Festveranstaltung "60 Jahre Bergedorfer Gesprächskreis"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 22. November 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 22. November bei einer Festveranstaltung zum 60-jährigen Jubiläum des Bergedorfer Gesprächskreises der Körber-Stiftung in Berlin eine Rede gehalten: "Wir leben immer sichtbarer in einer Welt, in der kein einzelner Akteur, kein einziges Paradigma die Komplexität unserer Welt beherrschen oder dominieren kann. In dieser Welt ist Dialog keine Garantie – weder für Konsens, noch für Stabilität, noch für Frieden –, aber er ist die notwendige Voraussetzung dafür."

Bundespräsident Steinmeier hält eine Rede bei einer Festveranstaltung zum 60-jährigen Jubiläum des Bergedorfer Gesprächskreises der Körber-Stiftung

Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, hier heute sprechen zu können, Glückwünsche zu überbringen, und das – trotz des pandemiebedingt reduzierten und vorsichtigen Rahmens – persönlich und physisch tun zu können. Denn das Thema, der internationale Dialog, ist allem technischen Fortschritt zum Trotz etwas, das ohne die Begegnung von Menschen kaum, vielleicht gar nicht gelingen kann.

Es ist all denen, die sich mit der Außenpolitik und dem Zustand der Welt beschäftigen, ein Leichtes, überzeugend zu erklären, warum wir zur Bewältigung der Risiken und Herausforderungen unserer Zeit mehr Dialog und mehr internationale Zusammenarbeit brauchen. Aber es fällt uns nicht viel schwerer, zu diagnostizieren, dass die Wirklichkeit eine andere ist. Internationale Zusammenarbeit – oder global governance, wie sie gerne genannt wird – gelingt noch nicht allzu oft. In jedem Fall kann sie mit der objektiven Notwendigkeit von mehr gemeinsamem Handeln nicht Schritt halten. Mit anderen Worten: Die global governance-Lücke wächst und das schon seit geraumer Zeit.

Wenn ich noch etwas grundsätzlicher werden darf: Wir sind heute zwar weltweit so vernetzt wie nie zuvor, als Individuen, aber auch als Staaten – und Deutschland als Land in der Mitte Europas in besonderer Weise –, doch zugleich beobachten wir eine Fragmentierung nicht nur unserer Gesellschaften, sondern auch dessen, was eigentlich eine internationale Gemeinschaft sein müsste. Ob es um die Bekämpfung der Pandemie geht, einen weltweiten fairen Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten gegen Covid-19; ob es um den Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel geht, dessen nächste Meilensteine gerade in Glasgow verabredet wurden: Erfolgreiches kollektives Handeln muss nicht nur nationale Egoismen überwinden, es muss auch reale Interessenunterschiede ausgleichen, und es muss Machtrivalitäten umgehen, die guten sachlichen Lösungen entgegenstehen.

Wir beobachten doch seit Jahren, dass diese Machtrivalitäten wieder zunehmen. Wir beobachten das Heraufziehen einer neuen geopolitischen Konfrontation und einer zunehmend als Systemkonflikt verstandenen Konkurrenz. Manche sehen darin die Vorboten eines neuen kalten Krieges. Ich halte das für eine irreführende Analogie. Irreführend, weil sie die enge und engste Verflechtung vernachlässigt, die unsere globale Ökonomie heute kennzeichnet, über alle Systemgrenzen hinweg. Vor allem aber suggeriert sie eine Art Vergleichbarkeit, die das eigentlich Neue unserer Lage, die ungeheure Veränderung durch die digitale Revolution und die Entwicklung neuer Technologien und Waffensysteme, nicht angemessen berücksichtigt. Wie gehen wir damit um, so fragte Henry Kissinger bei unserem Gespräch in New York letzte Woche, wenn neue Waffensysteme intelligenter sind als die Menschen, die sie einsetzen?

Es sind diese neuen Mittel der Auseinandersetzung, für die es keine vertraglichen Beschränkungen gibt, keine verlässlichen Absprachen und Vereinbarungen. Das macht mir große Sorgen, wenn ich an die Zukunft von Frieden und Sicherheit denke. Das gilt auch für unseren eigenen Kontinent, Europa. Cyberattacken, die kaum oder nur mit großer Verzögerung zuzuordnen sind; Hackerangriffe, die die Grenzlinie zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zunehmend verwischen; der absehbare Einsatz künstlicher Intelligenz in immer mehr Systemen ziviler und militärischer Natur, für all das werden wir uns um ein Minimum an wechselseitigem Verständnis und auferlegter Zurückhaltung bemühen müssen, wenn wir den Frieden erhalten wollen.

Zugleich aber, und das beobachte ich mit nicht weniger Sorge, wird unsere Fähigkeit zum Dialog – verstanden als ernsthafte Anstrengung, im Gespräch mit anderen Akteuren oder Nationen trotz widerstreitender Interessen zu einer Verständigung zu kommen – nicht größer. Eher im Gegenteil: Zeit und Geduld, zwei der wichtigsten Bedingungen für einen erfolgreichen Dialog, sind ein knappes Gut geworden in unserer Zeit, die schnelle Resultate will, immer größtmögliche Transparenz verlangt und immer ein Auge auf die schwankende öffentliche Meinung gerichtet hat. Aber so, wie wir uns mit der Fragmentierung unserer eigenen Gesellschaften nicht abfinden können, sondern uns immer wieder von Neuem um Zusammenarbeit und Zusammenhalt bemühen müssen, so müssen wir uns auch international immer wieder um Brücken und um Dialog bemühen.

Dialog ermöglicht Perspektivwechsel, Verstehen und die Vermeidung ungewollter Eskalation. Im besten Fall ermöglicht er Vertrauen. Dialog ist keine technische Übung. Er verlangt Ernsthaftigkeit – auf allen Seiten – und die Bereitschaft, den eigenen Standpunkt nicht absolut zu setzen. Das fällt uns schwer angesichts vieler Konflikte und Kriege, angesichts von Menschenrechtsverletzungen und Repression.

Die angedrohte Schließung einer nicht nur angesehenen, sondern auch hoch verdienstvollen Organisation wie Memorial durch offene Kriminalisierung ihrer wertvollen Versöhnungsarbeit und Forschung – und das über Jahre - macht uns fassungslos. Sie kann nicht ohne scharfe Kritik bleiben.

Ich höre deshalb auch den Widerspruch, ich lese ihn jeden Tag: Dialog ist Belohnung für eklatantes Fehlverhalten, Dialog bedeutet Einknicken vor gewalttätigen Akteuren, vor einem Gegner, der sich nicht an Regeln hält. Bis hin zu: Dialog ist naiv.

Ich teile diese Auffassung nicht. Das ernsthafte Gespräch, auch über tiefgehende Interessenkonflikte, wird heute zu oft über die Medien geführt, mit Megaphon und Blick vor allem aufs eigene Publikum. Und zweitens braucht es auch Dialog, um im Konfliktfall in aller Ernsthaftigkeit tatsächliche rote Linien deutlich und damit glaubwürdig zu machen.

Ja, wir leben erneut in einer Zeit großer Verhärtung. Aber zugleich leben wir immer sichtbarer in einer Welt, in der kein einzelner Akteur, kein einziges Paradigma die Komplexität unserer Welt beherrschen oder dominieren kann. In dieser Welt ist Dialog keine Garantie – weder für Konsens, noch für Stabilität, noch für Frieden –, aber er ist die notwendige Voraussetzung dafür.

Deshalb fühle ich mich dem Grundgedanken des Bergedorfer Gesprächskreises sehr verbunden, dem ich heute Abend – wie der Körber-Stiftung – zu seinem Jubiläum und zu seiner Arbeit herzlich gratulieren darf: Miteinander sprechen ist besser, als nur übereinander zu sprechen. Das lehren uns sechzig Jahre Bergedorfer Gesprächskreis.

Deshalb unterstütze ich auch mit großer Überzeugung die Initiative, die mein Freund und finnischer Amtskollege, Präsident Niinistö, unter dem Leitgedanken Reviving the Helsinki Spirit angestoßen hat.

Es stimmt ja: Wir waren dem Ziel eines friedlichen Europas schon einmal näher als heute. Doch dieser Moment war nicht der Moment der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki vor bald fünfzig Jahren. Dass Helsinki sich als Meilenstein erweisen würde, als Beginn eines Prozesses, an dessen Ende mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ein friedlicheres und schließlich ein wieder vereintes Europa stehen würde, das wissen wir, weil wir heute fünf Jahrzehnte klüger sind.

Leider wissen wir auch, dass dieser ebenso mühsam wie glücklich errungene Zustand keine Ewigkeitsgarantie hat. Den Geist von Helsinki neu zu beleben für die Herausforderungen unserer Zeit, für die Deeskalation gewaltsamer Konflikte wie für die Bewältigung globaler Aufgaben durch kollektives Handeln, das ist eine ebenso anspruchsvolle wie notwendige Aufgabe für eine verantwortungsbewusste Außenpolitik. Ich würde mir wünschen, dass Finnland und Deutschland hierbei in den kommenden Jahren so eng wie möglich zusammenarbeiten.