sollten all die schmerzhaften Fragen nicht in erster Linie schnell, sondern ehrlich und gründlich beantworten. Nur verdrängen dürfen wir sie nicht. Denn die Bürgerinnen und Bürger in dieser Demokratie stellen diese Fragen, und sie erwarten darauf Antworten.

Und Deutschland verdient eine Sicherheitspolitik, die Lehren aus zwanzig Jahren Afghanistan zieht. Das ist eine Aufgabe, die über den heutigen Tag hinausreicht – auch für eine neue Bundesregierung und für einen neuen Bundestag, der sich der Aufarbeitung dieses fast 20-jährigen Engagements in Afghanistan annehmen wird.