Ordensverleihung zum Tag des Ehrenamtes: "Engagement in der Einwanderungsgesellschaft"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 3. Dezember 2021

Der Bundespräsident hat am 3. Dezember bei der Ordensverleihung zum Tag des Ehrenamtes unter dem Motto "Engagement in der Einwanderungsgesellschaft" eine Rede in Schloss Bellevue gehalten: "Ich habe an anderer Stelle gesagt: Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund. Aber seien wir ehrlich: Wir sind noch meilenweit davon entfernt, bis wir als Gesellschaft diese Einsicht samt ihrer Konsequenzen tatsächlich verinnerlicht haben. Sie alle wissen um die Aufgabe, die da noch vor uns liegt."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland zum Tag des Ehrenamtes unter dem Motto "Engagement in der Einwanderungsgesellschaft" in Schloss Bellevue.

Im Jahreskalender eines Bundespräsidenten gibt es sich wiederholende Termine, die aber nie zur Routine werden. Ich freue mich jedes Jahr aufs Neue auf diese Veranstaltung. Der Tag des Ehrenamtes gehört für mich zu den Anlässen, die mir besonders am Herzen liegen. Denn dieser Tag steht nicht für den Konflikt, für die Polarisierung, sondern dieser Tag steht für das Gemeinsame, für das Verbindende – und er rückt diejenigen ins Zentrum, die sich für das Gemeinsame stark machen. Die als freie, engagierte Bürgerinnen und Bürger Verantwortung gegenüber ihrer Gemeinschaft übernehmen. Diese Verantwortung tragen Sie täglich, ohne zu zögern.

Sie alle sind damit ein strahlendes Vorbild, ein Leuchtturm in einer Zeit, in der uns die Corona-Pandemie auf existenzielle Weise mit der Frage nach der Verantwortung des Individuums für das Gemeinwohl konfrontiert. Die Pandemie führt uns vor Augen, wie abhängig wir von anderen sind, aber auch, wie abhängig andere von uns sind. Den eigenen Freiraum einschränken, um andere zu schützen. Sich selbst impfen lassen, um die eigene Gesundheit und die der anderen zu sichern. Diesen Fragen, dieser Verantwortung muss sich in diesen Tagen jede und jeder einzeln stellen. Aber sie sind eben auch für Gesellschaft und Politik insgesamt, für den Zusammenhalt des Ganzen, zum Zerreißen aktuell.

Das Thema, dem Sie sich verschrieben haben, macht zwar nicht jeden Tag Schlagzeilen, bestimmt nicht jedes Gespräch, wie es die dramatische Corona-Lage im Augenblick tut. Aber es ist nicht minder wichtig. Auch Ihr Thema, Migration und Integration, ist für unsere Gesellschaft, um im Bild zu bleiben, zum Zerreißen aktuell. Wir wissen, wie notwendig es ist, dass Zugewanderte in diesem Land nicht nur leben und arbeiten, sondern Heimat finden, Heimat erfahren. Doch zugleich hadern Teile der Gesellschaft immer noch mit jeder Veränderung von Heimat, verschließen die Augen davor, dass wir vor sechzig Jahren begonnen haben Frauen und Männer aus dem Ausland aktiv als Arbeitskräfte anzuwerben. Warum? Weil wir sie dringend brauchten. Diese sogenannten Gastarbeiter, ihre Kinder, Enkel und Großenkel haben unser Land verändert, und ohne sie ist Deutschland schlicht nicht mehr vorstellbar.

Vor wenigen Tagen machte in den Sozialen Medien ein kurzes Video die Runde. Es ist kaum mehr als dreißig Sekunden lang. Aber wer es sieht, der spürt einen Schlag in die Magengrube. Das Video wurde von einem Vater aufgezeichnet, der mit seinem einjährigen Sohn in Berlin-Lichtenberg spazieren geht und aus dem Nichts von einer Frau angegriffen, beleidigt und bespuckt wird. Was wir da sehen, ist widerlich, menschenverachtend und rassistisch. Es macht mich fassungslos und wütend zugleich. Der Betroffene, Balogun Adegbayi, hat mittlerweile Anzeige erstattet und nun ermittelt der Staatsschutz. Das ist gut.

Aber um ehrlich zu sein: Das Gefühl in der Magengrube bleibt. Denn ich frage mich: Wie viele solcher Vorfälle bleiben unbekannt, weil niemand sie dokumentiert, oder – noch schlimmer – weil den Betroffenen kein Glauben geschenkt wird? Wie viele Kinder wachsen auf mit solchen Erfahrungen, wie dieser einjährige Junge aus Lichtenberg? Mit der Erfahrung von verbaler und physischer Gewalt, oder – noch viel häufiger – mit der Erfahrung vieler, kleiner Nadelstiche der Ablehnung und Ausgrenzung? Wie viele Kinder in unserem Land werden jeden Tag entmutigt?

Ich habe an anderer Stelle gesagt: Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund. Aber seien wir ehrlich: Wir sind noch meilenweit davon entfernt, bis wir als Gesellschaft diese Einsicht samt ihrer Konsequenzen tatsächlich verinnerlicht haben.

Sie alle wissen um die Aufgabe, die da noch vor uns liegt. Sie haben das Ziel vor Augen. Sie wissen, dass Teilhabe, Integration und ein friedliches Zusammenleben in Vielfalt gelingen kann, und Sie arbeiten dafür Tag für Tag, nach Feierabend, am Wochenende, teilweise rund um die Uhr. Als ich von Ihrem Engagement gelesen habe, habe ich mich gefragt, ob Ihre Tage mehr als 24 Stunden haben. Ihre Hilfe zieht sich durch alle Bereiche des täglichen Lebens: Sie begleiten Menschen bei Behördengängen; Sie übersetzen, Sie beraten und vernetzen Menschen miteinander; Sie bieten medizinische und psychologische Hilfe an; Sie unterstützen Eltern und Kinder in ihrem Schulumfeld; Sie fördern Studierende; Sie organisieren Freizeitangebote; Sie schützen Frauen vor Gewalt. Ich müsste die Aufzählung noch lange, lange weiterführen, um Ihrem Engagement in all seinen Facetten wirklich gerecht zu werden. Indem Sie anderen Menschen Ihre Leidenschaft und Ihre Zeit widmen, stärken Sie auf Dauer unsere deutsche Gesellschaft als Ganzes, in all ihren Facetten. Sie tun unserem Land gut! Dafür möchte ich Ihnen von ganzem Herzen danken.

Ihr unermüdlicher Einsatz steht für eine klare Haltung in einer sehr grundsätzlichen Frage, mit der unser Land immer wieder ringt. Es ist die Frage nach unserem Selbstverständnis als Nation. Es ist ein Ringen mit uns selbst, ein Ringen darum, wie wir uns als Land mit jahrzehntelanger Einwanderung eigentlich verstehen und wie wir verstanden werden wollen.

Eine deutsche Autorin mit türkischen Wurzeln hat mir vor Kurzem einen klugen Satz gesagt, an den ich oft denken muss. Sie sagte: Wir– damit sind die Gastarbeiter und ihre Nachfahren gemeint – wir sind doch keine Gäste in einem Haus, das wir selbst mit gebaut haben! Ja, genauso ist es. Gut ein Viertel unserer Gesellschaft sind Zugewanderte und ihre Nachfahren. Sie haben dieses Land mit aufgebaut, und sie prägen diese Gesellschaft jeden Tag aufs Neue. Aber der Platz in der Mitte, der doch selbstverständlich sein sollte, der bleibt ihnen viel zu oft verwehrt.

Sie wissen darum. Nicht wenige von Ihnen bringen eine eigene Flucht- oder Migrationsgeschichte mit. Doch durch Ihr Engagement kehren Sie die Dynamik der Ausgrenzung gewissermaßen ins Gegenteil: Als Ehrenamtliche, als engagierte Bürgerinnen und Bürger dieses Landes räumen Sie den Platz in der Mitte frei, der Zugewanderten und ihren Nachfahren zusteht. Sie machen ihnen Mut, diesen Platz einzunehmen und auszufüllen. Und indem Sie das tun, verändern sie unsere Einwanderungsgesellschaft quasi von innen, aus der Mitte heraus.

Ich glaube, dass Ihre starke Haltung auch in der Politik immer stärker verstanden und geteilt wird. Von den aktuellen Diskussionen, die den Amtsantritt der neuen Bundesregierung begleiten, geht jedenfalls ein positives Signal aus: Ja, wir sind ein Einwanderungsland, wir wollen und müssen es zukünftig erst recht sein, wenn wir eine gute, wirtschaftlich starke Zukunft wollen. Und das funktioniert nicht ohne eine geordnete und kluge Zuwanderungs- und Integrationspolitik.

Ihr Engagement dafür ist wegweisend. Ob im Karateverein, in der interreligiösen WG oder im Sprachcafé für Geflüchtete: Das Land mit Migrationshintergrund: Sie machen es zur Realität.

Aus all diesen Gründen ist der heutige Tag des Ehrenamtes ein wichtiger Tag und deshalb hoffe ich, dass viele Menschen – trotz Corona – heute von Ihnen und Ihrem Engagement erfahren.

Es ist mir eine wirklich große Freude, Sie mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszuzeichnen. Sie tun Gutes und Sie tun unserem Land gut.