Entlassung der Bundeskanzlerin und der Mitglieder der Bundesregierung

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 26. Oktober 2021

Der Bundespräsident hat am 26. Oktober bei der Entlassung der Bundeskanzlerin und der Mitglieder der Bundesregierung eine Rede in Schloss Bellevue gehalten: "Wir haben in den vergangenen Monaten erleben können, dass die Demokratie in unserem Land an Prüfungen gewachsen ist, weil ihre Vertreter verantwortungsvoll und als Demokraten handelten. Die demokratischen Kräfte in Regierung und Parlament haben Sorge dafür getragen, dass Polarisierung und Provokation sich nicht durchsetzen konnten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache im Großen Saal in Schloss Bellevue vor der Entlassung der Bundeskanzlerin und der Mitglieder der Bundesregierung

Die Entlassung der Bundesregierung aus dem Amt ist ein formeller Akt. Deshalb hören einige von Ihnen heute einen Satz, den Sie vor vier Jahren fast wortgleich schon einmal gehört haben: Mit der Konstituierung des neuen, 20. Deutschen Bundestages endet nach Artikel 69 Absatz 2 des Grundgesetzes Ihr Amt.

Doch viel mehr als diese nüchterne Formel haben beide Anlässe kaum gemein. Viel, sehr viel hat sich in den vergangenen vier Jahren ereignet. Zu sagen, die vergangene Legislatur sei herausfordernd gewesen, trifft die Aufgaben, die es zu bewältigen galt, nicht einmal annähernd. Die Pandemie hat die Welt aus den Angeln gehoben. Sie hat Ihnen, sie hat dem ganzen Land Enormes abverlangt.

Als Bundeskanzlerin, als Ministerinnen und Minister dieser Regierung haben Sie Verantwortung getragen für unser Land, mit aller Kraft und Ernsthaftigkeit, die diese Situation Ihnen abforderte. Sie haben sich dieser Aufgabe gemeinsam gestellt, zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik in einer sogenannten Großen Koalition.

Große Aufgaben verlangen große Allianzen. Die Demokratie aber erfordert ebenso den Respekt vor demokratischer Opposition und den stetigen Ausgleich von Interessen. Die Balance zu halten, das ist die Antriebsfeder, wenn man so will, die Unruh im Uhrwerk der Demokratie.

Es ist der wichtigste und zugleich schwierigste Teil des Regierungshandelns. Und dass er gelingt, ist selbst in weniger herausfordernden, weniger aufgeregten Zeiten keine Selbstverständlichkeit. In diesen Zeiten war der Ausgleich besonders – manchmal beinahe zum Zerreißen – schwer. Denn wir erinnern uns: Von Anfang an standen diese Jahre unter dem Eindruck wachsender Polarisierung in der Gesellschaft samt Verrohung der Sprache, im Netz wie auf den Straßen. Diese Jahre standen auch im Zeichen internationaler Spannungen: dem schwierigen Prozess des Brexits in Europa, und – in den ersten Jahren Ihrer Amtszeit – einer amerikanischen Regierung, der an internationaler Ordnung und transatlantischer Partnerschaft wenig bis nichts gelegen war.

Und wir erinnern uns auch daran: Schon der Beginn dieser Koalition war alles andere als einfach, und gerade am Anfang war sie – nach schwierigen Monaten der Regierungsbildung – immer wieder Fliehkräften und harscher Kritik ausgesetzt. Aber am Ende galt ein gemeinsames Prinzip: Sie wollten die Verantwortung, um die Sie sich demokratisch beworben hatten, auch wahrnehmen. Das haben Sie getan und dafür gebühren Ihnen Respekt und Dank.

Wir haben in den vergangenen Monaten erleben können, dass die Demokratie in unserem Land an Prüfungen gewachsen ist, weil ihre Vertreter verantwortungsvoll und als Demokraten handelten. Die demokratischen Kräfte in Regierung und Parlament haben Sorge dafür getragen, dass Polarisierung und Provokation sich nicht durchsetzen konnten. Diese gemeinsame Anstrengung war erfolgreich. Und das ist ein Erfolg nicht nur für Sie, sondern für die Demokratie insgesamt.

Dies ist eine Legislaturperiode, die – gewiss auch in der Erinnerung künftiger Generationen – von der Pandemie geprägt und gezeichnet sein wird. Aber zum politischen Gelingen dieser Legislatur hat auch vieles andere beigetragen, nicht zuletzt die Umsetzung Ihrer politischen Vorhaben jenseits der Krisenbekämpfung. Rund 600 Gesetze sind in Ihrer Regierungszeit verabschiedet worden und damit viele konkrete Verbesserungen in der Gesellschaft erreicht worden: für pflegende Angehörige zum Beispiel, für Familien und Alleinerziehende, für den Schutz von Mieterinnen und Mietern oder die Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung, für den Ausbau der Kinderbetreuung oder die Zuwanderung von Fachkräften, die wir dringend brauchen. Und gerade mit Blick auf die Demokratie ist mir eines wichtig: Sie haben den Spaltungstendenzen in der Gesellschaft, der Verrohung und dem Hass nicht nur guten Willen entgegengesetzt, sondern konkrete Politik: Ich denke an die Stärkung der Demokratieförderung und des Kinderschutzes, an die Verschärfung des Waffengesetzes, höhere Entschädigungen für Opfer von Gewalttaten; und ich denke an die Gesetzespakete gegen Hass und Hetze im Internet.

Dass mit dem Corona-Wiederaufbaufonds und der – oftmals kritisierten – europäischen Beschaffung von Impfstoffen der Zusammenhalt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene erhalten blieb, will ich heute besonders hervorheben. Für Europa war und ist die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Konsequenzen nicht nur eine Frage der Glaubwürdigkeit, sondern der Existenz – und ich glaube: Ohne diese Entscheidungen hätte Europa zerbrechen können. Dafür bin ich dankbar, auch wenn wir alle wissen: Der innere Zusammenhalt Europas bleibt fragil, und der Abbau von Spannungen, der Interessenausgleich in Europa bleiben zentrale Aufgaben auch jeder neuen Bundesregierung.

Was die heutige formelle Entlassung der Bundesregierung mehr als alles andere von vorangegangenen abhebt, ist das Ende einer Kanzlerschaft, die man zu den großen in der Geschichte dieser Republik zählen kann.

Für Sie, verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela Merkel, enden sechzehn Jahre Regierungszeit. Auch wenn das, wie wir wissen, keine beispiellos lange Amtszeit war, so waren diese Jahre doch beispielgebend! Und wenn, wie mir glaubwürdig berichtet wurde, heute ein elfjähriges Kind fragt, ob denn auch ein Mann Kanzlerin werden könne, dann zeugt das von einer neuen Selbstverständlichkeit, die es vor der ersten Frau im Kanzleramt nicht gab, und natürlich auch von dem großen Respekt, den Sie sich in unserem Land und in der Welt erworben haben.

Wer erleben will, was diesen Respekt begründete, sollte sich ein Interview ansehen, das Günter Gaus 1991, lange vor Ihrer ersten Amtszeit als Kanzlerin, mit Ihnen geführt hat. Es ließ mich, als ich es wiedersah, an Ihre sehr persönliche Rede zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit denken.

Anlass des Interviews war Ihre Nominierung zur stellvertretenden Parteivorsitzenden der CDU als Nachfolgerin Lothar de Maizières. Günter Gaus war offenkundig irritiert von der Rasanz dieses politischen Aufstiegs einer noch nahezu Unbekannten an die Parteispitze der Union. Er fragte Sie, ob es Ihnen nicht auch ein wenig zu schnell ginge und ob Sie nicht fürchteten, mehr Objekt als Subjekt der eigenen Geschichte zu sein.

Ach wissen Sie, meine inneren Mechanismen sind ganz intakt, antworteten Sie mit feinem, leicht verschmitztem Lächeln auf diese fast ein wenig unwirsch gestellte Frage. Wir sehen in diesem Interview eine junge Politikerin, die sehr konzentriert und überzeugend ein ostdeutsches Selbstbewusstsein vertritt, das mit westdeutscher Selbstgewissheit eben nicht zu verwechseln ist. Eine Ostdeutsche, die weiß, dass ihre Lebensgeschichte sie zu eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen geführt hatte, die – nach dem Ende der DDR – nicht einfach ein entwerteter Fahrschein in den Westen waren. Und die überzeugt davon ist, dass diese Erfahrung in der Parteiführung der CDU, wie in der bundesdeutschen Politik insgesamt, ihren Platz finden müsse, wenn die Einheit gelingen sollte. Und, Frau Bundeskanzlerin: Sie sollten Recht behalten!

Man kann aus diesem dreißig Jahre alten Gespräch viel lernen. Wer es noch einmal sieht, sieht schon dort eine Frau, die prägend sein sollte: prägend für unser wiedervereintes Land und für das Bild unseres Landes in der Welt; prägend für eine ganze Generation junger Frauen und Männer, denen sie eine neue, ganz eigene Form der Führung vorgelebt hat.

Frau Bundeskanzlerin, wir haben Ihnen für sechzehn Jahre zu danken, in denen Sie unser Land durch eine Zeit geführt haben, die nicht eben arm an Krisen und Verwerfungen war. Es waren Jahre großer Krisen: der Finanz- und Wirtschaftskrise zu Beginn Ihrer Regierungszeit, der Eurokrise in Ihrer zweiten, und der großen humanitären Flucht- und Migrationskrise in Ihrer dritten Amtszeit, und schließlich der Corona-Krise. Jahre, in denen Sie unserem Land Achtung, Respekt und sogar Zuneigung erworben haben – in Europa und der Welt.

Vor allem aber haben Sie das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gewonnen. Das ist keine leichte Aufgabe in einem Land, das erst wieder lernen musste, sich selbst zu trauen.

Ihre Entscheidungen haben Sicherheit vermittelt und Verbindlichkeit, mitunter auch überrascht. Es war Ihr Mut, in der Zeit, in der Flüchtlinge aus Syrien bei uns Schutz suchten, Verantwortung zu tragen, nicht nur für das eigene Land, sondern für Europa, und es war Ihre Fähigkeit, das eigene Selbstvertrauen in Zutrauen zu verwandeln, die überzeugt haben. Fähigkeiten, die Sie auszeichnen, und die schätzen lernte, wer den von Ihnen geführten Kabinetten angehörte. Für diese Zeit vertrauensvoller Zusammenarbeit in unterschiedlichen Positionen will ich Ihnen, das sei mir erlaubt, auch persönlich Dank sagen.

Wer Ihnen diese großen Verdienste um unser Land danken will, sollte diese, sollte Ihre Perspektive auf die Lage und die Aufgabe Deutschlands in der Welt nicht aus dem Blick verlieren: die Rolle der Mittlerin in der Mitte Europas. Ich bin sicher, dass diese Rolle, diese Stimme, die Sie haben, auch in Zukunft wichtig bleiben wird für Europa.

Ich danke Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und Ihnen, meine Damen und Herren Ministerinnen und Minister, für die verantwortungsvolle Regierungsarbeit der vergangenen Jahre. Ganz unabhängig davon, wo Sie Ihre politische Zukunft in den kommenden Jahren sehen, welche Möglichkeiten sich für Sie ergeben: Ich will Ihnen meinen besonderen Respekt für Ihre Arbeit ausdrücken, für Ihren Dienst an der Demokratie.

Dass unsere Demokratie immer auch vom Wechsel der Generationen lebt, wissen wir. Aber es zu wissen, bedeutet nicht, dass das Abschiednehmen leichtfällt. Natürlich nicht! Aber die meisten von Ihnen blicken auf eine längere politische Biographie zurück. Und in dieser haben Sie in ganz unterschiedlichen Aufgaben, Funktionen und Ämtern Verantwortung getragen; zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Konstellationen; mal in Partnerschaft, mal Gegnerschaft, mal mit mehr öffentlicher Zustimmung, mal mit weniger. Aber, ich weiß, weil ich die meisten von Ihnen lange kenne: immer im Dienste unseres Landes.

Im Namen unseres Volkes danke ich Ihnen und wünsche Ihnen für die Zukunft alles erdenklich Gute.

Bereits heute früh habe ich Sie, Frau Bundeskanzlerin, gemäß Artikel 69 Absatz 3 des Grundgesetzes ersucht, die Geschäfte bis zur Ernennung einer neuen Bundesregierung weiterzuführen. Hierfür wünsche ich Ihnen allen weiterhin eine glückliche Hand.