Festakt zur Eröffnung der Ausstellungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt-Forum

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 22. September 2021

Der Bundespräsident hat am 22. September die Ausstellungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst mit einer Rede eröffnet: "Die Verbrechen der Kolonialzeit, Eroberung, Unterdrückung, Ausbeutung, Raub, Mord an Zehntausenden von Menschen, brauchen einen angemessenen Ort in unserer Erinnerung. Wir müssen uns der Verantwortung vor diesem Teil der deutschen Geschichte stellen. Denn dabei geht es um unsere Zukunft, um unser Zusammenleben in einem Land, in dem die Weltkulturen zu Hause sind und sein wollen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim Festakt zur Ausstellungseröffnung im Humboldt Forum

So, jetzt steht es hier! Und nun?

Das wiederaufgebaute Berliner Stadtschloss, das Humboldt-Forum, es ist ganz ohne Zweifel das Zentrum der neuen Mitte unserer Hauptstadt – und das baulich wie symbolisch. Im großen Projekt der Neuerfindung dieser Mitte Berlins ist es der architektonische Schlussstein und zugleich inhaltlich doch eher ein Anfang.

Dieses Schloss und dieses Forum sind – allein schon durch Lage, Geschichte und selbst gesetzte Mission – ein Ort von nationaler Bedeutung. Aber dieser Ort wirft im Augenblick noch mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Die offenen Fragen, die dieser Ort uns stellt, sind offene Fragen unserer Nation, auch Fragen an unsere Nation. Halten wir das aus?

Manche finden dieses Schloss, schon weil es so viele Fragen aufwirft, unbefriedigend, kritikwürdig. Manche wünschen sich, es wäre nie gebaut worden. Aber es steht jetzt hier. Nach all den vielen Jahren der erbitterten Debatten, nach verworfenen, neuen, schließlich beschlossenen Planungen ist es fertig gebaut. Die Berlinerinnen und Berliner, Gäste aus aller Welt, sie nehmen es bereits in Besitz. Sie flanieren durch die Höfe, sie sitzen draußen in der Sonne, besuchen die Ausstellungen, die bereits zu sehen sind. Wir haben es gerade gehört: Hunderttausend waren schon hier. Und doch ist es provozierend unfertig. Deshalb die Frage: Halten wir das aus?

Ich war immer dankbar, das Wachsen und Werden des Humboldt-Forums zu begleiten: baulich aus nächster Nähe im Außenministerium und auch inhaltlich. Ich erinnere mich gut an einen lauen Sommerabend 1999 vor dem Kanzlerbungalow in Bonn, als Klaus-Dieter Lehmann dem damaligen Bundeskanzler die Idee vortrug, die gesamte Berliner Museumsinsel neu zu gestalten. Eine große Vision! Ich war fasziniert und begeistert. Und ebenso fasziniert war ich von dem Vorschlag, die Ethnologischen Sammlungen aus Dahlem in die Neugestaltung der Berliner Mitte miteinzubeziehen. Die Weltkulturen gehören in die Mitte Berlins, davon waren Sie, lieber Klaus-Dieter Lehmann, überzeugt. Statt deutsch-deutscher Nabelschau die Öffnung hin zur Welt – das hat auch mich damals überzeugt.

Jetzt sind sie angekommen, die Weltkulturen. Ich freue mich sehr, heute hier zu sein, und danke Ihnen, lieber Herr Dorgerloh, lieber Herr Parzinger, lieber Herr Koch, ganz herzlich für die Einladung. Die Ethnologischen Sammlungen und das Museum für Asiatische Kunst sind nun hier zu sehen, hier in diesem Forum. Dazu möchte ich Sie ganz herzlich beglückwünschen – und bin mir doch zugleich bewusst, wie umstritten manches ist und bleibt.

Dieses Forum ist noch nicht fertig, aber es ist von heute an ein Herzstück in der Museumslandschaft Berlins. Ein großer Schritt, für den ich dankbar bin. Aber es ist eben erst ein Anfang. Es ist nicht der Abschluss, es ist der Beginn eines Projekts. So wie unsere Gegenwart ganz erkennbar eine Zeit des Umbruchs und der Anfänge ist. Hier, in diesem Forum, sollen sich nicht nur Wissenschaft, Kunst und Kultur begegnen. Es soll ein Ort des internationalen Dialogs werden, des kritischen und selbstkritischen Denkens und der Auseinandersetzung in der Welt und mit der Welt.

Um fehlende Kritik muss man sich wohl nicht sorgen. Was wurde gerungen und gestritten um diesen Ort. Dieses Gebäude beansprucht – allein schon durch seine schiere Größe – höchst selbstbewusst für sich, eine Leerstelle zu füllen, die die deutsche Geschichte hinterlassen hat. Dieses neue alte Berliner Stadtschloss, es will nicht weniger sein als die neue alte Mitte dieser Stadt, das republikanische Herz der neuen alten deutschen Hauptstadt: ein Monument der Demokratie mit barocken Fassaden. Kann das gelingen?

Sie merken es, auch mich treiben so einige Fragen um. Und ich will Ihnen gleich gestehen: Ich werde heute nicht auf alles eine Antwort geben können und schon gar nicht alle zufriedenstellen. Aber vielleicht ist ja gerade das Fragen und das Zweifeln für uns Besucher eine gute Annäherung an diesen Bau. Dies ist, so könnte man es sagen, kein Ort der Selbstvergewisserung, sondern der Selbstbefragung. Und zwar in einem ganz produktiven Sinne: Ein Ort, der uns keine Ruhe lässt, ein solcher Ort kann tatsächlich ein demokratischer Ort werden.

Schon ein kleiner Blick zurück in die Geschichte lässt ahnen, welchen Ehrgeiz, welche Sehnsüchte, welche Machtgelüste dieser Ort im Lauf der Jahrhunderte geweckt hat: Kloster, Residenz von Fürsten, Königen, Kaisern, Aufmarschplatz und Palast der Republik, als Palazzo Prozzo verspottet und zugleich beliebter Ausflugsort, Sitz der einzig frei gewählten Volkskammer und dem Abriss geweihte Asbestruine, Bühne für Kunstschaffende, Humboldt-Forum. Dieser Ort spiegelt wie kaum ein zweiter unsere Geschichte wider, die Irrtümer, die Abgründe, die Gewaltherrschaft und den Neuaufbau. Und er erinnert uns daran: Nur zu einem Bruchteil – gerade einmal drei Jahrzehnte – ist unsere Geschichte die Geschichte eines wiedervereinten, freien und demokratischen Deutschland.

Damals, nach Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung, avancierte die Berliner Mitte erneut zum Kristallisationspunkt unserer Verortung als Nation. Einer Nation, die nicht nur architektonisch auf der Suche war nach ihrer verlorenen Mitte. Sanierung oder Abriss, Neubau oder Nachbau, Moderne oder Barock: Der Schlossstreit tobte mit der Wucht eines Glaubenskrieges, bis sich die Idee des Wiederaufbaus durchsetzte. Ein republikanisches Versprechen, wie es die FAZ, oder ein Denkmal der Geschichtslosigkeit, wie es Die Zeit sah? Eine Vollendung der Geschichte? Oder nicht doch eher eine Revision der Geschichte, ein Symbol des Scheiterns der Idee des Sozialismus, wie Joachim Fest, einer der gewichtigsten Befürworter, den Wiederaufbau begründete?

Die Schlachten von damals sind geschlagen. Trotzdem ist es nicht so, dass eine steingewordene, kreuzgekrönte Reminiszenz an preußische Dominanz sich im wiedervereinigten demokratischen Deutschland von selbst erklärt. Seine Identität und seine Bestimmung in der Demokratie muss dieses Schloss, muss dieses Humboldt-Forum erst noch finden.

Welche Bestimmung das ist, diese Frage stellt sich heute schon anders als vor dreißig Jahren. Heute sehen wir klarer, dass die Wiedervereinigung zwar auch ein Endpunkt war – die deutsche Teilung war überwunden, die deutsche Frage gelöst –, aber noch sehr viel stärker ein Anfang. Der Anfang eines Prozesses, in dem nicht nur Berlin, sondern die deutsche Gesellschaft als ganze sich radikaler verändern sollte, als die meisten sich das damals vorstellen konnten – und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Und dieser Prozess ist längst nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: So wenig unsere Demokratie etwas mehr als dreißig Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung dauerhaft fertig und vollendet ist, so wenig ist dieses Forum hier vollendet.

Aber auch die Welt jenseits unserer Grenzen ist eine andere geworden. Wir sind heute eine Gesellschaft, die global vernetzt ist und die vielfältiger und pluralistischer geworden ist. Hier in der Berliner Mitte ist das wie unter einem Brennglas jeden Tag zu sehen. Sie hat sich in den letzten dreißig Jahren geradezu atemberaubend verändert, und damit meine ich nicht nur die bauliche Seite, sondern auch das, was sich hinter den Fassaden, den alten wie den neuen, verändert hat. Die Weltkulturen sind angekommen, aber das gleich in einem doppelten Sinne: hier drinnen im Humboldt-Forum und da draußen, vor den monumentalen Fassaden.

Hier in der Berliner Mitte ist heute die Welt nicht nur zu Gast. Die Welt ist hier zu Hause – das mag wie ein schöner Werbespruch klingen, hat jedenfalls tiefgreifende Veränderungen mit sich gebracht. Menschen aus der Türkei, aus Italien, Griechenland, Spanien und Portugal, aus Iran, Irak, Afghanistan und Syrien, aus Nigeria, dem Kongo und Somalia, aus Asien, Nord- und Südamerika: Menschen aus allen Teilen der Welt leben heute in Deutschland, sind vielfach Deutsche geworden. Sie gehören zu dem, was heute deutsch bedeutet. Sie sind Teil unserer nationalen Identität, Teil einer aktiven Bürgerschaft, die in Debatten eingreift. Sie sind nicht Menschen mit Migrationshintergrund – wir sind ein Land mit Migrationshintergrund. Was also kann, was soll dieses Forum, das den Namen Humboldt trägt, sein in diesem veränderten Land, in dieser veränderten Welt?

Als erste Antwort will ich ganz klar sagen: Ich kann mir keinen besseren Namen für diesen Ort vorstellen. Die Berliner Mitte verneigt sich zusammen mit der Humboldt-Universität doppelt vor den beiden großen Gelehrten. Vielleicht ist es ja eine der vielen Ironien unserer Geschichte, dass Alexander und Wilhelm von Humboldt dieses Berlin, ihre Heimatstadt, gar nicht sonderlich geliebt haben sollen und nur widerstrebend aus dem Ausland zurückgekehrt sein sollen.

Ja, dieser Name ist eine Verneigung vor Wilhelm von Humboldt, dem Staatsrechtler, Sprachforscher und preußischen Gesandten beim Vatikan, der nach seiner Rückbeorderung durch den Preußenkönig 1809 die erste Berliner Universität gründete und dessen kühne Vision der Einheit von Forschung und Lehre, dessen Ideal einer umfassenden Bildung noch heute unsere Universitäten und unser Bildungswesen prägt.

Und er ist eine Verneigung vor Alexander von Humboldt, dem großen Naturforscher, Entdecker und Philosophen, dem wir unschätzbare Erkenntnisse über die damals unbekannte sogenannte Neue Welt verdanken. Sein Selbstverständnis als Universalgelehrter, als Forscher war ein radikales Gegenprogramm zum kolonialen Erobern, Ausbeuten und Versklaven, ein Gegenprogramm zum reinen Vermessen und Katalogisieren. Ihm, der heute als der zweite Entdecker Amerikas verehrt wird, ihm verdanken wir die so moderne Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt auf unserem Planeten: Alles ist Wechselwirkung, schrieb er in sein Reisetagebuch. Welch treffendes Motto könnte das für dieses Forum sein – eben kein Forum der Selbstbespiegelung, in dem wir Deutsche tun, was wir so gerne tun: über uns selbst diskutieren; sondern ein Forum, in dem wir uns auseinandersetzen mit der Welt, einer globalisierten Welt, in der heute stärker denn je alles Wechselwirkung ist, alles mit allem zusammenhängt.

Wer die Namensgebung des Forums, diese Hommage an die preußische Aufklärung, beim Wort nimmt, weiß: Der Name ist Verpflichtung. Aufklärung bedeutet, das Bestehende vor den Richterstuhl der Vernunft zu bringen, wie Golo Mann es ausgedrückt hat. Wir Europäer sind zu Recht stolz auf die Errungenschaften der Aufklärung: die Achtung der Menschenwürde, Vernunft und Freiheit. Jene Werte, auf denen unsere modernen liberalen Demokratien gründen.

Aber wenn wir den Anspruch der Namensgeber ernst nehmen, dann darf dieses Forum nicht nur die Idee der Aufklärung feiern, sondern es muss selbst aufklären. Und das bedeutet, die historische Realität der Aufklärung, die politische Geschichte der westlichen Moderne kritisch zu hinterfragen. Und es stellen sich unangenehme Fragen: Auf wessen Schultern wurde die westliche Moderne erbaut? Zu welchen Kosten, mit welchen Widersprüchen, welchen Ungerechtigkeiten? Mit welchen Folgen bis in unsere heutige Welt?

Es sind diese Fragen, die derzeit mit großer Wucht und Dringlichkeit ins Zentrum unserer Debatten rücken. Es sind die Stimmen jener, die in westlichen Diskursen viel zu lange keine Stimme hatten. Es sind die Geschichten jener, die auf der Schattenseite der westlichen Fortschrittsgeschichte lebten und oft noch immer leben. Black Lives Matter, Rassismus, Diskriminierung, globale Gerechtigkeit, koloniale Raubkunst: All diese Debatten werden in den Ländern des sogenannten globalen Südens geführt und inzwischen auch bei uns und in den USA.

Und ich meine: Das ist auch dringend notwendig. In meinen Augen ist es so historisch falsch wie politisch gefährlich, diese Debatten als Identity Politics abzutun – als Geltungskampf benachteiligter Gruppen, als Mittel gesellschaftlicher Abgrenzung, als ein Wir-gegen-die. Nein, diese Fragen sind, ganz im Sinne der Aufklärung, universale Fragen. Sie gehen uns alle an. Denn sie betreffen unsere geteilte Geschichte und – wenn wir an das humanistische Projekt der Aufklärung glauben – noch viel mehr unsere gemeinsame Zukunft.

Die Wahrheit ist, dass das Universale nicht irgendeiner Gruppe gehört, das haben Sie, verehrte Chimamanda Ngozi Adichie, einmal zu amerikanischen Studierenden gesagt. Ich freue mich sehr, dass Sie heute hier sind und gleich sprechen werden. Die Geschichte jedes Menschen hat das Potenzial für das Universale – das ist Ihr Credo. Nur ist die Wahrheit, dass viel zu viele Geschichten bislang weder erzählt noch gehört wurden. Hier, in diesem Forum, in diesen Sammlungen sollen sie es werden. Wenn das gelingt, dann sind wir der Antwort auf die Frage nach seiner Bestimmung schon sehr viel nähergekommen.

Heute feiern wir die Eröffnung des Herzstücks dieses Forums. Kein Zweifel, ethnologische Sammlungen haben nach wie vor eine enorme Faszination: Die Weltkulturen kommen zu uns, und wir schauen auf das uns Fremde. Wir lernen, und vielleicht verstehen wir sogar, ganz im Humboldt‘schen Sinne. Forschen, neugierig sein, sammeln, das bedeutete für die Gebrüder Humboldt auch eine Selbstbefreiung aus der Enge der preußischen Provinz. Und ein bisschen ist es das bis heute, eine – im besten Sinne – Welterfahrung.

Aber es gibt eben auch – daran erinnert uns Chimamanda Ngozi Adichie – eine ganz andere Perspektive: die vieler afrikanischer Staaten etwa, die heute mit allem Recht noch einmal neue Geltung für sich beansprucht. Gerade die Länder Afrikas haben einen immensen Teil ihrer Kunst verloren – auch durch die Raubzüge der Europäer. Wir sind aufgewachsen ohne einen wichtigen Teil unseres historischen Erbes, so sagte es der nigerianische Künstler Emeka Ogboh mir in einem Gespräch. Ein Satz, der mich beschäftigt, der uns beschäftigen muss.

Wir wissen heute, dass die Herkunftsgeschichte vieler der Kunstwerke und Kultgegenstände aus Afrika, aus Asien, aus Lateinamerika, die in unseren Museen gezeigt werden, noch im Dunkeln liegt oder noch nicht offengelegt ist. Schlimmer noch, dass nicht wenige auch nicht rechtmäßig erworben wurden, dass dahinter eine Geschichte von Unterwerfung, Plünderung, Raub und Mord steht. Wenig ist eindeutig – und wie viel Forschung hier noch notwendig ist, das zeigt die Debatte um das so wunderbar kunstfertige Luf-Boot geradezu exemplarisch.

Ein Bundespräsident ist kein Museumsmacher. Aber Museen, die nicht nur Artefakte präsentieren, die sich auch der Geschichte des Kolonialismus ernsthaft stellen, werden anders aussehen müssen als traditionelle Museen. Um das Wie wird in Dresden, Stuttgart, Brüssel, Paris und London genauso gerungen wie hier in Berlin. Und das kann auch nicht anders sein. Ethnologische Sammlungen werden heute nicht mehr nur um ihrer selbst Willen gezeigt, sondern machen die Geschichte unseres Verhältnisses zu den Herkunftsorten zum Thema. Nicht zuletzt gehen sie den Spuren dieser Beziehungen im Hier und Heute nach.

Und das weist weit über die Frage hinaus, wie ein Museum konzipiert werden muss. Es geht um unser Selbstverständnis und unsere Verantwortung vor der Geschichte. Wir – und damit meine ich die Europäer insgesamt – werden manches Denkmuster überwinden und andere Perspektiven wahrnehmen und zulassen müssen. Das heißt auch, dass wir das Gespräch suchen müssen mit den Ländern und Regionen, aus denen diese Artefakte stammen. Und wir werden feststellen, dass die von manchen behaupteten einfachen Lösungen oft keine Lösungen sind. Ich füge hinzu: Aller Kritik zum Trotz, das Gespräch hat begonnen und zeigt erste Ergebnisse.

Die Rückgabe bedeutender Benin-Bronzen, die gemeinsam mit Nigeria verhandelt wurde, ist ein Signal der Veränderung, und ich bin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dem Humboldt-Forum, der Staatsministerin und dem Auswärtigen Amt dankbar für ihr Engagement in diesem Prozess. Die Diskussion um Herkunft und Rückgabe, um neue Formen von Museumskooperation, auch Hilfe beim Aufbau eigener Museen, wird mit diesen Ländern zu führen sein, nicht nur von uns Deutschen, sondern von allen europäischen Ländern mit Kolonialgeschichte. Dieser Prozess wird schmerzhaft, so viel steht fest. Aber wir Europäer haben eine Verantwortung vor dieser Geschichte: jedes Land für sich und wir als Europäer gemeinsam.

Wie steht es um das Maß unserer Verantwortung? Es ist winzig im Vergleich zur Geschichte der kolonialen Großreiche der Franzosen, Briten, Spanier, Portugiesen, Niederländer oder Belgier. So meinen viele. Aber als Bundespräsident sage ich klipp und klar: Auch wenn das Deutsche Reich erst spät nach seinem Platz an der Sonne suchte, es gibt keinen Grund für ein gutes Gewissen. Und gerade deshalb muss uns dieses wiedererstandene Schloss auch Erinnerung und Mahnung sein: an Militarismus, an Nationalismus im Deutschen Reich und auch an den deutschen Kolonialismus.

Die Wahrheit ist: Wenn es um die Kolonialzeit geht, haben wir sonst so geschichtsbewussten Deutschen allzu viele Leerstellen! Wir haben blinde Flecken in unserer Erinnerung und unserer Selbstwahrnehmung.

Hier, in der Berliner Mitte, fand 1884/85 die sogenannte Berliner Konferenz statt, besser bekannt unter dem Namen Kongokonferenz, in der auf Einladung des Reichskanzlers Otto von Bismarck die europäischen Großmächte und die USA den afrikanischen Kontinent de facto unter sich aufteilten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der deutsche Kolonialismus keineswegs nur eine Angelegenheit monarchischen Ehrgeizes war, sondern große Teile der Bevölkerung für koloniale Eroberungen waren – denken wir nur an die Auseinandersetzungen vor den Reichstagswahlen 1907, die als sogenannte Hottentottenwahlen in die deutschen Geschichtsbücher eingegangen sind.

In unserem kollektiven Gedächtnis ist die deutsche Kolonialzeit lange Zeit entweder glorifiziert worden – oder aber gänzlich vergessen. Vielleicht wollten wir lieber gar nicht allzu genau wissen, an welchen dieser weit entfernten Orte im damaligen Deutsch-Südwestafrika, in Deutsch-Ostafrika, im heutigen Kamerun, in Togo, in Kiautschou im heutigen China, in Papua-Neuguinea und auf den Südseeinseln auch Deutsche als Kolonialherren Menschen unterdrückt, ausgebeutet, beraubt und umgebracht haben.

Hier mehr Licht ins Dunkel zu bringen, das ist nicht nur eine Aufgabe für Historiker. Das Unrecht, das Deutsche in der Kolonialzeit begangen haben, geht uns als ganze Gesellschaft etwas an. Denn in unserem Land gibt es auch in der Gegenwart, mitten im Alltag dieser Gesellschaft, Rassismus, Diskriminierung, Herabsetzung von vermeintlich Fremden bis hin zu tätlichen Angriffen und furchtbaren Gewalttaten. Ich bleibe überzeugt: Die tieferen Wurzeln des Alltagsrassismus werden wir nur dann verstehen und überwinden können, wenn wir die blinden Flecken unserer Erinnerung ausleuchten, wenn wir uns viel mehr als bislang mit unserer kolonialen Geschichte auseinandersetzen.

Deutschlands Verstrickungen in der Kolonialzeit, was könnte diese besser belegen als das Beispiel Namibia? Dort, im einstigen Deutsch-Südwestafrika, verübten deutsche sogenannte Schutztruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts den ersten Völkermord dieses so blutigen Jahrhunderts. Dieses Verbrechen von deutscher Seite überhaupt anzuerkennen, hat lange, viel zu lange gedauert: ein ganzes Jahrhundert. Die Verbrechen von damals, sie wirken bis heute fort. Bis heute prägt das Leid die Nachfahren der Opfer, bis heute leben viele von ihnen in bitterer Armut. Und bis heute quält es viele Herero und Nama, dass ihre Vorfahren keine letzte Ruhestätte gefunden haben und damit auch keine Ruhe.

Vor wenigen Jahren begannen Verhandlungen der Bundesregierung mit der namibischen Regierung und den Nachfahren der Herero und Nama über ein Versöhnungsabkommen, in dem die Verbrechen von damals als das bezeichnet werden sollen, was sie waren: ein Völkermord aus heutiger Sicht. Ich hoffe sehr, dass diese Verhandlungen zu einem einvernehmlichen Schluss kommen.

Jürgen Habermas hat in einem neuen Aufsatz dargelegt, dass die Erinnerung an unsere bis vor kurzem verdrängte Kolonialgeschichte eine wichtige Erweiterung unseres politischen und historischen Selbstverständnisses ist – ohne dass damit die Erinnerung an den Holocaust eingeebnet oder an Bedeutung verlieren würde.

Ich bin überzeugt: Die Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Shoah ist und bleibt einzigartig in unserem nationalen Gedächtnis. Sie ist Teil unserer Identität. Das sage ich nicht als Historiker – die Geschichtswissenschaft führt über Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit ihre eigenen, fachlichen Debatten –, sondern ich sage das als Bundespräsident. Nur füge ich hinzu: Die Erinnerung an den Holocaust steht der empathischen und bewussten Erinnerung an andere Ungerechtigkeit, anderes Leid nicht entgegen! Im Gegenteil: Die Gebrochenheit, die die Shoah uns hinterlässt, öffnet hoffentlich unseren Blick für die Verantwortung vor der Geschichte. Die Menschenwürde, auf der unsere Verfassung ruht, ist eben die Würde aller Menschen.

Die Verbrechen der Kolonialzeit, Eroberung, Unterdrückung, Ausbeutung, Raub, Mord an Zehntausenden von Menschen, brauchen einen angemessenen Ort in unserer Erinnerung. Wir müssen uns der Verantwortung vor diesem Teil der deutschen Geschichte stellen. Denn dabei geht es um unsere Zukunft, um unser Zusammenleben in einem Land, in dem die Weltkulturen zu Hause sind und sein wollen.

Wenn dieses Forum tatsächlich zum Forum wird, zu einem Ort, an dem diese Debatten geführt werden und an dem wir Antworten auf die vielen Fragen, die dieses Schloss aufwirft, auch tatsächlich näherkommen, dann hätte sich die Frage nach seiner Sinngebung beantwortet.

Ich habe großes Vertrauen, dass Sie, lieber Herr Koch, Herr Parzinger, Herr Dorgerloh, dass Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich genau das vorgenommen haben und alles dafür tun, dass es das wird. Ich möchte Ihnen dreien heute ganz herzlich danken für Ihren Mut und Ihre Entschlossenheit, sich in und oft genug auch gegen den Wind zu stellen. Ihre Aufgabe ist wahrlich schwer, sie zu kritisieren ist einfach. Aber wenn wir zu neuen Ufern aufbrechen wollen, wenn wir ein anderes, aufgeklärtes Verständnis der Artefakte und ihrer Geschichte finden wollen, ein Verständnis, das sich intensiv der Kultur und der gesellschaftlichen Realität in ihren Herkunftsregionen widmet, dann brauchen wir Menschen, die sich dieser Aufgabe und dieser Verantwortung stellen – Menschen wie Sie. Und deshalb mein besonderer Dank!

Zu Beginn habe ich gesagt: So, jetzt steht es hier. Und nun? Die Antwort ist: Nun sind wir dran! Es liegt an uns, dieses Gebäude mit Sinn, mit Leben, mit Debatte zu füllen. Wenn ich mir heute etwas wünsche, dann das: Möge es Ihnen, möge es den Besucherinnen und Besuchern, möge es uns allen gemeinsam gelingen!