Festakt "25 Jahre Bürgerstiftung Gütersloh"

Schwerpunktthema: Rede

Gütersloh, , 25. November 2021

Der Bundespräsident hat am 25. November beim Festakt "25 Jahre Bürgerstiftung Gütersloh" eine Rede in Gütersloh gehalten: "Ich weiß, dass Sie sich als ein Wir verstehen und der Verdienst nach Ihrem Verständnis auch ein gemeinsamer ist. Sie tun Ihrer Stadt und damit zugleich unserem Land gut. Unser Land und unsere Demokratie brauchen Ihr Engagement, brauchen Ihre Fürsorge. Denn Demokratie bedeutet immer auch, Verantwortung füreinander zu tragen. Verantwortung für das Gelingen des Miteinanders zu übernehmen."

Bundespräsident Steinmeier hält eine Rede beim Festakte "25 Jahre Bürgerstiftung Gütersloh"

Das sind doch die mit dem Adventskalender. Diesen Satz hört man wohl oft, wenn man Menschen in Gütersloh fragt, ob sie die Bürgerstiftung Gütersloh kennen. Ja, genau die sind es. Die Stiftung sammelt Spenden in der Region und befüllt damit die beliebten Adventskalender. Bei jedem Öffnen eines Kalendertürchens darf auf Konzertkarten, auf eine Kaffeemaschine oder anderes gehofft werden.

Lokalzeitungen veröffentlichen täglich die Losnummern und jeder Kalenderkauf kommt einem guten Zweck zugute. So macht der vorweihnachtliche Nervenkitzel täglich Freude und stiftet gleichzeitig Zusammengehörigkeit. Etwas Wasser muss ich aber in den Wein schütten: Diejenigen, die auf den Geschmack gekommen sind und den Kalender nach Ende der Veranstaltung gerne kaufen möchten, diejenigen muss ich leider enttäuschen: Wie ich höre, war der Kalender in Rekordzeit ausverkauft.

Diese Aktion der Bürgerstiftung Gütersloh ist nur eine von ganz vielen, die für ihr bürgerschaftliches Engagement in den letzten 25 Jahren steht. Ein Vierteljahrhundert gute Taten. Das wollen wir heute feiern: genauer gesagt, das Engagement von Frauen und Männern, die sich dem Leitgedanken von Menschen – für Menschen verschrieben haben.

Von Menschen – für Menschen, gegenseitige Hilfe, oder anders betrachtet: die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Mit dieser Grundfrage unseres Zusammenlebens konfrontiert uns die Corona-Pandemie auf eine Weise, wie sie wohl kaum einer von uns zu Lebzeiten erfahren hat. Die eigene Freiheit einzuschränken, um andere zu schützen. Sich selbst impfen zu lassen, um die eigene Gesundheit und die der anderen zu sichern. Diese ganz konkrete, ja existenzielle Verantwortung für andere – und die Frage, wie sie durchzusetzen ist – damit ringt unsere Gesellschaft seit nun fast zwei Jahren, ganz aktuell in der Frage des Impfens.

In dieser aufgewühlten Zeit ist die Bürgerstiftung Gütersloh wahrlich ein leuchtendes, ein besonders inspirierendes Vorbild. Im Kern stand und stehen Eigenverantwortung, Vernunft, Mitmenschlichkeit und Solidarität. Es gibt nichts, was der menschliche Wille nicht durch die freie Tätigkeit der vereinigten Macht Einzelner zu erreichen hoffte. Das schrieb Alexis de Tocqueville schon vor fast 200 Jahren in seiner Begeisterung über das bürgerschaftliche Engagement, das er damals in den Vereinigten Staaten beobachtete. In den freiwilligen Vereinigungen, in denen sich Einzelne aktiv an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligten, lag damals schon in seinen Augen ein Schlüssel für die demokratische Verfasstheit des Staates. In diesen ersten Zügen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation sah de Tocqueville ein immenses Potential, ein Potential, das heute fester Bestandteil des Fundaments unseres modernen demokratischen Staates geworden ist.

Auch die Idee zur Gründung der Bürgerstiftung Gütersloh kam eigentlich aus den USA: Reinhard Mohn hat die Community Foundations bei seinen Studienreisen auf der anderen Seite des Atlantiks kennengelernt. Die erste Bürgerstiftung war bereits 1914 in Cleveland entstanden. Global denken, lokal handeln – das war von Beginn an die Idee, die die Bürgerstiftung Gütersloh geprägt hat – auch wenn die Gründergeneration es damals wohl anders formuliert hätte.

Am 20. Dezember 1996 war es dann so weit: Die Bezirksregierung Detmold erteilte die Genehmigung zur Gründung der Stadt Stiftung Gütersloh, wie sie sich damals nannte. Damit wurde die erste Bürgerstiftung in Deutschland geboren. Und nicht weit entfernt entstand die nächste: die Bürgerstiftung in Hannover. Ich freue mich, dass Mark Wössner und Michael Jacobi, die damals die Stiftung in Gütersloh mitgegründet haben, heute hier sind und uns gleich davon erzählen werden.

Unser Land ist heute – 25 Jahre später – um 420 zertifizierte Bürgerstiftungen reicher. Ihr Stiftungskapital beträgt mehr als eine halbe Milliarde Euro. Reinhard Mohn und seine Mitbegründer haben sich seinerzeit wahrscheinlich kaum vorstellen können, welche bürgerschaftliche Bewegung sie mit ihrer Idee auslösen würden.

Bürgerstiftungen entfalteten sich in den folgenden Jahren unter den unterschiedlichsten Rahmenbedingungen: mal dank einer kleinen Gründungsgruppe mit einem vergleichsweisen großen Startkapital, mal dank vieler treibender Kräfte, die ihr Kapital erst nach und nach in kleinen Schritten einwerben mussten.

Die Bürgerstiftungen nutzen Synergien und verstehen sich als Netzwerk des Miteinanders. Sie beraten sich untereinander, sie teilen Ideen und führen gemeinsam Projekte durch. Ihre gemeinsamen Werte und Eigenschaften, wie Gemeinnützigkeit und Unabhängigkeit, sind in einem Kriterienkatalog zusammengefasst, der zehn Voraussetzungen für die Vergabe des Gütesiegels des Bundesverbandes aufzählt.

So unterschiedlich die Schwerpunkte und Projekte der zahlreichen Stiftungen sein mögen, ihr Motor sind immer Frauen und Männer, angetrieben von dem Wunsch, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Sie sind überzeugt davon, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen müssen, um das Gemeinsame zu stärken. Sie sind in ihrem sozialen Umfeld fest verankert und leben mit den Menschen, die sie ehrenamtlich unterstützen. Sie helfen genau da, wo der Schuh drückt. Sie stiften Geld, Zeit und Ideen.

Ich sehe heute Abend viele unter uns, die genau dieses Engagement und diese Solidarität im Herzen tragen. Sie, meine Damen und Herren, sorgen dafür, dass die Stadt, die Region und ihre Menschen diese Solidarität auch spüren. Sie halten untereinander und die städtische Gemeinschaft zusammen und stiften so Zusammenhalt. Dafür, und deshalb bin ich gerne gekommen; möchte ich Ihnen allen ganz herzlich danken!

Schnell auf Bedürfnisse, ja Notlagen reagieren, und sich mit langem Atem engagieren – das ist vermutlich die Kombination, aus der Bürgerstiftungen ihre Kraft schöpfen.

Dieses Zusammenspiel von Aktion auf der einen Seite und Ausdauer auf der anderen Seite haben Sie auch in der Pandemie beibehalten, schnell und kreativ wurden schon im Frühjahr 2020 Stoffe gespendet, Masken genäht, die schließlich den Pflegediensten zugutekamen. Die Hilfsbereitschaft in der Stadt war überwältigend. Sie haben auch kostenlose Balkonkonzerte für Seniorenheime organisiert. Senioren, die unter der Trennung von ihren Liebsten gelitten haben, konnten von ihren Balkonen aus Musik genießen und so ein wenig menschliche Wärme spüren.

Ihre Kreativität schafft nicht nur Abhilfe in der Not, sie steht auch für Zuversicht. Zuversicht, eine Haltung, die Sie auch in düsteren Pandemie-Zeiten ausgestrahlt haben und weiter ausstrahlen.

Der Geist des Stiftens will immer auch etwas Bleibendes schaffen. Diesen Anspruch hatte schon das erste Projekt der Bürgerstiftung Gütersloh: Aus dem nächtlichen Discobus für Jugendliche wurde eine feste Nachtbuslinie nach Bielefeld, die heute noch befahren wird. Auch das BürgerKolleg hat Weitsicht bewiesen: Unter dem Motto Wir machen Bürger stark für das Ehrenamt bietet die Stiftung Fortbildungen und Unterstützung für Menschen an, die sich ehrenamtlich in ihrer Stadt, in ihrer Gemeinde, in ihrer Region engagieren möchten. Seit 2014 unterstützt die Stiftung zudem den Gütersloher Bildungsfonds, um Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Gerade denen, die schwierige Startbedingungen haben. Dabei werden schnell und unbürokratisch Angebote wie zum Beispiel Sprachförderung, gesunde Mahlzeiten oder Lernunterstützung gefördert. Im letzten Jahr ist ein neues Projekt an den Start gegangen: Der Bürgerwald versteht sich als Beitrag zur Verbesserung des Klimas und der Umwelt. Es ist eine einfache, gut zu merkende, aber richtige Botschaft: Stiften ist nachhaltig.

Von Gütersloh ging ein Signal aus. Der Leitstern dieser Gründung hat viele inspiriert und anderen den Weg gewiesen. Sie haben vieles auf den Weg gebracht, was andere Stiftungen übernehmen, und Sie lernen heute auch von anderen Stiftungen. Wir haben heute allen Grund zu feiern. Wir feiern gemeinsam, und jede und jeden Einzelnen, der in den letzten 25 Jahren zum Erfolg der Stiftung beigetragen hat. Wir könnten hier sehr viele Namen aufrufen, aber ich weiß, dass Sie sich als ein Wir verstehen und der Verdienst nach Ihrem Verständnis auch ein gemeinsamer ist. Sie tun Ihrer Stadt und damit zugleich unserem Land gut. Unser Land und unsere Demokratie brauchen Ihr Engagement, brauchen Ihre Fürsorge. Denn Demokratie bedeutet immer auch, Verantwortung füreinander zu tragen. Verantwortung für das Gelingen des Miteinanders zu übernehmen. Und Sie, meine Damen und Herren, haben einen ganz erheblichen Anteil an diesem Gelingen!