Empfang für die Teilnehmenden der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft "Orte der Demokratiegeschichte"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 8. Oktober 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 8. Oktober den Empfang für die Teilnehmenden der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft "Orte der Demokratiegeschichte" mit einer Rede eröffnet: "Demokratie ist kein Zustand, sondern ein ständiger Prozess. Demokratiegeschichte kann daher nicht nur den Weg zur Demokratie ausleuchten, sondern muss auch die Demokratie und deren Weiterentwicklung selbst thematisieren."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält vor den Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft "Orte der Demokratiegeschichte" eine Ansprache im Schloss Bellevue

Herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue! Dieses Gebäude hat zwar ein preußischer Prinz erbauen lassen, aber zumindest seit 1959 ist es als Berliner Amtssitz der Bundespräsidenten auch ein Ort der Demokratiegeschichte. Ich hoffe daher, dass Sie sich heute hier wohlfühlen werden.

Als ich im Jahr 2017 das Amt antrat, habe ich bewusst mit einer Deutschlandreise zu den Orten unserer Demokratie begonnen. Mein Eindruck war, dass bei öffentlicher Aufmerksamkeit und politischer Zuwendung für diese Orte erheblicher Nachholbedarf besteht. In den vergangenen Jahren habe ich viele dieser Orte besucht und kennengelernt: Herrenchiemsee und das Hambacher Schloss, den Friedhof der Märzgefallenen und das Haus der Weimarer Republik; ich war in Plauen, wo im Herbst 1989 eine der ersten Massendemonstrationen für Freiheit und Bürgerrechte in der DDR stattfand; die Macher der Gedenkstätte für Matthias Erzberger aus Buttenhausen waren im August hier im Schloss, und erst vor wenigen Tagen habe ich das Archiv der deutschen Frauenbewegungen in Kassel besucht.

Ich freue mich sehr, dass heute mit Ihnen Repräsentantinnen und Repräsentanten so vieler Orte der Demokratiegeschichte zusammengekommen sind: von geografischen Orten, aber auch von Erinnerungsorten im Sinne der lieux de mémoire, also von Institutionen, die sich der Erinnerung an Personen, Ereignisse, Ideen verschrieben haben, solcher, die im kollektiven Gedächtnis unserer Demokratie einen festen Platz haben oder zumindest haben sollten.

Es war einer meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten, Gustav Heinemann, der schon Anfang der Siebzigerjahre mit Leidenschaft dafür warb, den freiheitlichen Traditionen in der deutschen Geschichte mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten und die Erinnerungsstätte in Rastatt sind bleibende Resultate seines Engagements.

In jener Zeit begann auch eine historische Auseinandersetzung, der sich unser Land viel zu lange verweigert hatte: die Auseinandersetzung mit der Shoah. Der Völkermord an den Juden Europas war ein ungeheuerlicher Zivilisationsbruch. Die Erinnerung an seine Opfer, an Täter und Tatenlose bleibt ein notwendiges Erinnern für unser Land. Hier kann es keinen Schlussstrich geben.

Das Nie wieder! bleibt unser gemeinsames Fundament und muss es bleiben! Für uns, für künftige Generationen; für hier Geborene und die, die dazukommen. Aber mit Blick auf künftige Generationen müssen wir mehr anbieten – wir müssen auch die Wurzeln der deutschen Demokratie sehr viel stärker freilegen, sichtbar machen. Es braucht auch die Erinnerung an die Kämpfe, das Gelungene, Bewahrenswerte; natürlich auch an Niederlagen und Rückschläge; es braucht auch ein Bewusstsein für die Demokratie- und Freiheitsbestrebungen, die es über Jahrhunderte hinweg gegeben hat. Deshalb sage ich: Ohne Relativierung, ohne den Blick auf den Abgrund der Shoah zu verdrängen, können wir stolz sein auf die Traditionen von Freiheit und Demokratie.

Wir alle spüren es: Unsere Verfasstheit, oder besser: unsere Lebensform, die Demokratie, ist heute weltweit starken Anfechtungen, ja auch Angriffen ausgesetzt. Russland und China präsentieren sich als autoritäre Gegenmodelle zur westlichen Welt. Gleichzeitig erleben wir, wie in Europa und in den USA festgefügte Demokratien ins Wanken geraten können. Natürlich ist auch Deutschland nicht gefeit vor der Rückkehr des Autoritären. Manche Verächter von Freiheit und Demokratie sitzen bereits in unseren Parlamenten.

Der Blick in die Vergangenheit zeigt, wie mühevoll, opferreich, verschlungen und voller Rückschläge die Wege zu Freiheit und Demokratie einst gewesen sind. Dieses Wissen lässt uns den Wert des Erreichten besser erkennen, und zugleich sind die faszinierenden Männer und Frauen, in deren Fußstapfen wir heute stehen, Vorbilder und machen Mut, auch in Zukunft für ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung einzutreten.

Ich bin daher überzeugt: Wir stärken die Demokratie auch dadurch, dass wir ihre Geschichte und deren Protagonisten zum festen Teil unserer Erinnerungskultur machen.

Als wir am 9. November 2018 im Deutschen Bundestag an den 100. Jahrestag der Ausrufung der Republik erinnert haben, da habe ich den Wunsch formuliert, dass wir noch mehr Aufmerksamkeit, mehr Herzblut und auch mehr finanzielle Mittel den Orten und Protagonisten unserer Demokratiegeschichte widmen. Ich freue mich, dass dieser Aufruf gehört wurde. Seither hat sich manches getan.

Der Bund hat sein Engagement für das Hambacher Schloss ausgeweitet. Er fördert das Haus der Weimarer Republik in Weimar dauerhaft, und er entwickelt den Friedhof der Märzgefallenen zu einer modernen Gedenkstätte; die Zukunft der Paulskirche als nationales Symbol deutscher Demokratiegeschichte steht endlich auf der Agenda von Bund, Land und Stadt Frankfurt; und die neue Bundesstiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte ist gegründet; sie wird für Sie alle eine starke Partnerin, die bestehendes Engagement fördert, neues anregt und die Demokratiegeschichte bundesweit noch stärker sichtbar macht.

Diese gute Entwicklung der letzten Jahre ist nicht zuletzt Ihr Erfolg, meine Damen und Herren. Es ist auch das Verdienst Ihrer Arbeitsgemeinschaft, der Institutionen, die sie versammelt, und ihres Sprecherrates. Für dieses wichtige und erfolgreiche Engagement danke ich Ihnen allen vielmals.

Es gibt viele Möglichkeiten, etwas dafür zu tun, die Demokratiegeschichte stärker in unserer Erinnerungskultur zu verankern.

Dieses Schloss war einst die Sommerresidenz eines preußischen Prinzen, und das prägte lange Zeit seine Innenausstattung. Heute ist dieses Haus der Amtssitz des Präsidenten einer Republik, die fest in freiheitlichen Traditionen wurzelt, und deshalb kann es hier nicht nur Gemälde von preußischen Königen und Prinzen geben. Am 9. November letzten Jahres haben wir – hier gleich nebenan – den neuen Robert-Blum-Saal eingerichtet. Er versammelt Kunstwerke, die einen Ausschnitt der deutschen Demokratiegeschichte sichtbar machen: die deutschen Jakobiner zur Zeit der französischen Revolution, den Vormärz mit dem Hambacher Fest, die Nationalversammlung der Paulskirche und die Verfassungskämpfe des Jahres 1849. Benannt nach Robert Blum, erinnern wir mit diesem Saal an Ereignisse und Persönlichkeiten, die Wegbereiter der Demokratie in Deutschland waren.

Wegbereiter der deutschen Demokratie – so heißt auch ein neues Buch, das Ende des Monats erscheinen wird und das dreißig mutige Frauen und Männer porträtiert, von der Französischen Revolution bis zur Durchsetzung der Demokratie in Deutschland im Jahr 1918. Von Georg Forster bis zu Hugo Preuß, mit Revolutionären wie Robert Blum und Friedrich Hecker, Frauenrechtlerinnen wie Louise Otto-Peters und Hedwig Dohm, leidenschaftlichen Parlamentariern wie Ludwig Windthorst und Eugen Richter, Vorkämpfern der Arbeiterbewegung wie August Bebel und einer Gewerkschaftspionierin wie Emma Ihrer, um nur einige zu nennen.

Ich freue mich sehr, dass ich für diesen Band, den ich herausgeben darf, viele renommierte Autorinnen und Autoren gewinnen konnte. Einige von ihnen sind heute unter uns, und Ihnen allen gilt mein großer Dank. Dieses Buch wird hoffentlich eine gute Ergänzung zu einem wichtigen Projekt Ihrer Arbeitsgemeinschaft sein, denn es ist wichtig, dass die Protagonistinnen und Protagonisten unserer Demokratiegeschichte endlich im kollektiven Gedächtnis unseres Landes den Platz erhalten, der ihnen gebührt.

Demokratie ist kein Zustand, sondern ein ständiger Prozess. Demokratiegeschichte kann daher nicht nur den Weg zur Demokratie ausleuchten, sondern muss auch die Demokratie und deren Weiterentwicklung selbst thematisieren. Demokratiegeschichte ist auch nicht nur die Geschichte der Parlamente und Verfassungen, von Staatsmännern und -frauen. Demokratiegeschichte ist auch Geschichte von unten, von Menschen mit neuen Ideen und mit dem Mut und der Leidenschaft, für diese Ideen zu streiten. Deshalb ist es richtig, dass sich Ihre Jahrestagung mit den Entwicklungsperspektiven der Demokratiegeschichte befasst und dabei die Frauenbewegung und andere neue soziale Bewegungen in den Blick genommen hat.

Unsere Erinnerungskultur wird von Jahrestagen und Jubiläen geprägt; das gilt auch für die Demokratiegeschichte. In den nächsten Jahren werden daher auch 500 Jahre Bauernkrieg, 175 Jahre 48er-Revolution und Paulskirche sowie 75 Jahre Parlamentarischer Rat und Grundgesetz auf der Agenda stehen.

Diese herausragenden Ereignisse haben sich oft auch im Lokalen niedergeschlagen, durch parallele Entwicklungen vor Ort und das Engagement von Männern und Frauen aus der Region. Die Erinnerung an sie zu pflegen und zu Unrecht Vergessenes und Vergessene wieder aufzuspüren und publik zu machen, das bleibt eine große Aufgabe für Viele: für Politik und Kommunen, für Schulen und politische Bildung, für Wissenschaft und Museen, für Heimatvereine und Archive, für Ehrenamtliche und Profis.

Sie alle und die Institutionen, die Sie vertreten, werden mithelfen, unsere demokratische Erinnerungskultur weiter zu entfalten und zu stärken. Das ist wichtig und auch nötig, denn noch manches ist zu tun.

Erst wenn man bei Preußen auch an Otto Braun denkt und nicht nur an Friedrich II.; wenn mehr Menschen wissen, was der Fischbacher Aufstand im Jahr 1789 war; wenn wir nicht nur in den Erhalt und den Wiederaufbau von Schlössern investieren, sondern auch in die Erinnerung an jene, die dafür kämpften, die feudale Ordnung zu überwinden; wenn die ersten Frauen in Gesellschaft und Politik überall Thema lokaler Geschichtsarbeit sind; wenn Ländchen wie Reuß oder Schaumburg-Lippe nicht nur als Duodezfürstentümer erinnert werden, sondern auch als Freistaaten und lokale Demokratien; wenn wir diejenigen würdigen, die als erste gegen Rassismus und Kolonialismus und für die Gleichheit aller Menschen eingetreten sind; wenn es gelingt, des 9. Novembers in seiner ganzen Ambivalenz zu gedenken; wenn die Bürgerrechts-, Friedens- und Umweltbewegung in der einstigen DDR und deren Protagonisten endlich einen herausgehobenen Ort der Erinnerung bekommen – erst dann ist die Geschichte unserer Demokratie und deren Protagonisten ein selbstverständlicher Teil unserer Gedenkkultur und der republikanischen Tradition geworden.

Bis dahin ist noch viel zu tun. Manches ist schon erreicht, aber die Arbeit muss weitergehen. Deshalb ist Ihr aller Engagement so wichtig für unser Land. Und auf meine Unterstützung dabei können Sie auch in Zukunft zählen.

Und jetzt lade ich Sie alle zu einem Empfang ein. Seien Sie meine Gäste und fühlen Sie sich wohl an diesem Ort der deutschen Demokratiegeschichte.