Generaldebatte der 76. Generalversammlung der Vereinten Nationen

Schwerpunktthema: Rede

New York/USA, , 24. September 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 24. September bei der Generaldebatte der 76. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York/USA eine Rede gehalten: "Das tiefe menschliche Verlangen nach Freiheit und Würde und Selbstbestimmung wird niemals und nirgendwo erlöschen. Diesem menschlichen Verlangen gerecht zu werden, statt es zu unterdrücken – das ist die wahre Schicksalsfrage des 21. Jahrhunderts. Und diese Frage wird auf keinem Schlachtfeld der Welt entschieden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Generaldebatte der 76. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York, USA.

Während wir hier in diesem ehrwürdigen Forum zusammenkommen, beginnen in Deutschland die Schlussveranstaltungen eines langen Wahlkampfs. Übermorgen sind 60 Millionen Deutsche aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Sie entscheiden über neue Koalitionen und über die Nachfolge einer Bundeskanzlerin, die Deutschland 16 Jahre lang regiert hat.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in dieser Zeit des politischen Übergangs in meinem Land möchte ich Ihnen versichern: Deutschland bleibt auch nach dieser Wahl ein Land, das um seine internationale Verantwortung weiß und sie wahrnimmt.

Das hat zwei überragende Gründe. Erstens, wir Deutsche vergessen nicht: Der politische und wirtschaftliche Neubeginn nach zwei Weltkriegen, das Hineinwachsen in die internationale Gemeinschaft nach allem Unheil, das von meinem Land ausgegangen war, und schließlich die friedliche Wiedervereinigung – dieser glückliche deutsche Weg war nur möglich mit der Unterstützung unserer Nachbarn und Partner. Und, zweitens, wir sind überzeugt: Der Weg in eine friedlichere Zukunft, die Lösung der großen, offenen Menschheitsfragen wird noch weit, weit mehr Zusammenarbeit in der internationalen Staatengemeinschaft erfordern.

In der Präambel der deutschen Verfassung lautet der Anspruch kurz und präzise: als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Dieser Anspruch, diese Verpflichtung gilt für jede deutsche Regierung. Und deshalb war es mir wichtig, heute als Bundespräsident nach New York zu kommen und der internationalen Gemeinschaft diese Botschaft Deutschlands zu überbringen: Unsere Partner können sich auf uns verlassen, und unsere Wettbewerber müssen weiter mit uns rechnen.

In meinen Augen beginnt außenpolitische Verantwortung mit einem ehrlichen und unverstellten Blick auf die Welt. Darum haben sich die Rednerinnen und Redner dieser Generalversammlung in den vergangenen Tagen in ungewohnter Offenheit bemüht. Und in der Tat: Die Lage der Welt ist heute – in jeder Hinsicht – ernüchternd.

Der Fall von Kabul ist eine Zäsur. Wir haben unser Ziel erreicht, diejenigen zu besiegen, die vor zwanzig Jahren furchtbaren Terror über diese Stadt gebracht hatten. Aber wir haben es in zwei Jahrzehnten nicht vermocht – trotz größter Anstrengungen und Investitionen –, eine selbsttragende politische Ordnung in Afghanistan zu errichten.

Auch mein Land trägt Mitverantwortung. Und wir bleiben in Verantwortung, gerade für die vielen Afghaninnen und Afghanen, die auf eine friedlichere, freie, demokratische Zukunft gehofft hatten. Doch ich frage uns: Was folgt aus dem Scheitern? Welche Lehren, welche Aufgaben trauen wir uns zu, wenn wir doch erfahren mussten: Wir haben zu viel gewollt?

Ich bin überzeugt: Resignation wäre die falsche Lehre. Sondern in meinen Augen bedeutet dieser Moment der geopolitischen Ernüchterung dreierlei für die Außenpolitik: Wir müssen ehrlicher, klüger, aber auch stärker werden!

Erstens: Wir müssen ehrlich sein im Blick auf unsere Möglichkeiten und unsere Grenzen. Wir müssen realistischer sein in der Definition und Priorisierung unserer Ziele und Interessen. Oftmals können wir mehr erreichen, wenn wir weniger wollen.

Zweitens: Wir müssen klüger sein in der Wahl unserer Instrumente und Schwerpunkte. Deutsche und europäische Außenpolitik darf sich nicht aufs Rechthaben und Verurteilen beschränken. Sondern wir müssen unseren Instrumentenkasten erweitern – diplomatisch, militärisch, zivil, humanitär. Und Klugheit heißt in meinen Augen auch: weniger Sendungsbewusstsein, sondern mehr Offenheit in der Suche nach Lösungswegen und Schnittmengen – auch mit denen, die anders sind als wir.

Und drittens, auch wenn es manchem paradox erscheint: Wir müssen stärker werden in unseren Möglichkeiten. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten in allen unseren Staaten, dass ihre Regierungen sie vor Bedrohungen und Angriffen schützen. Zu Recht! Deshalb investiert auch mein Land in diesen instabilen Zeiten mehr in seine Verteidigungsfähigkeit. Aber klar ist auch: Zukünftige Generationen werden uns nicht an militärischer Stärke heute messen, sondern daran, ob wir in der Lage waren, Probleme und Konflikte zu lösen. Militärische Stärke ohne den Willen zur Verständigung, ohne Mut zur Diplomatie macht die Welt nicht friedlicher. Wir brauchen Verhandlungsstärke ebenso wie Verteidigungsstärke. Auch deshalb hat Deutschland in den vergangenen beiden Jahren Verantwortung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übernommen – und wir möchten es in den Jahren 2027/28 gerne erneut tun.

Ja, wir sind in Afghanistan mit vielem gescheitert. Aber unser Scheitern sollte für andere kein Grund zur Schadenfreude sein. Sehr bewusst nutze ich dieses deutsche Wort, das man in vielen Sprachen kennt: Schadenfreude. Ein Denken, in dem der Schaden des einen des anderen Gewinn ist, wird der Wirklichkeit dieser vernetzten Welt nicht gerecht. Regionale Instabilität, erodierende Staatlichkeit, Flucht- und Migrationsströme, religiöser Extremismus und Terror, und neue Konfliktformen – sowie hybride wie digitale, Umwelt- und Ressourcenkonflikte. Solche Entwicklungen bedrohen uns alle und wir alle müssen damit umgehen. Die Kleinen wie die Großen.

Die Großmächte – USA, China und Russland – tragen dabei eine besondere Verantwortung; eine besondere Verantwortung auch für die kleineren Staaten. Die Vorrechte, die die großen Mächte im System der Vereinten Nationen genießen, haben ihre Berechtigung nur, solange sie die internationale Friedensordnung im Interesse aller fördern und erhalten – und nicht nach beliebigem Eigeninteresse ignorieren oder unterlaufen. Die Vereinten Nationen sind kein wertneutraler Boxring der Weltmächte.

Nun weiß ich auch: Die Hand mit dem sprichwörtlich ausgestreckten Zeigefinger weist mit den anderen Fingern auf uns selbst zurück. Wer jetzt etwa vor einem amerikanischen Rückzug aus der Welt warnt, darf im eigenen Land nicht ähnlichen Reflexen folgen. Wir Europäer, auch wir Deutsche, müssen mehr tun für unsere eigene Sicherheit, mehr tun für Frieden und Stabilität in unserer Nachbarschaft und weltweit. Wir müssen unsere multilateralen Bemühungen fortsetzen: in Libyen, in der Ostukraine, im Mittleren Osten. Wir sind bereit, das Atomabkommen zu erneuern, und wir fordern, dass der Iran schnellstmöglich zu ernsthaften und ernst gemeinten Verhandlungen zurückkehrt.

Ich weiß mich mit unserem engsten Partner Frankreich einig: Wir brauchen eine starke gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa. Nur ein starkes Europa kann von anderen verlangen, ihren Teil zur internationalen Friedensordnung beizutragen. Nur ein starkes Europa kann beides zugleich: Zusammenarbeit mit China suchen, wo Zusammenarbeit in beiderseitigem Interesse, oder sogar notwendig ist – und zugleich von China Respekt einfordern für Menschenrechte und Völkerrecht, und für die legitimen Interessen seiner Nachbarn.

Eine starke, regelbasierte Friedensordnung braucht auch eine starke transatlantische Partnerschaft. Wir wissen, dass die USA neue und andere Schwerpunkte setzen. Und wir wissen: So, wie die Welt sich ändert, müssen auch Bündnisse sich anpassen. Aber: Kein kurzfristiger Vorteil ist es wert, dass unsere transatlantische Geschlossenheit Risse bekommt. Darauf sollten wir miteinander achtgeben.

Die Verantwortung der großen Mächte, uns Europäer eingeschlossen, wiegt umso schwerer, wenn wir an die globalen Herausforderungen, an die großen Menschheitsfragen denken.

Noch nie haben wir unsere gegenseitige Abhängigkeit, unser Aufeinander-angewiesen-Sein so existenziell erfahren wie in den fast zwei Jahren der Covid-19-Pandemie. Und dennoch, obwohl wir doch wissen, dass diese Pandemie erst vorüber ist, wenn sie überall vorüber ist: Unsere Bilanz in der globalen Impfstoffverteilung ist bestenfalls gemischt. Zu viele Menschen warten noch auf die rettende Impfung. Deshalb darf die Verteilung kein Instrument für nationale Selbstdarstellung oder taktische Gefälligkeiten sein. Sondern die Covax-Initiative unter dem Dach der Vereinten Nationen ist der richtige, der gemeinsame Weg. Jede dritte Covax-Impfstoffdose wird von Europa bereitgestellt, und mein Land wird, als weltweit zweitgrößter Geber mit zwei Milliarden Dollar, bis Jahresende noch zusätzlich mindestens hundert Millionen weitere Impfdosen beisteuern.

Was für die existenzielle Bedrohung der Pandemie gilt, gilt nicht minder für den Klimawandel. Apokalyptische Brände und sengende Temperaturen, Wirbelstürme und Orkane, Missernten, Dürren und Hungersnöte: Sie geschehen jetzt und sie geschehen hier. Sie bedrohen Menschen, Familien, Existenzen – überall, besonders unter den Verwundbarsten, aber auch in den reichen Industrieländern. Schwerste Überflutungen im Westen Deutschlands haben in diesem Sommer fast 200 meiner Landsleute das Leben gekostet. Und auch aus dieser Stadt, New York City, stehen uns die jüngsten Bilder noch vor Augen: einbrechende Wassermassen in Straßen, Wohnungen, U-Bahn-Schächten.

Vor diesem dramatischen Hintergrund ist der Rückfall in nationale Egoismen, vor dem ich warne, mehr als nur ein Schritt zurück in die Vergangenheit. Er ist Raubbau an unserer gemeinsamen Zukunft! Er beschädigt genau die Institutionen und Instrumente, die wir jetzt brauchen. Wir brauchen jetzt starke gemeinsame Entschlüsse in Glasgow!

Denn auch beim Klimawandel trifft doch zu: Die Lücke zwischen unseren anspruchsvollen Zielen und unserer konkreten Politik ist noch viel zu groß. Wir sind es, miteinander, die diese Lücke schließen müssen. Und wir müssen es jetzt tun! Denn wir leben in einem Zeitalter, in dem der Mensch die Lebensbedingungen auf dem Planeten irreversibel zerstören kann. Es ist an uns, an unserer Generation, die Zukunft für unsere Kinder und Enkel offenzuhalten. Wir müssen eine Zukunft offenhalten, in der Klimaschutz und wirtschaftlicher Wohlstand, in der ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt noch zugleich möglich sind. Das ist – und ich benutze dieses große Wort nicht leichtfertig – das ist unsere große historische Aufgabe. Wir dürfen nicht scheitern – der Zukunft der Menschheit wegen!

Ich habe meine Rede mit der Demokratie begonnen, dem bevorstehenden demokratischen Übergang in meinem eigenen Land. Am Ende möchte ich den Blick noch einmal weiten: auf die Lage der liberalen Demokratie insgesamt – ihre Glaubwürdigkeit, ihre Wirkmacht, ihre Zukunft in diesem schwierigen weltpolitischen Moment.

In Afghanistan ist ein langes, opferreiches Engagement gescheitert. Aber nicht eine Idee! Mein Land fühlt sich der Idee von Freiheit und Demokratie im Innersten verpflichtet – vielleicht gerade, weil unser deutscher Weg dorthin ein weiter war.

Natürlich wissen wir: In der Realität sind politische Systeme niemals perfekt. Nicht in Europa, nicht in Amerika, nirgendwo. Folglich können sie weder exportiert, geschweige denn oktroyiert werden. Ich glaube, die Aufgabe ist eine andere: Nicht durch missionarischen Eifer, sondern indem wir die Kraft der Demokratie bei uns selbst zum Leuchten bringen, indem wir die Demokratie im Alltag der Bürgerinnen und Bürger fruchtbar machen und der autoritären Versuchung trotzen. Dadurch erweisen wir dieser großartigen Idee den besten Dienst.

US-Präsident Biden hat hier vor der Generalversammlung von der weltumspannenden Kraft der Demokratie gesprochen. Ich möchte betonen: Die Demokratie ist keine Kraft, die gegen irgendjemanden gerichtet ist. Sie ist kein Machtinstrument des Westens. Sie ist ein offenes Projekt! Ohne Himmelsrichtung, ohne geographische Grenzen, ohne Hautfarbe. Sie ist das Projekt der Freiheit, das Projekt der Menschenwürde, das sich die Staaten der Welt in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Maßstab gesetzt haben.

Und weil das unser Maßstab bleiben muss, ist für uns Deutsche – auch nach dem Scheitern in Afghanistan –, Rückzug von der Welt keine Option. Solange Menschen ihrer Würde beraubt werden, ist Gleichgültigkeit keine Option! Deshalb bedeutet mehr Realismus in der Außenpolitik eben nicht: weniger Verantwortung und weniger Ehrgeiz, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Ganz im Gegenteil: Das tiefe menschliche Verlangen nach Freiheit und Würde und Selbstbestimmung wird niemals und nirgendwo erlöschen. Diesem menschlichen Verlangen gerecht zu werden, statt es zu unterdrücken – das ist die wahre Schicksalsfrage des 21. Jahrhunderts. Und diese Frage wird auf keinem Schlachtfeld der Welt entschieden.

Denn: Die Feuerkraft der mächtigsten Armee ist endlich. Der lange Arm des stärksten Staates ist endlich.

Aber: Die Strahlkraft von Freiheit und Demokratie in den Köpfen und Herzen der Menschen – sie ist es nicht! Das ist meine Zuversicht.