Gedenkveranstaltung am 5. Jahrestag des Anschlags auf dem Breitscheidplatz

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 19. Dezember 2021

Der Bundespräsident hat am 19. Dezember bei einer Gedenkveranstaltung am fünften Jahrestag des Anschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz eine Rede in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gehalten: "Die Aufarbeitung der letzten fünf Jahre hat gezeigt, dass es Fehler gab. Der Staat – und als dessen Vertreter stehe ich hier vor Ihnen – muss Fehler korrigieren, wo sie vorgekommen sind, und er muss bei neuen Erkenntnissen zur Tat weiter ermitteln. Nur so kann das Vertrauen der Menschen in ihren Staat wieder wachsen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Gedenkrede in der Gedächtniskirche

Der Riss ist tief. Er schmerzt bis heute. Und er bleibt.

Und doch – auch wenn der Riss sich niemals schließen wird – so fällt, mehr und mehr, auch Licht hinein. Das Licht von Hoffnung, Mitmenschlichkeit und Zusammenhalt. Es leuchtet hinein in die Dunkelheit.

Vor fünf Jahren, am 19. Dezember 2016, geschah der schwerste islamistische Terroranschlag, den Deutschland erlebt hat. Er hat einen tiefen Riss hinterlassen, in Ihren Herzen, in unser aller Herzen. Mütter, Väter, Kinder, Partnerinnen und Partner, Freunde, geliebte Menschen wurden brutal ermordet, aus dem Leben gerissen. Fast einhundert Menschen wurden verletzt, viele von ihnen leiden bis heute an ihren äußeren und inneren Verletzungen.

Die Hinterbliebenen, Sie, meine Damen und Herren, waren von einer Sekunde auf die andere in Schmerz und in Trauer gestürzt. Der Verlust eines geliebten Menschen lässt uns verlassen, hilflos, ausgeliefert zurück. Nichts ist mehr, wie es war. Gemeinsame Pläne, gemeinsame Träume von Stund an zerstört. Auch nach fünf Jahren wird der Schmerz kaum erträglicher sein. Zu jedem Weihnachtsfest, an jedem 19. Dezember, ist alles wieder da, als sei es eben erst geschehen. Ich weiß, Worte können diese Wunde nicht heilen. Aber ich möchte Ihnen, den Angehörigen und Freunden der Opfer und den Verletzten aus tiefstem Herzen versichern: Sie sind mit Ihrer Trauer nicht allein.

Am 5. Oktober dieses Jahres ist Sascha Hüsges verstorben. Während das Unfassbare geschah und die Menschen auf dem Breitscheidplatz erfasste, eilte er als einer der Ersten den Verletzten zu Hilfe. Er wurde dabei selbst schwer verletzt. Heute, fünf Jahre danach, trauern wir auch um Sascha Hüsges, der seinen Verletzungen erlag. Wir werden seinen Mut, seine Hilfsbereitschaft und seine Selbstlosigkeit in Erinnerung behalten. Unsere Gedanken sind bei seinem Ehemann, seiner Familie und seinen Freunden.

Der Riss des 19. Dezember 2016 teilt Ihr Leben in ein Davor und ein Danach. Er teilt auch das Bewusstsein unserer Gesellschaft in ein Davor und ein Danach. Absperrungen und Betonpoller um die Weihnachtsmärkte und erhöhtes Polizeiaufgebot machen diese Zäsur auch im Stadtbild sichtbar.

Der fünfzehn Meter lange Riss, vor dem Eingang der Gedächtniskirche, erinnert an die Opfer des Terroranschlags, erinnert an diesen Einschnitt in Ihrem Leben. Er erzählt vom Einbruch der Gewalt in unsere Gesellschaft. Doch dieser Riss und die helle, glänzende Legierung, mit der er gefüllt ist: Sie zeugen auch von dem, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

Der brutale Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz galt unserer Art zu leben: in Frieden, Freiheit und Demokratie. Mir ist es wichtig, dass wir uns dieses gemeinsame freie Leben nicht nehmen lassen. Wie es die Pflicht des Staates ist, die offene und freiheitliche Gesellschaft entschlossen zu verteidigen, so wollen wir es als Verpflichtung verstehen, zusammenzuhalten, auch wenn uns der Schmerz und die Wut über eine mörderische Tat überwältigen.

Dass wir uns heute hier versammeln, lässt keinen Zweifel daran: Wir lassen uns nicht auseinanderbringen! Unsere Gemeinschaft ist stärker als die Angst. Diese Kraft, die wir als Gesellschaft gemeinsam aufbringen, gibt uns Halt und Hoffnung. Sie ist das Licht, das durch den Riss in die Dunkelheit fällt.

Ein Lichtblick ist auch Ihre interreligiöse Arbeit, lieber Pfarrer Germer. Sie setzen ein starkes Zeichen für Toleranz und Weltoffenheit, gegen Hass und gegen die Spaltung der Gesellschaft. So leben Sie gemeinsam mit ihrer Gemeinde vor, dass kein Glaube Gewalt rechtfertigen darf. Dafür möchte ich Ihnen danken.

Wir müssen uns eingestehen: Der Staat hat sein Versprechen auf Schutz, auf Sicherheit und Freiheit nicht einhalten können. Er steht in Ihrer Schuld: in der Schuld der Opfer, der Verletzten und Ihrer Angehörigen. Er steht in der Pflicht, die Fehler, Versäumnisse und Probleme auszuräumen, die dazu beigetragen haben, dass dieser Anschlag nicht verhindert werden konnte. Die Aufarbeitung der letzten fünf Jahre hat gezeigt, dass es Fehler gab. Der Staat – und als dessen Vertreter stehe ich hier vor Ihnen – muss Fehler korrigieren, wo sie vorgekommen sind, und er muss bei neuen Erkenntnissen zur Tat weiter ermitteln. Nur so kann das Vertrauen der Menschen in ihren Staat wieder wachsen.

Versäumnisse hat es damals auch in der Unterstützung der Hinterbliebenen und Verletzten gegeben. Das haben Sie bitterlich erfahren müssen. Diese Versäumnisse bleiben bitter, sie bleiben schmerzhaft. Doch seither hat sich etwas verändert, es hat spürbare Verbesserungen gegeben, und das ist vor allem Ihrem Appell und Ihrem Engagement zu verdanken, verehrte Hinterbliebene. Und dieser, Ihr Appell muss unser Ansporn bleiben! Auch wenn sich in der Opferbetreuung in Bund und Ländern schon vieles verbessert hat, wissen wir um die Aufgaben, die noch vor uns liegen, um für die Opfer eine unbürokratische und würdevolle Unterstützung zu gewährleisten.

Ich bin Ihnen von ganzem Herzen dankbar, dass Sie die Kraft aufbringen, an diesem 19. Dezember hierher nach Berlin, an den Ort des Anschlags zu kommen, um gemeinsam mit uns der Opfer zu gedenken. Und auch diejenigen unter Ihnen, die heute nicht hier sein können, bitte ich: Lassen Sie uns auch künftig gemeinsam gedenken und zusammenhalten. Wir können den Riss in Ihrem Leben nicht heilen, aber wir trauern, wir gedenken mit Ihnen. Wir teilen Ihren Schmerz.