175 Jahre Carl Zeiss, das ist weit mehr als nur ein Firmenjubiläum. In Ihrem Unternehmen, das 1846 als kleine optische Werkstatt in Jena seinen Anfang nahm, spiegelt sich wie in kaum einem anderen die wechselvolle Geschichte unseres Landes. Ich freue mich, Ihnen heute auf diesem Weg zum Geburtstag Ihres besonderen Unternehmens gratulieren zu können. Ihnen allen, den Zeissianern aus Jena, aus Oberkochen, aus vielen anderen Orten in Deutschland, Europa und der Welt: Ihnen allen meinen herzlichen Glückwunsch hier aus Bellevue in Berlin.
Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war es das Zusammenspiel von Unternehmergeist, Forschermut und Erfindungsgabe, das die Firma Carl Zeiss zu einer Vorreiterin der industriellen Moderne machte. Der Mechaniker Carl Zeiss, der Physiker Ernst Abbe und der Glasunternehmer Erich Schott schufen gemeinsam neue optische Geräte, die in der Fabrik produziert und in viele Länder verkauft wurden. Mikroskope, Fotoobjektive, Ferngläser, Messgeräte und Brillengläser begründeten damals den Weltruf des Unternehmens.
Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse innovative Produkte entwickeln, das war und das ist die Erfolgsformel der Firma Zeiss. Die Stiftung, in die Ernst Abbe das Unternehmen 1889 mit großem Weitblick überführte, sollte deshalb vor allem Forschung und Lehre fördern – und ich bin dankbar, dass sie es bis heute tut, vor allem auf den Feldern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Ich bin überzeugt: Wenn wir das Ziel der Klimaneutralität erreichen wollen, wenn wir Arbeitsplätze und Wohlstand in Zukunft sichern wollen, dann brauchen wir noch mehr Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft.
Ernst Abbe, der liberale Visionär, steht auch für ein Unternehmertum, das sich an ethischen Prinzipien orientiert. Die Zeiss-Stiftung sollte unternehmerische Verantwortung institutionalisieren und in die Tat umsetzen – Verantwortung für das Gemeinwohl.
Für das Gemeinwohl indem sie soziale und kulturelle Einrichtungen förderte und so die Lebensbedingungen in Jena verbesserte; Verantwortung für die Mitarbeiter, indem sie Kündigungsschutz, Pensionsansprüche, sogar ein Diskriminierungsverbot festschrieb und so einen Vorläufer des modernen Arbeitsrechts schuf.
Ernst Abbes Einsicht, dass wirtschaftlicher Erfolg, wissenschaftlicher Fortschritt und gesellschaftlicher Zusammenhalt einander bedingen, diese Einsicht sollten wir auch heute beherzigen. Wenn wir uns gemeinsam auf den Weg in eine bessere Zukunft machen wollen, wenn wir Klimaschutz, Digitalisierung und Globalisierung zusammen gestalten wollen, dann brauchen wir Demokratie und soziale Marktwirtschaft, dann brauchen wir politische und unternehmerische Verantwortung, um Gewinne und Verluste, Chancen und Risiken gerecht zu verteilen.
Wir wissen: Die Firma Zeiss ist ihren Werten und Prinzipien in ihrer Geschichte nicht immer gerecht geworden. Während des Nationalsozialismus gehörte sie auch zu den Profiteuren des verbrecherischen Krieges, mit dem Deutsche die Welt überzogen. Tausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter mussten in Zeiss-Werken Rüstungstechnik herstellen; jüdische, sozialdemokratische, kommunistische Mitarbeiter wurden entlassen. Es ist gut, dass Sie sich bei Zeiss diesem Kapitel Ihrer Geschichte gestellt haben. Und es bleibt wichtig, dass wir die Erinnerung an die Rolle der Wirtschaft im Nationalsozialismus wachhalten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Zeiss zum Inbegriff der Teilung unseres Landes und des Kalten Krieges. Die Amerikaner, die Thüringen befreit hatten, nahmen Manager und Fachkräfte aus Jena mit in den Westen, wo sie in Oberkochen ein neues Werk aufbauten. In der DDR wurde das Werk in Jena als Volkseigener Betrieb
in die Staatsindustrie eingefügt. Jahrelang stritten beide Seiten vor Gericht um Namen und Markenzeichen, das Verhältnis war von Konkurrenz, von Vorurteilen und Sprachlosigkeit bestimmt.
Die Annäherung von Zeiss Ost und Zeiss West, die nach der Wiedervereinigung begann, war getragen von dem Wunsch, endlich zusammenzubringen, was zusammengehörte. Dass die Zusammenführung schwierig und schmerzhaft war, dass das Unternehmen umstrukturiert und viele Beschäftigte entlassen werden mussten, dass die großen Hoffnungen vieler Menschen im Osten enttäuscht wurden – auch das gehört zu unserer gemeinsamen Geschichte.
Es gehört aber auch zu dieser Geschichte, dass Carl Zeiss nach der Umstrukturierung stärker ist als je zuvor und zwar im Osten wie im Westen. Wir feiern heute ein globales Technologieunternehmen mit mehr als 30.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, das sich durch große Innovationskraft auszeichnet. Erst letztes Jahr durfte ich eines Ihrer Teams mit dem Deutschen Zukunftspreis auszeichnen.
Wegen seiner historischen Wurzeln und seines bedeutenden Hightech-Betriebs in Jena steht Carl Zeiss auch für den Spitzenplatz der ostdeutschen Industrie, die in vielen Bereichen weltweit wieder ganz vorne mitspielt. Im Sommer war ich unterwegs in Zwickau, Leuna, Dresden und Schwarzheide, um mir einige der vielen innovativen Industriestandorte in Ostdeutschland anzuschauen. Ostdeutsche Unternehmen sind heute Vorreiter des Wandels, Vorreiter für eine Industrie mit Zukunft. Sie schaffen hervorragende Perspektiven für die Menschen in der Region, und sie stärken den Wirtschaftsstandort Europa.
Carl Zeiss, das ist heute eine gute Mischung aus Jenensern, Schwaben und Menschen aus aller Welt. Was Ihre internationale Patchwork-Familie zusammenhält, ist ein besonderes Wir-Gefühl, gespeist aus der langen Firmentradition. Ein Unternehmen wie Carl Zeiss ist nicht einfach nur ein anonymer Global Player, es ist ein Stück Heimat, gerade in Zeiten des Wandels. Auch das verpflichtet zu verantwortungsvollem Management. Ich wünsche mir, dass Sie sich auch in Zukunft von den Prinzipien Ernst Abbes leiten lassen. Und ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Ideen und ihre Tatkraft! Sie sind es, die Ihr Unternehmen immer wieder voranbringen!
Sie alle bei Zeiss stiften Zuversicht, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit nicht erdulden müssen, sondern dass wir sie gestalten können, dank Forschung, Entwicklung und engagiertem Unternehmertum. Ich wünsche unserem Land, dass Sie auch in den kommenden Jahren unseren Blick dafür schärfen, was alles möglich ist auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Ich wünsche Ihrer Firma, ich wünsche Ihnen allen weiterhin gute Aussichten und viel Erfolg!
Ganz herzlichen Dank.