Festakt zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 5. Oktober 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat beim Festakt der Türkischen Gemeinde in Deutschland zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens am 5. Oktober in Berlin eine Rede gehalten: "Freiheit, Gleichheit und Solidarität – viele Einwanderinnen und Einwanderer haben sich in Deutschland danach gesehnt. Es liegt jetzt an uns allen, diese Sehnsüchte, die wir alle haben und die uns verbinden, die uns als Gesellschaft zusammenführen, zu erfüllen und wahr werden zu lassen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim Festakt der Türkischen Gemeinde in Deutschland zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in Berlin.

1990. Ein Parkplatz in Köln. Es ist ein sonniger Tag, vermutlich Wochenende. Zwei Kinder lächeln in die Kamera. Sie spielen mit roten Ballons. Darauf erkennt man das Logo der IG Metall. Wahrscheinlich arbeiten ihre Eltern bei Ford oder irgendwo anders in der rheinischen Metallindustrie. Im Hintergrund kann man ein Gedicht von Nâzim Hikmet auf der Hauswand entdecken: Leben, einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht. Der Satz ist auf Deutsch und auf Türkisch geschrieben, dazwischen ragt ein riesiger Baum in die Höhe. Ergun Çağatay hat dieses Motiv auf seiner Städtereise 1990 eingefangen. Ich erzähle es, weil das Foto mich bei meinem Besuch im Ruhr-Museum letzte Woche anstrahlte.

Die Worte von Nâzim Hikmet stehen für ihre Zeit. Sie drücken Gefühle aus, die viele Menschen spürten, als sie sich in den 1960er und 1970er Jahren auf den Weg nach Deutschland machten. Gefühle der Entwurzelung. Gefühle, die Sehnsüchte nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität weckten. Wurden diese Sehnsüchte erfüllt?

Die Realität, in der die Menschen damals ankamen, folgte eher einer Logik des messbaren Nutzwerts als der großer Visionen. Und dieser Nutzwert war nur auf Zeit angelegt. Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei vom 30. Oktober 1961 war kein Akt der Nächstenliebe oder gar ein Zeichen fortschrittlicher Zuwanderungspolitik. Deutschland war knapp an Arbeitskräften. Die Optionen lauteten: Entweder Wachstumsverzicht oder Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland.

Ganz im Sinne dieses pragmatischen Bedarfs besiegelte lediglich eine Verbalnote das Abkommen. Kein Foto von einem festen Händedruck zwischen zwei Politikern. Und schon gar keine Zeremonie. Sogar Pressemeldungen durch amtliche Stellen blieben bewusst aus. Und doch sollte diese stille Post unsere Gesellschaft so tiefgreifend verändern wie nur wenige andere Ereignisse in den vergangenen sechzig Jahren.

Ein doppelter Irrtum hatte sich in unsere Vorstellungen und auch in unsere Begegnungen eingeschlichen: Gasterbeiterinnen und Gastarbeiter richteten sich selbst auf einen kurzen Aufenthalt ein – ein paar Jahre in Deutschland arbeiten, das Geld für das Haus, für die Familie verdienen. Aber vor allem die Deutschen glaubten, dass sie die Arbeitskräfte nach ein paar Jahren auch schnell zurückschicken könnten. Rotationsprinzip hieß das Zauberwort. Von Rotation war aber schon sehr bald nicht mehr die Rede.

Zu spät, viel zu spät war die deutsche Gesellschaft bereit, die Perspektive auf diese damals sogenannten Gastarbeiter zu verändern. Vieles ist dadurch liegengeblieben, und durch das Liegenbleiben sind viele Probleme überhaupt erst entstanden. Denn erst die Anerkennung, der Respekt voreinander und die Neugier auf eine andere Kultur tragen doch auf beiden Seiten dazu bei, Vorbehalte oder gar Ängste zu überwinden. Die Bereitschaft, engstirnigen Nationalismus und kulturellen Hochmut hinter sich zu lassen, auf andere zuzugehen, sich aufeinander einzulassen, voneinander zu lernen, ist die beste Voraussetzung für ein friedliches Miteinander und für eine bessere Zukunft.

Diese bessere Zukunft wird es nicht geben, solange Ausgrenzung, Vorurteile, Ressentiments den Alltag unserer Gesellschaft immer noch durchziehen. Mich erschüttert es, wenn Menschen mit anderer Hautfarbe, Sprache oder Religion bis heute zur Zielscheibe von Hass und Hetze werden. Wenn sie angefeindet werden, im Netz oder auf der Straße. Wir wissen doch: Das sind nicht nur Worte, sondern das ist ein Gift, das Wirkung hat. Das ist ein Gift, das immer wieder Menschen glauben macht, sie dürften im Namen eines angeblichen Volkswillens andere Menschen demütigen, bedrohen, jagen oder gar ermorden.

Die niederträchtigen Morde des NSU, die Toten in Mölln und Solingen und Hanau, sie sind Opfer eines Hasses, der mitten in Deutschland, mitten in dieser Gesellschaft seine Wurzeln hat. Nach wie vor. Und deshalb sind wir alle, im Angesicht dieser Opfer, traurig, betroffen, auch wütend. Aber wir sind nicht ohnmächtig! Es ist die Pflicht des Staates, alle Menschen zu schützen. Fremdenhass ist Menschenhass. Und diesen Hass dürfen und werden wir in Deutschland niemals dulden!

Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen. Mit diesem Satz traf Max Frisch 1965 einen Nerv. Denn er hatte bereits verstanden, dass die europäische Beschäftigungspolitik der 1960er und 1970er Jahre zu kurz gedacht war. Wir nannten sie Gäste. Wir sind doch keine Gäste in einem Haus, das wir selbst mitgebaut haben, sagt Ferda Ataman zu Recht. Und diejenigen, die an dem Fundament des gemeinsamen Hauses damals gebaut haben, um sie geht es heute.

Wir sind heute hier, um die erste Generation der Menschen zu feiern, die vor sechzig Jahren zu uns gekommen sind. Ich freue mich, dass einige von ihnen heute unter uns sind.

Wir können nur ahnen, wie schwer es war, was für eine Zerreißprobe Sie bestehen mussten und, ich vermute, teilweise immer noch bestehen müssen. Die erniedrigenden medizinischen Untersuchungen, die Sie über sich ergehen lassen mussten, waren nur der Anfang. Zeitzeuginnen erzählen, wie sie sich ihre langen Haare abschnitten in der Hoffnung, statt 61 die obligatorischen 60 Kilo auf die Waage zu bringen. Eine absurde, eine unwürdige Vorstellung. Die Frauen und Männer, die die Bewerbungsprozedur überstanden hatten, traten eine Reise ins Ungewisse an, ihre Motive waren so divers wie ihre Hoffnungen.

Es sind die Geschichten von jungen Müttern, die ihre Kinder in der Türkei zurückgelassen haben, um in Deutschland zu arbeiten. Mütter, die ihre Schwester oder Nachbarin bitten mussten, ihre Babys während ihrer Abwesenheit weiter zu stillen. Für viele heute unvorstellbar. Aber es sind auch die Geschichten von jungen Männern, die auf der fünfzigstündigen Zugfahrt von Istanbul nach München vor Vorfreude getanzt haben. Von Menschen, die Tag und Nacht arbeiteten, um ihren Liebsten so viel Geld wie möglich zu schicken. Von Familien, die immer auf Zeit lebten. Von sogenannten Kofferkindern, die erstmal bei der Verwandtschaft in der Türkei zurückblieben und lange darauf warten mussten, bis sie ihre Koffer endlich auspacken durften. Von Menschen, die noch zwei Jahre, dann drei, bis sie genug Geld gespart haben, und dann doch bis zum Ende der Schulzeit ihrer Kinder in Deutschland bleiben wollten. Immer kam mir das Leben dazwischen, sagte mir kürzlich jemand aus der ersten Generation. Schließlich sind sie ganz in Deutschland geblieben.

Wenn ich mit Menschen aus der ersten Generation spreche, dann beeindruckt mich ihr Optimismus, ihr Mut und ihr Durchhaltevermögen. Sie verdienen unseren Respekt. Ihre Kraft und ihre Unbeirrbarkeit waren stärker als die Ungewissheit und die Zerrissenheit. Ich bewundere Sie dafür.

Die Geschichten der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter verdienen einen angemessenen Raum in unseren Schulbüchern und in unserer Erinnerungskultur; eine Randnotiz wird ihrem Beitrag für unser Land nicht gerecht. Erst wenn ihre Geschichten verbreitet sind, wenn wir ihre Geschichten kennen, wenn wir ihre Geschichten als integralen Teil der Geschichte dieser Republik behandeln, erst dann verstehen wir unser aller Geschichte.

Sie haben Deutschland mit aufgebaut – Sie haben unser Land bereichert, wirtschaftlich, aber vor allem menschlich! Ihr Fleiß, Ihre Leidenschaft und Ihre Menschlichkeit haben unser Land zu dem gemacht, was es heute ist. Dafür bin ich Ihnen, die heute als Vertreterinnen und Vertreter der ersten Generation bei uns sind, zutiefst dankbar.

Ihre Kinder und Enkel bauen an diesem Deutschland weiter. Und wir brauchen sie dabei. Sie sind Handwerker, Künstlerinnen und Musiker, Unternehmerinnen und Impfstoffentwickler, Richterinnen und Staatsanwälte, Abgeordnete, Staatssekretärinnen oder Minister. Sie sind häufig deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Sie sind eben nicht Menschen mit Migrationshintergrund. Sondern Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund geworden. Und es ist höchste Zeit, dass wir uns dazu bekennen.

Dieser Festakt ist wichtig. Aber wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, alle zehn Jahre Jubiläen zu begehen, Schwarz-Weiß-Fotos von damals anzuschauen und Erfahrungsberichte anzuhören, um anschließend sofort zum Alltagsgeschäft überzugehen. Wir müssen diese Begegnungen und Erkenntnisse nutzen, um an unserer Geschichte gemeinsam zu reifen. Um an den Aufgaben zu wachsen, die sich aufdrängen. Das heißt insbesondere: Wir müssen mit aller Kraft arbeiten an einer Gesellschaft der gelebten Chancengleichheit – unabhängig von sozialer Herkunft, Weltanschauung und Religion.

Die Menschen der sogenannten zweiten, dritten und vierten Generation haben sich anders als ihre Eltern und Großeltern nicht darum beworben, nach Deutschland zu kommen. Die große Mehrheit unter ihnen ist hier geboren. Aber viele von ihnen haben auch heute noch das Gefühl, sich ständig bewerben zu müssen. Bewerben, um fair behandelt zu werden. Bewerben, um sie selbst sein zu dürfen und nicht fremd. Bewerben, um wie alle anderen von einer guten Zukunft träumen zu dürfen, von einer Gymnasialempfehlung, von einem Mietvertrag, von einer Einladung zu einem Bewerbungsgespräch. Oftmals erhalten sie eine Absage. Eine schmerzhafte Absage, die oftmals von hässlichen Reflexen herrührt. Von Vorurteilen, Ressentiments und Rassismus. Dieser Alltagsrassismus trifft Menschen da, wo es am meisten wehtut. Und sie fühlen sich wehrlos.

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Auch die Würde der türkeistämmigen Frauen, Männer und Kinder ist unantastbar. Doch viel zu oft wird sie angetastet und angegriffen. Das dürfen und werden wir in diesem Land nicht dulden!

Ich danke der Türkischen Gemeinde in Deutschland dafür, heute diesen Festakt auszurichten. Vielen Dank für die Einladung und für Ihre Worte, lieber Herr Karabörklü und lieber Herr Sofuoğlu. Die TGD hat sich vor 26 Jahren als Reaktion auf die rassistischen Angriffe und mörderischen Anschläge Anfang der 1990er Jahre gegründet. Die TGD und ihre Vision einer lebendigen und vielfältigen Migrationsgesellschaft wirkte damals wie ein Schutzschild für türkeistämmige Menschen in Deutschland. Eine Aufgabe, die eigentlich dem deutschen Staat zukommt.

Zwei bedeutende Jubiläen, die wir heute miteinander verknüpfen: Wir feiern in diesen Wochen 60 Jahre Anwerbeabkommen und 25 Jahre Türkische Gemeinde in Deutschland. Was sagt es aus, dass sich dieser Dachverband erst 34 Jahre nach Ankunft der ersten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter gegründet hat? Es hat lange, zu lange gedauert. Aber heute können wir zum Glück feststellen: Dieser Verband ist aus unserer Zivilgesellschaft nicht mehr wegzudenken. Wir schätzen Ihr Engagement und Ihre Stimme im Kampf für Chancengleichheit und gegen Diskriminierung sehr. Vielen Dank für ihre Arbeit!

Meine Damen und Herren, Freiheit, Gleichheit und Solidarität – viele Einwanderinnen und Einwanderer haben sich in Deutschland danach gesehnt. Es liegt jetzt an uns allen, diese Sehnsüchte, die wir alle haben und die uns verbinden, die uns als Gesellschaft zusammenführen, zu erfüllen und wahr werden zu lassen.

Ich ermuntere Sie, ich ermuntere alle, die hier zu Hause sind, und ich ermuntere insbesondere die Jugendlichen, die jungen Frauen und Männer hier heute und in ganz Deutschland: Nehmen Sie sich den Platz, der Ihnen zusteht! Nehmen Sie sich den Platz in der Mitte unserer Gesellschaft und füllen Sie ihn aus! Gestalten Sie diese Gesellschaft, denn es ist Ihre Gesellschaft!