Diskussionsveranstaltung mit Bürgerinnen und Bürgern zu Pro und Contra einer Impfpflicht zur Überwindung der Covid-19-Pandemie

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 12. Januar 2022

Bundespräsident Steinmeier hat am 12. Januar sieben Bürgerinnen und Bürger ins Schloss Bellevue eingeladen, um über das Pro und Contra einer Impfpflicht zur Überwindung der Covid-19-Pandemie zu diskutieren. Zum Auftakt sagte er: "Es gibt keine Demokratie ohne Debatte. Und es gibt auch in Krisenzeiten keine Demokratie ohne Debatte. Der Ausnahmezustand der Pandemie erhöht zwar den Druck auf staatliches Handeln, aber er ersetzt nicht die Notwendigkeit, Argumente zu wägen, Interessen auszugleichen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache vor einer Diskussionsrunde mit Bürgerinnen und Bürgern zu Pro und Contra einer Impfpflicht zur Überwindung der Covid-19-Pandemie im Großen Saal in Schloss Bellevue.

Guten Morgen und Ihnen allen ein herzliches Willkommen im Schloss Bellevue, liebe Gäste! Braucht Deutschland eine allgemeine Impfpflicht im Kampf gegen die Corona-Pandemie? Was spricht dafür, was spricht dagegen? Darüber wollen wir heute Vormittag miteinander diskutieren und, wenn nötig, auch respektvoll miteinander streiten.

Eines vorweg: Als Bundespräsident werde ich mich in dieser Runde nicht zum Ja oder Nein einer allgemeinen Impfpflicht positionieren. Das gebietet schon der Respekt vor dem politischen Prozess, der in den kommenden Wochen zur parlamentarischen Entscheidung über ein Gesetz führen soll, das dem Bundespräsidenten schließlich zur Prüfung vorliegen wird und über dessen Ausfertigung er zu entscheiden hat.

Warum also lade ich Sie heute zu dieser Diskussion? Der Bundespräsident schreibt keine Gesetze, aber er hat die Aufgabe, und ich persönlich glaube: auch die Pflicht, die öffentliche Auseinandersetzung mit schwierigen und schwerwiegenden Fragen einzufordern. Das ist die Betonung, um die es mir heute geht: Mir geht es um die Debatte in der Impfpflichtdebatte.

Es gibt keine Demokratie ohne Debatte. Und es gibt auch in Krisenzeiten keine Demokratie ohne Debatte. Der Ausnahmezustand der Pandemie erhöht zwar den Druck auf staatliches Handeln, aber er ersetzt nicht die Notwendigkeit, Argumente zu wägen, Interessen auszugleichen. Im Gegenteil: Gerade weil wir über eine solch einschneidende Maßnahme sprechen, müssen wir an ihre Begründung besonders hohe Ansprüche stellen. Und erst recht deshalb, weil eine Impfpflicht über lange Zeit in Bund und Ländern explizit ausgeschlossen wurde. Umso deutlicher müssen doch jetzt die Argumente für die Notwendigkeit einer Impfpflicht im öffentlichen Raum diskutiert werden. Parlamente, Parteien, Regierungen – sie alle sind dazu aufgefordert, ihre Argumente in den Raum zu stellen und gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern zu diskutieren, mit denen, die von einer solch weitreichenden Maßnahme tatsächlich betroffen sein werden.

Eine allgemeine Impfpflicht ist für Bundestag und Bundesregierung gewiss kein gesetzgeberischer Alltag. Genauso darf auch der Prozess der Debatte, der Abwägung und Begründung nicht alltäglich sein. Eine solch außerordentliche Maßnahme stellt unseren Staat auch in eine außerordentliche Pflicht vor seinen Bürgerinnen und Bürgern. Kurz gesagt: Impfpflicht bedeutet Debattenpflicht!

Genau deshalb sind wir heute hier: Wir suchen die Debatte. Zunächst: Was sagen uns die wissenschaftlichen Fakten, die neuesten, sich stetig wandelnden Erkenntnisse? Was bedeutet die Omikron-Variante, die zwar allem Anschein nach mildere Krankheitsverläufe bringt, sich aber – wir sehen es an den Zahlen von heute – deutlich aggressiver ausbreitet? Was bedeutet die Hoffnung auf ein wirksames Corona-Medikament? Und: Was sind die Motivlagen derer, die eine Impfung weiterhin ablehnen? Wie sollen wir umgehen mit ihren Ängsten und Sorgen?

Wenn wir diese Fragen gleich miteinander diskutieren, sozusagen beispielhaft für die vielen Diskussionen in unserem Land, dann hoffe ich: Wir tun es mit Verve, aber auch mit der Bereitschaft zuzuhören. Mit Respekt vor anderen Haltungen, aber auch mit Respekt vor Fakten und Vernunft, die unsere gemeinsame Währung sein und bleiben müssen.

Warum ist das für unsere Demokratie so entscheidend?

Es gibt Menschen, die sagen: Wir haben in Deutschland eine Corona-Diktatur. Das ist bösartiger Unfug! Denn darin steckt nicht nur Verachtung für unsere demokratischen, rechtsstaatlichen Institutionen. Sondern darin steckt auch eine Beleidigung von uns allen! Wir kämpfen uns Monat für Monat durch diese Pandemie, aber eben nicht, weil wir mit eiserner Hand gelenkt und gesteuert werden, sondern weil die große Mehrheit immer wieder darum ringt, das Richtige zu tun, verantwortlich zu handeln, solidarisch zu sein. Weil Menschen überall – in den Familien und im Freundeskreis, am Arbeitsplatz und in den Schulen und Kitas, in den Kliniken und Pflegeheimen, in den Rathäusern, Gesundheitsämtern und Parlamenten –, weil Menschen überall dort miteinander darum ringen, was zu tun ist. Und genau darum, um dieses demokratische Ringen geht es auch hier in unserer Debatte.

Die Pandemie ist nicht vorbei, vielleicht noch lange nicht. Aber es wird der Tag kommen, an dem sie hinter uns liegt. Und an diesem Tag werden wir zurückschauen und fragen: Was hat die Pandemie mit unserer Gesellschaft gemacht? Hat sie uns auseinandergetrieben? Hat sie die Gräben weiter vertieft, die vorher schon angelegt waren? Oder sind wir enger zusammengerückt, weil wir im Rückblick sagen können, wir haben diese dunkle Zeit – trotz allem Streit, trotz allem Schmerz – miteinander überwunden?

Ich bin überzeugt: Die Antwort auf diese Frage entscheidet sich auch an der Debatte, die wir heute und in diesen Tagen führen. Nicht nur am Ja oder am Nein zu einer Impfpflicht, sondern an der Überzeugungskraft von guten Gründen, an der Art und Weise, wie wir in unserem Land miteinander sprechen und miteinander umgehen. Umso dankbarer bin ich Ihnen allen, dass Sie heute mitdiskutieren, und ich persönlich bin sehr gespannt auf die nächsten anderthalb bis zwei Stunden.