Zentrale Gedenkstunde zum Volkstrauertag

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 14. November 2021

Der Bundespräsident hat am 14. November die Gedenkrede bei der zentralen Gedenkstunde zum Volkstrauertag im Deutschen Bundestag gehalten: "Geschichte […] ist immer auch Familiengeschichte. Mit der Rückfrage nachfolgender Generationen, 'was hat das mit mir zu tun?', sollten wir nicht nur rechnen. Wir müssen sie beantworten können! Wir verstehen, wer wir sind und was uns bewegt, nur, wenn wir wissen, wer und was uns vorausgegangen ist."

Bundespräsident Steinmeier hält eine Gedenkrede bei der zentralen Gedenkstunde zum Volkstrauertag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. im Deutschen Bundestag

Dieser Tag ist ein Tag der Trauer. Wir trauern um die Opfer von Gewalt und Krieg überall auf der Welt, um Frauen, Männer und Kinder, die ihr Leben verloren haben oder deren Leben der Krieg überschattet hat.

Wenn wir von Trauer sprechen, dann sprechen wir immer auch von dem, was der Trauer vorausgeht, vorausgehen muss: die Erinnerung. Dass wir uns erinnern, an Menschen, an ihre Namen, an Orte und an Ereignisse.

Und was wir hier und heute tun, nämlich als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes der Toten zu gedenken, setzt noch mehr voraus: ein gemeinsames Gedächtnis zum Beispiel, einen Raum für Erinnerungen, die wir teilen, in Deutschland, in Europa; Namen, Orte und Ereignisse, die in ein solches gemeinsames Gedächtnis eingeschrieben sind.

Als wir in diesem Jahr an den 80. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion erinnerten, mussten viele von uns sich eingestehen, dass die Orte, die auf dem Vormarsch der deutschen Wehrmacht durch Polen, das Baltikum und Belarus, durch die Ukraine nach Russland und tief in den Kaukasus lagen, – dass ihnen diese Orte nichts sagten.

Dasselbe gilt für viele Orte deutscher Verbrechen im früheren Jugoslawien und Griechenland, die ebenfalls vor 80 Jahren überfallen wurden. Die meisten von uns kennen auch diese Orte nicht. Wir verbinden kein Geschehen mit ihnen, noch weniger verbinden wir sie mit unserer eigenen, der deutschen Geschichte.

Es ist – zum Glück – anders mit der Erinnerung in Mittel- und Westeuropa. Doch auch diese Orte mussten erst zurückgeholt werden in das deutsche Gedächtnis, oftmals gegen Widerstände und mit Jahren, ja Jahrzehnten Verzögerung: Oradour in Frankreich, die Ardeatinischen Höhlen in Italien, Lidice in Tschechien. Sie sind Teil eines gemeinsamen Gedächtnisses geworden, Teil der deutschen und Teil der gemeinsamen europäischen Erinnerung. Es sind Orte, an die wir denken, an einem Tag wie diesem.

Unser Gedächtnis aber scheut, wenn es Auskunft über Krieg und Verbrechen im Osten und Südosten Europas geben soll.

Es versagt vor den Verbrechen an Zivilisten, Zwangsarbeitern und sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen schon in den ersten Monaten nach dem Überfall Hunderttausende ums Leben kamen: verhungert, erschlagen, erschossen.

Es versagt vor den ungezählten Massenverbrechen unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung im damaligen Jugoslawien, in Griechenland und auf Kreta, vor zehntausenden Zivilisten, die deutschen Erschießungskommandos zum Opfer fielen.

Unser Gedächtnis weiß wenig, oft nichts, über Orte wie Malyj Trostenez bei Minsk, wo zwischen 1942 und 1944 zehntausende jüdische Familien ermordet wurden. Ein Name, Auschwitz, ist zum Inbegriff des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden geworden. Doch über eine Karte, die die zahllosen anderen Orte deutscher Verbrechen, jenseits der Vernichtungslager, in Belarus, in der Ukraine, in Russland und andernorts im Osten Europas verzeichnet, über eine solche Karte verfügt unser Gedächtnis nicht. Und es sollte sie doch kennen, denn hier fände es die Massengräber polnischer, belarusischer, ukrainischer und russischer Jüdinnen und Juden, erschossen im sogenannten Holocaust durch Kugeln, namenlos verscharrt, verschwunden unter stummer Erde.

Ich bin dankbar, dass es möglich war, Malyj Trostenez, diesen Ort in der Nähe von Minsk zu besuchen, und dort als Deutscher gemeinsam mit Nachfahren und Hinterbliebenen zu gedenken. Oder in Paneriai, wo SD, SS und die deutsche Wehrmacht Wilna, das Jerusalem des Nordens, vernichteten. Bis Juli 1944 wurden dort 70.000 Menschen getötet, die meisten von ihnen Juden, aber auch Polen, sowjetische Kriegsgefangene, Roma und litauische Zivilisten. Oder dass wir – vor wenigen Wochen erst – in dem ukrainischen Ort Korjukiwka waren, wo deutsche Truppen innerhalb von zwei Tagen fast 7.000 Männer, Frauen und Kinder auf unvorstellbar brutale Art und Weise ermordeten – und wir, die deutschen Gäste, heute dennoch mit Offenheit, ja mit Herzlichkeit, sogar dem Wunsch nach einer Städtepartnerschaft mit einer deutschen Gemeinde empfangen wurden.

Zahllose andere Orte deutscher Verbrechen aber sind vergessen, wie das belarusische Dörfchen Chatyn, das im Frühjahr 1943 dem Erdboden gleichgemacht wurde – oder das Städtchen Mizocz im Westen der Ukraine, vor dessen Toren die gesamte jüdische Bevölkerung erschossen wurde, an einem einzigen Tag im Oktober 1942.

Die Namen dieser Orte zu kennen, macht einen Unterschied – für unser Selbstverständnis als Nation ebenso wie für ein gemeinsames Verständnis als Europäer auf diesem Kontinent.

Doch: Wenn wir uns erinnern wollen, müssen wir auch wissen, was diese Orte mit der Gegenwart verbindet. Denn ich bin überzeugt: Wenn wir verstehen, dass und wie diese Vergangenheit unsere Gegenwart prägt, dann werden wir uns auch für die verdrängten Kapitel der Geschichte stärker interessieren. Wir werden begreifen, was der israelische Historiker Omer Bartov so beeindruckend gut erklärt: dass wir alle Glieder einer zerbrechlichen und doch erstaunlich haltbaren Kette von Generationen, Schicksalen und Kämpfen sind, in der sich die historischen Ereignisse unablässig entfalten.

Wer wir sind und woran wir uns erinnern, verdanken wir einem komplexen Zusammenspiel: unserer Herkunft, den Orten und Ereignissen unserer Biographie und dem menschlichen Handeln – dem eigenen und dem unserer Vorfahren.

Geschichte, so verstanden, ist immer auch Familiengeschichte. Mit der Rückfrage nachfolgender Generationen, was hat das mit mir zu tun?, sollten wir nicht nur rechnen. Wir müssen sie beantworten können! Wir verstehen, wer wir sind und was uns bewegt, nur, wenn wir wissen, wer und was uns vorausgegangen ist.

Ich dachte daran zuletzt, als wir die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr für ihren Einsatz in Afghanistan geehrt haben. Denn diese wichtige Ehrung, sie sagte viel aus, nicht nur über die Tapferkeit der Soldatinnen und Soldaten, sondern auch über die Gesellschaft, die ihnen solche Ehrung und Wertschätzung schuldig ist.

Die Erfahrung zweier Weltkriege, Schuld und Scham prägen das Verhältnis zwischen deutscher Gesellschaft und deutscher Armee bis in unsere Gegenwart. Unsere Bundeswehr heute ist eine Parlamentsarmee. Sie steht, unverrückbar, auf dem Boden der demokratischen Verfassung. Wir, und unsere Demokratie, verlassen uns auf sie. Wir legen unsere Sicherheit, unsere Verantwortung gegenüber der Welt und unseren Verbündeten auch in die Hände unserer Soldatinnen und Soldaten. Wir sprechen von ihnen als Staatsbürger in Uniform. Aber wenn wir sie als Soldaten ehren wollen, wie kürzlich vor dem Reichstag in Berlin, dann sähen viele Bürgerinnen und Bürger sie wohl am Ende lieber in Zivil und ohne Fackel in der Hand.

Viele Deutsche empfinden Unbehagen vor militärischen Ritualen. Sie wollen nicht daran erinnert werden, was der Einsatz einer Armee, auch der Bundeswehr, bedeutet. Tod und Trauma, deutsche Soldaten im bewaffneten Einsatz, in fremden Ländern – das verdrängen wir Deutsche gern. Darüber sprechen wir viel zu selten und wenn, dann eher widerwillig.

Für ein Land, dessen Name mit dem unendlichen Leid verbunden bleibt, das zwei Weltkriege über Europa gebracht haben, dessen damalige Armee sich eines mörderischen Angriffskrieges schuldig gemacht hat, mag manches Unbehagen verständlich sein. Aber: Das macht es denen, die ihr Leben riskieren für unser Land, den Veteraninnen und Veteranen der Auslandseinsätze, erst recht den Familien der Gefallenen, wahrlich nicht leicht.

Denn ihr Trauma, ihr Verlust, ihre Angst, Schmerz oder Scham verschwinden nicht – verschwinden nicht, nur weil viele andere die Augen davor verschließen. Im Gegenteil. Was wir als Gesellschaft verdrängen und verschweigen, woran wir nicht erinnert werden wollen, bleiben wir als Gesellschaft schuldig: den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, den Versehrten, den Gefallenen und ihren Familien.

Die Verantwortung vor unserer Geschichte ist Friedensverantwortung. Sie anzunehmen, darf nicht bedeuten, die Auseinandersetzung mit den Konflikten unserer Gegenwart zu scheuen und mit denen, die darin schwere und schwerste Verantwortung tragen. Auch deshalb ist dieser Tag, der Volkstrauertag, ein wichtiger Tag. Wir müssen Sprachlosigkeit überwinden – auch die Sprachlosigkeit vieler Teile der Gesellschaft gegenüber unserer Armee. Auch das ist Auftrag an einem Tag wie dem heutigen.

Trauern – und darum geht es im Kern am heutigen Tag – Trauern wird erst möglich, wenn wir uns der Erinnerung stellen, auch der schmerzhaften. Deshalb ist Erinnerung kein Selbstzweck und keine Bußübung. Wir erinnern uns um der Gegenwart und um der Zukunft willen.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat viele Jahrzehnte für die Erinnerung gearbeitet, indem er Orte gepflegt und geschaffen hat, an denen die Kriegsgegner von einst gemeinsam ihrer Toten gedenken können. Ich werde beispielsweise das gemeinsame Gedenken mit Präsident Macron auf dem eisigen Hartmannsweilerkopf, jenem Menschenfresser im Ersten Weltkrieg, nicht vergessen. Gedenkorte wie dieser schaffen nicht nur Raum zur Trauer, sondern auch zur Versöhnung.

Denn die Trauer verbindet Generationen in Europa und über die Grenzen unseres Kontinents hinaus – seit Jahrzehnten.

Meine Generation ist aufgewachsen im Schatten des Zweiten Weltkrieges. Unsere Eltern waren Kinder dieses letzten, alles überschattenden Krieges. Ihre hilflose, oft sprachlose Kindertrauer um Väter, Mütter und Brüder, um alle, die unabhängig davon, ob sie überlebt hatten oder nicht, von diesem Krieg gezeichnet blieben, hat auch uns geprägt. Sie hat uns geprägt, meine Generation – und ebenso unsere Nachbarn auf diesem Kontinent, im Westen Europas, wie in Polen und in den baltischen Staaten, in Russland, Belarus und der Ukraine, im früheren Jugoslawien und in Griechenland.

Viele Zeitzeugen aus unserer Elterngeneration sind heute hier unter uns, mindestens an den Bildschirmen. Ihr Leben, ihre Biographien waren nicht mehr zu trennen vom Schrecken ihrer Kindheit, dem Schrecken des Krieges, als seien sie gezwungen, immerfort am Ufer dieses einen Flusses entlangzugehen, ohne ihn je überqueren zu können.

Es erfüllt mich mit großem Schmerz, zu wissen, dass es heute in Europa wieder Kinder gibt, denen dieses Schicksal nicht erspart blieb. Kinder wie Oleg, von dessen Leben als Kriegskind in der Ostukraine ein Film des dänischen Regisseurs Simon Lereng Wilmont erzählt, der jüngst im Ersten Deutschen Fernsehen zu sehen war.

Ich möchte meine Rede mit Zeilen aus einem Gedicht von Julia Drunina beenden, einer russischen Lyrikerin, die siebzehn war, als die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, und 67, als sie sich 1991 desillusioniert das Leben nahm, weil keine lichte Zukunft auf das Dunkel der Vergangenheit folgen wollte. Sie war ein Kriegskind.

Nicht aus der Kindheit, aus dem Krieg stamm ich.
Und teurer scheint mir wohl aus diesem Grunde
Als dir die Stille und mehr wesentlich
Ein jeder neuer Tag und jede Stunde.
[…]
Nicht aus der Kindheit, aus dem Krieg stamm ich.
Und bin von dünner Haut bis an mein Ende.