Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Sir Simon Rattle

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 8. Februar 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 8. Februar bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Sir Simon Rattle in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Es freut mich, mit Ihnen nicht nur einen hochverdienten Künstler auszuzeichnen, sondern auch einen so überaus sympathischen Repräsentanten des Musiklebens. Sie sind in Person leibhaftige Werbung für die Musik."


Es ist mir eine Freude und eine Ehre, Sie, lieber Sir Simon Rattle, heute mit diesem hohen Orden unseres Landes auszeichnen zu dürfen. Es freut mich auch, mit Ihnen nicht nur einen hochverdienten Künstler auszuzeichnen, sondern auch einen so überaus sympathischen Repräsentanten des Musiklebens. Sie sind in Person leibhaftige Werbung für die Musik, die Sie mit Ihren Orchestern lebendig werden lassen. Das allein ist schon aller Ehren wert.

In Berlin sind Sie jedenfalls nicht nur ein allseits bekannter Mitbürger, sondern auch einer, der auf der Straße herzlich gegrüßt wird, dem man zuwinkt und dem auch mal ein Taxifahrer zuruft: Simon, ich find dich toll! Auch Menschen, die vielleicht nicht den Weg in die Philharmonie finden, aber vielleicht einmal in der Waldbühne dabei waren oder ein Konzert mit Ihnen im Fernsehen gesehen haben, haben Sie ins Herz geschlossen.

Sie sind auf besondere Weise unser Simon geworden – und das hat sich auch auf das Orchester übertragen, die Berliner Philharmoniker, die Sie sechzehn Jahre lang geleitet haben. Das Orchester gehörte natürlich immer zu Berlin – aber in Ihrer Zeit als Chefdirigent hat es sich noch einmal ganz neu dem Publikum geöffnet.

Die Digital Concert Hall gehört dazu, die vielen Veranstaltungen für Familien und Kinder oder das Education-Programm. Die musikalische Erziehung soll fordernd sein, zu Genauigkeit und Disziplin führen, aber vor allem soll sie die tiefe Freude vermitteln, die aktive und passive Beschäftigung mit Musik bringen kann. Wer jemals den wunderbaren Film Rhythm Is It! gesehen hat, hat das begriffen – und wahrscheinlich auch nicht mehr vergessen. Der uneingeschränkte Spaß an der Sache – auch dafür stehen Sie, Sir Simon, in Person.

Sie haben auch viele Ihrer Musikerinnen und Musiker dazu angestiftet, auch selber solche im guten Sinne erzieherischen Initiativen zu ergreifen. Vielleicht haben manche erst durch Ihre Ermunterung entdeckt, dass auch sie die Fähigkeit haben, andere tief zu begeistern und so Sympathie- und damit Werbeträger für die klassische Musik zu sein.

Die Musik soll ernst genommen werden, das auf jeden Fall. Aber es soll nicht steif zugehen, nicht bierernst, wie die Deutschen manchmal sagen. Die Philharmonie soll ein offenes, einladendes, in jeder Hinsicht barrierefreies Haus für alle sein, die ein Herz für Musik haben oder dabei sind, es zu entdecken. Die unermüdliche Sympathiewerbung hat dazu geführt, dass die Philharmoniker mehr denn je nicht nur hochgeschätzt und geehrt, sondern, so darf ich sagen, auch geliebt werden.

Sarah Willis, seit zwanzig Jahren Hornistin bei den Philharmonikern, sagt gelegentlich: Wir sind keine Roboter. Wir spielen, was wir sind, und wir pusten unsere Seele da in das Horn rein. Und so streichen auch die Geiger ihre Seelen in die Saiten – und die Celli und die Bässe –, und die Schlagzeuger schlagen und trommeln ihre Seelen in den Saal, und so auch alle anderen.

Nein, da ist niemand ein Roboter, der das Antrainierte leidenschaftslos zum Vortrag bringt. Sie alle spielen, was sie sind. Und Sie, Simon Rattle, als der meistens sichtbarste Teil des Orchesters, legen Ihre Seele in die Leitung des Ganzen. Das spürt man, und das sieht man, und das bewegt die Zuhörer im Inneren. Beseligt – das ist auch eines von den alten, schönen, kostbaren deutschen Wörtern. In den besten Momenten vermitteln Sie, vermitteln Ihre Musikerinnen und Musiker diese Stimmung, die von der Musik zum Leben erweckt werden kann. Und die Zuhörer werden, ja: beseligt und fühlen sich mit einem großen Glück beschenkt.

Nun haben Sie Ihre Programme nicht einfach nach dem Motto Give The People What They Want zusammengestellt. Natürlich haben Sie die großen Schöpfungen der Klassik geboten, neu durchdacht und für heute interpretiert. Sie haben aber auch neue Musik vorgestellt und auch nicht wenige Auftragswerke, eigens für Ihre Programme komponiert.

Und wie ein guter Küchenchef, der Gäste nicht gleich mit einem ganzen unbekannten Menu konfrontieren darf, haben Sie oft musikalische Vorspeisen geboten und sie Tapas genannt – kleine, Appetit machende Kostproben aus einem für viele Hörer noch unbekannten Reich des Geschmacks. Und siehe da: Viele sind auf den Geschmack gekommen und wollten mehr von diesem Neuen, Unbekannten und sind Ihnen auf Ihren Expeditionen gerne gefolgt.

Hinter all dem, was im Moment des Konzertes so leicht erscheint, steckt natürlich, neben einem großen, geschenkten Talent, viel Arbeit, viel Disziplin, viel Überlegung, mit einem Wort: Training. Sie haben viel trainiert – und Ihre Musiker sind Ihnen gerne gefolgt. Auch deswegen, weil Sie von Anfang an nicht als der große Allesbestimmer aufgetreten sind, als der klassische Pultdiktator, sondern sich immer als Teamspieler, wenn auch mit besonderer Rolle, gesehen haben.

Sie haben, das hört man immer wieder, einen – wie man neuerdings ja sagt – inklusiven Führungsstil, der alle mit- und vor allem jeden Einzelnen ernst nimmt. Und das betrifft nicht nur die Musikerinnen und Musiker – Sie kannten in dem großen philharmonischen Betrieb jeden mit Namen: jeden Pförtner, jeden Fahrer, jede Mitarbeiterin. Autorität aus fachlicher Größe und aus menschlicher Zugewandtheit: das könnten auch andere anderswo von Ihnen lernen.

Einer, auf den das sicher auch zutrifft, ist den umgekehrten Weg gegangen und gerade deshalb mit Ihnen verbunden. Niemandem hier verrate ich ein Geheimnis, wenn ich herausstelle, dass Sie als gebürtiger Liverpooler ein großer Fußballfan sind – und dass Sie bereitwillig und kenntnisreich Auskunft geben, wenn man Sie beim Wein, zwischen zwei Tapas sozusagen, nach den neuesten Entwicklungen beim FC Liverpool fragt.

Dass dieser große englische Traditionsverein nun seit Jahren von einem deutschen Trainer, Jürgen Klopp, erfolgreich trainiert wird, ist für die Beziehungen unserer beiden Länder sicher genauso schön, wie es schön und richtig war, dass Sie als Engländer unseren großen musikalischen Traditionsverein – so to say – so lange und so erfolgreich trainiert und zu unvergesslichen Spielen geführt haben.

Inzwischen haben Sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, und Sie leben weiter hier in Berlin. Aber ich kann nicht schließen, ohne noch einmal auf Ihre Herkunft aus Liverpool einzugehen. Wer Liverpool und Musik hört, denkt natürlich an vier andere große Musiker aus dieser offenbar musikalisch fruchtbaren Stadt. Auch die Beatles sind in Deutschland, in Hamburg in diesem Fall, zu den Weltstars gereift, die sie dann wurden. Und sie waren, wie Sie, immer daran interessiert, neue Ideen in ihre Musik zu übernehmen, nie stehen zu bleiben bei dem, was sie einmal erreicht hatten.

Eines ihrer Lieder – und eine schöne Geschichte dazu – betrifft Sie, lieber Simon Rattle, besonders, wie ich finde. Es geht da um eine Straße Ihrer Geburtsstadt, Penny Lane, und um einen in der ganzen Welt lange vollkommen unbekannten Kreisverkehr mit einem Friseur, einem Feuerwehrmann und einer hübschen Krankenschwester: so gar nichts Besonderes. Aber dieses kleine Lied, das ein großes Kunstwerk ist, lässt all das für einen Moment und dann für immer unvergesslich in our ears and in our eyes sein – und wir befinden uns immer wieder there beneath the blue suburban skies.

Und dass man in Penny Lane die so markante Piccolotrompete hört, könnte fast das Ergebnis eines Education-Programms sein. Denn während die Beatles gerade mit den Aufnahmen zu dem Stück beschäftigt waren, sah Paul McCartney am 11. Januar 1967 abends in der BBC eine Konzertübertragung. Er sah und hörte Johann Sebastian Bachs Zweites Brandenburgisches Konzert. Und er war so fasziniert von diesen extrem hohen Tönen, dass er umgehend genau jenen Trompeter, David Mason, einladen ließ, den er mit dem English Chamber Orchestra dort gesehen hatte. Nur sechs Tage später war die nun weltbekannte Trompetenpassage für Penny Lane in den Abbey-Road-Studios eingespielt.

So kann es gehen, wenn faszinierende klassische Musik auf empfangsbereite Ohren stößt. Und andersherum: Nicht wenige denken vielleicht, wenn sie zum ersten Mal das Zweite Brandenburgische Konzert hören: Das klingt ja wie die Trompete in „Penny Lane“!

Man weiß nie, welche Wirkung das hat, was man tut. Aber man kann immer sein Bestes geben, damit Musik von Herz zu Herzen geht. Sie haben das immer getan, Sir Simon, und Sie werden das weiterhin tun. Und deswegen gilt für Ihre Arbeit und für Ihre Konzerte, was Ihre vier Kollegen aus Liverpool einst als Motto über Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band setzten: A splendid time is guaranteed for all.

Vielen Dank! Thank you very much!